
Diese zehn Geschichten
habe ich gemeinsam mit Tina gelesen und mich mit ihr rege ausgetauscht. Wir
hatten fast zu jeder Erzählung dieselben Gedanken und Eindrücke, lediglich mit
der siebenten Geschichte war ich schier überfordert, da ich über keinerlei
Hintergrund zu Star Wars verfüge. Ich mag keine Science-fiction,
weshalb ich mich für diese Filme nie begeistern konnte.
Die Fliege hat uns beiden nicht gefallen, auch
wenn sie uns vom Verständnis her zugänglich war. Uns war durchaus bewusst, dass
die Fliege eine Metapher darstellen sollte. Sie hat uns aber trotzdem nicht
überzeugen können. Zu flach, zu oberflächlich …
Unsere Buchbesprechung
beschränken wir auf jeweils zwei Geschichten, die Tina und ich gemeinsam
abgesprochen haben. Sie schreibt über Die Wanderung und über Das Franchine.
Mich haben die beiden
Erzählungen Richard und
Die Nacht der Bücher richtig beeindruckt, über die ich schreiben werde.
Hier geht es zum
Klappentext, Autorenporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den
Buchdaten.
Die Handlung
Richard
Mich hat diese
Geschichte sehr betroffen gestimmt. Es geht um eine ältere Dame, die im Park
auf einer Bank sitzt und sich mit einem Herrn unterhält, obwohl dieser Mann mit
seinem Handy beschäftigt ist. Sie erzählt ihm, dass sie gerne am Markt
Hähnchenbrust beim Händler kauft, weil Richard sie so gerne mögen würde.
Sie berichtet
detailfreudig dem fremden Mann, wie Richard auf das Fleisch reagiert, wenn sie
nach Hause kommt, und dass sie erst seine, dann ihre Bedürfnisse befriedigen
würde. Bei ihrem Gatten, als er noch gelebt hatte, war sie immer die Erste …
Der fremde Mann, als
er seine letzte Nachricht in sein Handy getippt hat, steht auf, wünschte ihr
einen schönen Tag und ging fort.
Die alte Dame
betrachtet in der Ferne ein junges Paar und denkt dabei an ihren eigenen Mann.
Das Leben mit ihm spulte sie jeden Tag in ihrem Hirn wie ein Kopfkino ab.
Wenn ihre Erinnerung ein Kino war, dann waren die Jahre mit ihm ein Klassiker, der noch immer jeden Abend lief. Vielleicht war er nicht mehr ganz so spannend, weil sie jeden Satz aus der Handlung mitsprechen konnte, und vielleicht war auch das Bild inzwischen etwas unscharf geworden und die Tonspur verwaschen, aber das machte nichts. Der Film endete, kurz bevor seine Krankheit begann. (2018, 92)
Plötzlich kamen zwei
sprechende Mädchen an die Bank und setzten sich zu der alten Dame. Die Dame
lauschte etwas an dem Gespräch der beiden Mädchen. Als sie ihre Bluse
glattstrich, holte sie ein Foto ihres Richards heraus, der zu dieser Zeit noch
ein Welpe war. Sie zeigte die Fotografie den Mädchen und erklärte ihnen,
weshalb sie dem Kater den Namen Richard gegeben habe … Die alte Dame erzählt
und erzählt und bemerkt gar nicht, dass die Mädchen sich bedrängt fühlten …
Das eine Mädchen stieß das andere an.>>Ja, also, wir müssen dann mal …<<, sagte es schnell. Sie verabschiedeten sich, und kaum, dass sie einige Schritte entfernt waren, prusteten beide los.<< (97)
Damit endet die
Erzählung noch nicht, so lasse ich den Ausgang offen.
Als ich die Geschichte
anfangs zu lesen begonnen hatte, dachte ich, dass Richard ihr Mann sei. Aber es
klärte sich schnell auf, dass mit Richard ihr Kater gemeint war.
Ich fand diese
Erzählung dermaßen authentisch, dass sie mich lange noch beschäftigt hat. Jede
Figur wirkte real. Der Mann mit dem Handy, die beiden Mädchen, sie alle waren
mit ihrem Leben beschäftigt, und hatten keinen Platz, das Leben der alten und
sehr vereinsamten Dame für eine Weile in sich einzulassen ...
Die Nacht der Bücher
Eine Weihnachtsgeschichte
Das war für mich von
allen die allerschönste Geschichte. Hier wird Bezug genommen zu Wells
Roman Vom Ende der Einsamkeit, die Figur daraus namens Jules, der dieses Märchen verfasst hat … Weitere Details sind dem Buch zu entnehmen.
Der 58-jährige Mister
Stanley hatte in einer staatlichen Bibliothek am Heiligabend Nachtwache, obwohl
er kein Mensch war, der gerne Bücher liest. Die Bibliothek, eine ziemlich alte,
die auf mich einen nostalgischen Eindruck hinterlassen hat, befand sich in
Marylborne, ein Vorort von London. Als Mr. Stanley seinen Rundgang macht, und
durch die Gänge und Flure zieht, hört er Geräusche, die er nicht einzuordnen
wusste. Nach dem Störenfried Ausschau haltend staunte er über die Vielzahl an Büchern,
die nicht zu zählen waren.
Die gesamte Bibliothek war nichts als ein gigantischer Bahnhof voller Figuren und Geschichten. (…) Schon eigenartig. Immer an Weihnachten war ihm, als würde es in der Bibliothek spuken, als hörte er seltsame Geräusche, die sofort verschwanden, wenn er die Tür aufmachte. (105)
Er blickte auf die
vollgestopften Regale, wo er glaubte, müssten die Geräusche zu lokalisieren
sein. Es war aber ganz ruhig. Und so ging Stanley wieder zurück in sein
Dienstzimmer.
Lange Zeit blieb es in der großen Halle still. Die Bücher wollten auf Nummer sichergehen. Dieser alte Mister Stanley war ein misstrauischer alter Knochen, da musste man auf der Hut sein. Dann aber konnte man ein leises Rascheln hören. Ganz vorsichtig hatte sich Jules Verne umgedreht. Es war in 80 Tagen um die Welt. (ebd)
Die vielen bekannten
Autor*innen kamen ins Gespräch, viele alte und neue Klassiker, und so entstand
langsam Leben in den Regalen. Werke von Tolstoi, von Flaubert, Shakespeare,
sogar die Buddenbrooks von Thomas Mann regten sich. Sie alle wunderten sich
über Mr. Stanley. Carson McCullers hatte Mitleid mit dem Nachtwächter,
Dostojewski hielt ihn für einen traurigen Narren, da er jedes Jahr zu Weihnachten
Dienst habe, und fragt sich, wieso er das macht? Doch auch unter den Büchern
fanden erst mal keine hochtrabenden Gespräche statt, sie führten Small Talk,
bis sie sich einigen konnten, eine Weihnachtsgeschichte vorgelesen zu bekommen.
Der Name Dickens fiel, doch Dickens konnte sich nicht rühren, da er, wie jedes
Jahr zu Weihnachten auch, ausgeliehen wurde.
>>So ein Pech, das ist jetzt schon das dritte Jahr hintereinander!<<Ein hundertfaches Aufstöhnen ging durch die Halle, denn nichts hätte in dieser Nacht die Bücher mehr gefreut, als wenn ihnen Dickens endlich wieder die Geschichte des alten Ebenezer Scrooge erzählt hätte. (108)
Ein Hin und Her an
Stimmen, die aus den Buchseiten fielen, machten sich breit. Es rührte sich
Marcel Proust, der sich über den Lärm beschwerte, und er aus den Träumen
gerissen wurde und machte sich bei den anderen unbeliebt. >>Halt
die Schnauze, Marcel, auf dir liegt eh schon Staub!<< Ruft
Hemingway ihm lakonisch zu …
.
Hier mache ich
Schluss, um nicht alles zu verraten. Aber ich könnte die ganzen Dialoge
zitieren, die so perfekt und so natürlich konstruiert sind. Die ganze
Geschichte war total authentisch. Man spürte, dass die Bücher und deren Autor*innen mit demselben Geist beseelt waren, wie man sie aus den Büchern heraus kannte. Besser hätte es ein Walter Moers
auch nicht ausdrücken können. Jede Menge bekannte Autor*innen sind hier
vertreten, auch Harry Potter, auf den neidvoll geblickt wurde, da er verglichen
mit Shakespeare ein Jüngling sei und weltweiten Ruhm genoss, während
Shakespeare über eine Schullektüre nicht hinauskommen würde …
Unbedingt selber
lesen.
Das Cover gefällt mir
sehr, sehr gut, weil es wie ein Kunstgemälde ausschaut. Und es lässt jede Menge
Spielraum zu für eigene Interpretationen. Den Buchtitel finde ich auch
gelungen, hilft, die Geschichten besser einzuordnen.
Meine Meinung
Benedict Wells kann
wirklich supergut schreiben. Lange habe ich mich mit Tina ausgetauscht, und wir
finden beide, dass er aber sein Potenzial in Romane stecken sollte.
Die Geschichte mit den
sprechenden Büchern fand ich noch besser als die von Walter Moers. Richtig
genial. Schade, dass sie so schnell geendet hat.
Die Richard-Geschichte
war mir wichtig, sie hier auf meinem Blog vorzustellen, um die Leser*innen mit dieser Thematik ein wenig zu sensibilisieren. Bei 200 bis 300 Besucher*innen pro Tag möchte ich
mithelfen, sie ein wenig zu verbreiten.
Mein Fazit
Mit den zehn
Kurzgeschichten der letzten zehn Jahre bedient sich Wells verschiedener Genres. Das macht sie so
spannend. Klare Leseempfehlung.
Meine Bewertung
2
Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte:
Differenzierte Charaktere
2 Punkte:
Authentizität der Geschichte
2 Punkte:
Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte:
Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2
Punkte: Cover, Titel und Klappentext stimmen mit dem Inhalt überein
12 von 12 Punkten
Hier geht es zu Tinas Buchbesprechung.
Ein herzliches Dankeschön an den Diogenes Verlag
für das Bereitstellen des Leseexemplars.
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Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)
Gelesene Bücher 2018: 58
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86