Dass Virginia Woolf so sehr die Bücher von Marcel Proust gelobt hatte, kann ich mittlerweile sehr gut nachvollziehen. Denn auch die Autorin schreibt sehr
reflektiert. Sie nimmt eine ganze Gesellschaft ihres Kreises unter die Lupe und
seziert sie, bildlich gesprochen … Proust ist nicht anders. Allerdings beschränke ich mich hier nur auf ein paar wenige Figuren.
In der Geschichte ist es nicht nur die vornehme und wohlhabende
Mrs. Dalloway, die sich viele Gedanken über ihr Leben macht. Vor allem über ihr
vergangenes Leben nehme ich ihre Gedanken wie eine Zeitreise in die Vergangenheit wahr. Zur Erinnerung gebe ich
noch einmal den Klappentext rein.
Im Juni des
Jahres 1923 bereitet Clarissa Dalloway, die Ehefrau eines britischen
Parlamentsabgeordneten, eine große Abendgesellschaft in ihrem Haus in London
vor. Der unerwartete Besuch von Peter Walsh, den sie seit der Ablehnung seines
Heiratsantrags vor mehr als 30 Jahren nicht mehr sah, bringt Mrs. Dalloway zum
Nachdenken: Hat sie damals die richtige Wahl getroffen?
Es ist auch Peter Walsh, der sich seit dem Besuch bei
Clarissa Dalloway viele Gedanken über die Beziehung seiner damaligen
Angebetenen und deren Ehegatten Richard macht. Beide schneiden in der Reflexion
nicht besonders gut ab. Walsh bezeichnet Clarissa als ziemlich vornehm und
arrogant, als kalt, herzlos und prüde. Mrs. Dalloway dagegen bezeichnet Walsh als selbstlos
und dem Gerede anderer Leute nach zu urteilen sei auch er herz- und kopflos und
nur mit den Manieren eines Gentlemans
ausgestattet. (14f)
Befinden sich beide in der Midlife-Crisis? Beide sind Anfang
bis Mitte fünfzig und kennen sich seit der Jugend. Auch wenn zwischen ihnen eine große zeitliche Leere besteht, als Walsh für mehrere Jahre in Indien zubrachte, und beide sich zu dieser Zeit nicht mehr gesehen und den Kontakt zueinander verloren hatten.
Die Menschen werden hier von der schlechtesten Seite beleuchtet. Walsh kann nicht wirklich wahrhaben,
weshalb Clarissa sich für Richard entschieden und ihn geheiratet hatte. Richard, der nichts als ein Langweiler sei, ein
Konservativer, der partout nicht zu Clarissa passen würde.
Clarissa Dalloway macht mich glauben, dass sie mit ihrem
gegenwärtigen Leben unzufrieden ist, und bedauert ihr Leben, trauert dem
gestrigen Leben nach. Hätte sie in ihrer Jugendzeit anders gehandelt, z.B. sich für Peter Walsh entschieden statt für Richard, so glaubt
sie, hätte sich ihr Leben vollkommen anders entwickelt. Aber woher weiß sie, dass
ihr Leben anders gelebt besser geworden wäre als das gegenwärtig der Fall ist? Man kann diesen
Fragen nicht wirklich gerecht werden …
Als Walsh Clarissa zu Hause antrifft, fand er sie in
ihrer Aktivität, ein Kleid nähend, viel zu gewöhnlich. Er sei in Indien
gewesen, habe dort viel erlebt … Das Nähen, eine viel zu primitive
Beschäftigung in Walshs Augen, die eigentlich nicht zu Clarissa passen würde ...
Clarissa und Richard haben eine Tochter, Elizabeth, die mittlerweile auch schon achtzehn Jahre alt ist. Walsh hat keine Kinder, und in seinen Gedankenkonstrukten diffamiert er ein wenig das junge Mädchen, ohne es wirklich zu kennen, sodass ich mir die Frage stelle, ob er nicht eifersüchtig ist, weil er kinderlos geblieben ist? Auch die Ehe sei für manche Frauen nichts anderes als ein
primitiver Akt und eigentlich ist Walsh, aus meiner Sicht, nichts anderes als auch auf Richard eifersüchtig. Walsh hofft natürlich, dass Clarissa mittlerweile die
Ehe mit Richard zutiefst bereut hat.
Es sind Sprünge, jede Menge Gedankensprünge … Mal bedauert Clarissa es, Walsh nicht geheiratet zu haben und dann wieder
nicht. Abwertungen und Idealisierung der Personen wechseln sich ab:
Wirklich, dachte
Clarissa, er ist bezaubernd! Absolut bezaubernd! Jetzt erinnere ich mich, wie
unmöglich es war mich zu entschließen - und warum habe ich mich entschlossen;
ihn nicht zu heiraten?, fragte sie sich … (60)
Peter Walsh blieb nicht allein, auch er heiratete eine Frau
auf dem Schiff, als er auf dem Weg nach Indien war. Glücklich war auch er nicht
mit seiner Partnerwahl. Nun, in den Fünfzigern, ist er erneut verliebt in eine
Frau, eine sehr junge Frau, die mit einem Major schon vermählt ist. Als Clarissa von dieser Verliebtheit erfährt, ist sie wieder froh darüber, Peter doch nicht geheiratet zu haben.
Ein Auf und Ab der Gefühle? Gibt es die überhaupt in Walshs und Clarissas Leben? Sie scheinen geistig beide aus dem selben Stoff gemacht zu sein. Ich vermisse ein wenig die Empathie ...
Mir stellt sich zusätzlich die Frage,
ob man die Lebenszeit nicht anders nutzen kann? Das eigene Leben bejahen, so
wie es ist, und nicht, wie es vielleicht hätte sein können und das Leben, was einem noch
bevorsteht, sinnvoll nutzen… Man wird sonst sich selbst und den anderen Menschen nicht wirklich gerecht.
Und nun aus der Sicht Dritter:
Miss Kilmann ist Geschichtslehrerin und ein Mensch, der religiös ist und von der
Politik etwas versteht. Mrs. Dalloway sieht den Kontakt dieser Frau mit der
Tochter nicht gerne, da Miss Kilmann die Tochter auch religiös beeinflussen würde. Doch Clarissa kann den Kontakt zu Elizabeth nicht verhindern, da ihr Mann Richard sie eingestellt
hatte, um der Tochter Geschichtsunterricht zu erteilen. Dazu die Erfahrung Miss
Kilmanns mit Clarissa Dalloway:
Mr. Dalloway, um ihm
gerecht zu werden, war freundlich gewesen, Mrs. Dalloway jedoch nicht. Sie war
einfach nur herablassend. Sie kam aus der wertlosesten aller Klassen - den
Reichen, mit einem Halbwissen von Kultur. Sie hatten überall teure Dinge:
Bilder, Teppiche, jede Menge Dienstboten. Sie war der Ansicht, dass sie ein
vollkommenes Recht auf alles hatte, was die Dalloways für sie taten. (164)
Miss Kilmann kommt aus einem einfacheren Haus.Ihre Familie
ist nicht reich, die Mutter arbeitet in einer Fabrik, um zu überleben. Was wissen diese versnobten Reichen schon von dem Leben ärmerer Menschen?
Miss Kilmann bedauerte
und verachtete Clarissa aus tiefsten Herzen, als sie auf dem Weichensteppich
stand und den alten Stich eines kleinen Mädchens mit einen Muff betrachtete.
Bei all dem herrschenden Luxus, was für eine Hoffnung gab es da auf einem
besseren Zustand? Anstatt auf dem Sofa zu liegen ->>meine Mutter ruht
sich aus<<, hatte Elizabeth gesagt- sollte sie in einer Fabrik arbeiten,
hinter einer Ladentheke stehen: Mrs. Dalloway und alle anderen feinen Damen!
(165)
Miss Kilmann verachtete zwar Clarissa Dalloway, aber sie ist nicht von Hass erfüllt. Ihre Gedanken zu Clarissa sind für mich sehr wohl nachvollziehbar:
Aber Miss Kilmann
hasste Mrs. Dalloway nicht. Sie richtete ihre großen stachelbeerfarbenen
Augen auf Clarissa, und während sie ihr schmales rosiges Gesicht, ihren zarten
Körper, ihren Ausdruck von Frische und Eleganz beobachtete, fühlte Miss Kilmann,
Närrin! Einfaltspinsel! Du kennst weder Sorgen noch Freude; du hast dein Leben vertrödelt!
(166)
Aus meiner Sicht, wie oben schon erwähnt, sehe ich die Charakterisierung ähnlich wie Miss Kilmann ...
Ich mache nun hier Schluss, möchte nur noch mal an Marcel
Prousts Mamutthema „Auf der Suche nach
der verlorenen Zeit“ anknüpfen. Prousts Figuren, die auch alle aus höheren Klassen stammen, finden mit den Figuren dieses Buchs Ähnlichkeiten, was deren Lebensweise betreffen; Menschen, die ihr Leben nicht wirklich nutzen und
die Lebenszeit mit vielen oberflächlichen Themen vertun, müssen eines Tages glauben, die verlorene Zeit suchen zu müssen. Miss Kilmanns
Beschreibung passt sehr wohl dazu.
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Für kleine Lebewesen wie uns
ist die Weite des Raums nur durch Liebe
erträglich.
(Matt Haig zitiert Carl Sagan)
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