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Sonntag, 15. September 2019

Marcel Proust und Leonardo da Vinci

Weiter geht es mit Proust-Briefen von Seite 280 - 301. 

Da ich am kommenden Dienstag, 17.09.19, für sechs Tage verreise, und ich mich nächstes Wochenende in Stockholm befinde, haben Anne und ich die zehn Seiten noch vorgezogen, sodass wir uns mit zwanzig Seiten befasst haben. Nach dem Lesen hatten wir uns Gesternabend schon rege am Telefon ausgetauscht.

Auf diesen Seiten sind recht lange Briefe abgedruckt und wieder jede Menge geistreiche Gespräche waren zu entnehmen. Dadurch, dass uns die Schriftsteller, über die gesprochen wird, unbekannt sind, kamen uns die Gespräche sehr abstrakt vor, weshalb ich über diese Briefe nicht so viel schreiben werde. Die Details sind dadurch dem Buch zu entnehmen.

Schön fanden wir, dass der Schriftsteller Fernand Gregh in seinem Gedichtband in Prosa ein Gedicht geschrieben hat, das er Proust gewidmet hat, worüber er sich sehr gefreut hat. Das geht aus einem Brief vom Ende November 1901 hervor. Mon amitié avec Marcel Proust, meine Freundschaft mit Marcel Proust, (Anm. M. P.)

Aus der Fußnote geht hervor:
Gegen Ende des Bandes (…) findet sich unter den Prosagedichten eines mit dem Titel >Les Cloches sur la mer< [Glocken über dem Meer], das mit der Widmung >á Marcel Proust< versehen ist. Gregh widmete Proust diese kleine Arbeit in Erinnerung an einem gemeinsamen Aufenthalt in der Villa >Les Fremonts< (…) im September 1892, als sie eines Abends genau zur Stunde des Angelus-Gebets die alte Kirche Sainte-Catherine in Honfleur betreten hatten. (282)
In einem anderen Brief geht es um ein Synonym für die Homosexualität, das ich herausschreiben möchte, damit man die späteren Briefe vielleicht besser verstehen kann. Anne und ich hatten schon vor längerer Zeit den Verdacht geschöpft, dass Proust sich mit seinen sexuellen Partnern über einen Code austauschen würde.

An Antoine Bibeso
April 1902, Proust war hier 31 Jahre alt

In diesem Brief erfährt man, dass Leonardo da Vinci, (*1452, gest. 1519)  Prousts Lieblingsmaler war. Und auch Leonardo da Vinci soll ein Homosexueller gewesen sein. Weiter unten habe ich dazu aus der Fußnote ein Zitat hinzugefügt.

Entnommen haben wir auch, dass der Begriff >>Saläismus<< ein Synonym für Homosexualität stehen würde, wandelnd auf den Spuren von Leonardo da Vinci, wie auch aus der Fußnote hervorgeht. Proust schreibt:
Ich habe mir zum Saläismus recht profunde Gedanken gemacht, die ich Ihnen bei einem unserer nächsten metaphysischen Gespräche unterbreiten werde. Unnötig, Ihnen zu sagen, dass sie äußerst streng ausfallen. Aber es bleibt eine philosophische Neugier gegenüber den Menschen. Dreyfusard, Anti-Dreyfusard, Saläist, Antisaläist, das sind ungefähr die einzig interessanten Dinge, die man über einen Dummkopf wissen muss. (284)
Aus der Fußnote geht hervor:
>Saläismus< (sowie >Saläist< bzw. >saläistisch<): Im Sprachgebrauch Prousts und seiner Freunde Antoine Bibesco, Bertrand de Fénelon, und anderer ein Synonym für >Homosexualität<. (…) Eine andere interessante, aber weniger wahrscheinliche Geschichte schlug erst Alan Garric in seinem Blog >Libellules< auf der Internetseite der Zeitung Le Monde vor (…). Jean-Paul und Raphäel Enthoven habe sie in ihrem Dictionaire amoureux de Marcel Proust, Paris 2013, (…) übernommen. Demzufolge ließe sich die Spur zurückverfolgen bis zu Gian Giacomo Caprotti, genannt >Saläi< oder auch >Andrea Saläi< (ca. 1480-1524), einem Schüler (seit seinem 15. Lebensjahr) – und wohl auch Geliebten – Leonardo da Vincis. Dass Proust mit biographischen Details aus dem Leben Leonardos vertraut war, darf angenommen werden (Leonardo war der Lieblingsmaler des jungen Proust). Aber Sala scheint hier doch – buchstäblich näher zu liegen als Saläi. (285f)

Im nächsten Brief hat uns erneut Prousts Krankheit beschäftigt.
Marcel Proust lässt in jedem Brief verkünden, wie krank er war, sodass ich darüber nicht mehr schreiben wollte. Seine Krankheiten aufzuzählen finde ich langsam langweilig, auch wenn er mein Mitgefühl hat. Aber in dem folgenden Brief, der an die Mutter gerichtet war, brachte er mich und Anne erneut zum Nachdenken, denn nun war es auch die Mutter, die Prousts Erkrankungen infrage gestellt hat, so scheint uns, und jede Menge Druck auf ihn ausgeübt haben muss, ohne es vielleicht zu wollen. Aber der Sohn ist versiert, weiß sich zu wehren. Er schreibt:

An Jeanne Proust
August 1902, Proust ist 31 Jahre alt
Du sagst mir hierzu, dass andere Leute genauso viel Beschwerden haben und dabei arbeiten müssen, um ihre Familien zu ernähren. Das weiß ich wohl. Auch wenn dieselben Beschwerden nicht unbedingt dieselben Leiden bedeuten. Denn bei alldem muss man zwei Dinge beachten: die Materialität des Faktums, welches die Leiden auslöst. Und die seiner jeweiligen Natur geschuldete Leidensfähigkeit eines Menschen. Natürlich bin ich davon überzeugt, dass es viele Menschen gibt, die genauso und noch mehr leiden und dennoch arbeiten. Aber man hört auch von anderen, die diese oder jene Krankheit hatten und denen man jede Arbeit untersagt hat. Zu spät, während ich es lieber zu früh getan habe. Und ich habe recht daran getan. Denn es gibt diese Arbeit und jene Arbeit. Die literarische Arbeit ruft ständig die Empfindungen ab, die mit dem Leiden verknüpft sind (>Wenn mit so viel anderen Fesseln Du an Deinen Schmerz dich kettest<). (299)
Aus der Fußnote geht hervor, dass Proust aus dem Gedicht Don Paez zitiert hat. Details sind dem Buch zu entnehmen.

Meine Gedanken 

Ich freue mich immer, Neues durch Proust zu lernen. Dass Leonardo da Vinci sexuell auch männerorientiert gelebt hat, das hatte ich bis dato nicht gewusst.

Was Prousts lebensbedrohliche Erkrankung betrifft, hat mich zudem erschreckt, dass Jeanne Proust ihren Sohn dermaßen unter Druck gesetzt haben muss, dass er anfing, auch der Mutter seine Erkrankungen mit Rechtfertigungen zu erklären. Was diese Vergleiche mit anderen Menschen immerzu sollen, leuchtet mir einfach nicht ein. Man kann Menschen nicht mit anderen Menschen vergleichen. Und doch tut man dies immerzu. Selbst in unserer heutigen Zeit. Man wird dem allerdings niemals gerecht werden können, denn jeder Mensch ist nur mit sich selbst vergleichbar, weil jeder Mensch durch seinen eigenen Charakter und durch seine Herkunft ein anderer ist. Und Proust hat recht getan zu sagen, ich höre lieber früher auf zu arbeiten, bevor es zu spät ist. Wie ich schon andernorts geschrieben habe, haben Asthmatiker mit jedem neuen Anfall permanent den Tod vor Augen …

Wir werden sehen, wie sich Proust noch weiter entwickeln wird. Wir sind gespannt.

Hier mache ich nun Schluss und freue mich, nach meinem Urlaub wieder mit Anne weiter zu lesen. Anne dagegen freut sich auf eine Proust-Pause, was ich durchaus verstehen kann, denn sie hat auch noch andere Projekte am Laufen, denen sie sich an den Wochenenden widmen möchte. Aber Anne macht Proust auch Freude, so wie mir.

Übernächstes Wochenende geht es weiter von der Seite 301 bis 312.

Bis dahin gibt es bei mir nun eine kleine Blog Pause. 
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Montag, 29. Juli 2019

Enttäuschte Liebe

Seite 207 – 2017  

Auf den folgenden Seiten erlebten Anne und ich Marcel Proust wieder voll in seinem Element. Schüttet sein Herz aus, bzw. wie Anne sagt, trägt er sein Herz auf der Zunge, redet allerdings um den heißen Brei, schreibt sehr ausschweifend, sodass man zwischen den Zeilen lesen muss, wobei uns beim zweiten Mal lesen seine Probleme deutlich wurden. Proust steckt in einer schweren Liebeskrise mit Reynaldo Hahn. Zwei dieser Briefe haben uns diesbezüglich beschäftigt.

In einem anderen Briefen geht es thematisch auch um Literatur, diesmal um Plagiatsvorwürfe.

An Reynaldo Hahn
Juli / August 1896

Ein sehr persönlicher Brief, trotz förmlicher Anrede. Proust ist seelisch betrachtet tief gekränkt, weil Hahn ihm versprochen haben soll, Proust alles mitzuteilen, was er auf Reisen erlebt habe.
Reynaldo, ich hatte heute eine Anwandlung schlechter Laune, Sie dürfen sich darüber nicht wundern oder mir deswegen böse sein. Sie haben mir gesagt >Ich werde Ihnen nie wieder etwas sagen.< Das wäre ein Eidesbruch, wenn es stimmen würde. Aber auch wo es nicht stimmt, ist der Schlag für mich äußerst schmerzhaft. Dass Sie mir alles sagen werden, ist seit dem 20, Juni meine Hoffnung, mein Trost, meine Stütze, mein Leben. (207)
Eigentlich klingt das ein wenig banal, gekrängt zu sein, weil der Freund sich weigert, ihm von seinen Erlebnissen zu berichten, die Hahn ohne Proust in Deutschland erfahren hat. Alles von dem Freund wissen zu wollen, haben wir als ein seelisches Klammern aufgefasst, das so viel Nähe einfordert, die für viele Menschen in dieser Weise als einengend empfinden würden. Da wir leider keinen Antwortbrief von Hahn vor uns liegen haben, müssen wir uns denken, was Proust verzweifeln lässt.
Um Ihnen keinen Kummer zu bereiten, spreche ich fast nie davon, aber um nicht selbst großen Kummer zu haben, denke ich fast immer daran. So haben Sie mir ausgerechnet das gesagt, was mich wirklich >verletzen< kann. Ich ertrüge lieber tausend Beleidigungen. Ich verdiene sie, häufiger als Sie glauben. Aber ich verdiene sie nicht in den Augenblicken schmerzlichster Anstrengungen, in denen ich, ein Gesicht ausspähend, Namen vergleichend oder eine Szene wiederherstellend, die Lücken eines Lebens zu füllen trachte, das mir teuer ist als alles andere, das mir aber Anlass zu trostloser Unruhe bleiben wird, solange mir selbst seine unschuldigsten Regionen unbekannt sind. (Ebd)
Prousts Neugier, die in Eifersucht mündet, verschafft ihm Probleme, und er selbst nicht weiß, wie er diese einzuschätzen hat.
Wenn aber meine Einbildung absurd ist, sollte man ihr nichts in den Weg legen, denn es ist die Einbildung eines Kranken. Es ist sehr boshaft, einem Kranken damit zu drohen, ihm seine Lebensflamme auszublasen, weil seine Manie ihm auf die Nerven geht.
Proust war nicht nur körperlich sehr kränklich, auch psychisch, wie er erkennt, war er nicht gesund. Selbst aus seiner Sicht neigt er zur Manie, und aus anderen Büchern habe ich entnehmen können, dass er auch unter Depressionen litt. In Fachkreisen würden man von einer bipolaren Störung sprechen.

Proust macht sich häufig klein, gibt Reynaldo dazu viel zu viel Macht. Auch in diesem Brief gibt er sich als Reynaldos Pony.

Seien Sie nachsichtig mit Ihrem Pony. Würden Sie viele Herren finden mit all den Eigenschaften, die Sie von einem Pony verlangen usw.? (208)

An Reynaldo Hahn
Juli / August 1896

Weiter geht es im nächsten Brief an Reynaldo Hahn. Allerdings spricht er in den Anfangszeilen von Freundschaft, aber wohl eher in der Form einer Redewendung. Ein paar Zeilen später spürt man die tiefe Verletzung. Egal, wie es gemeint ist, es folgen schwere Vorwürfe Hahn gegenüber:
Unsere Freundschaft hat nicht mehr das Recht, hier das Wort zu ergreifen, dafür ist sie nun nicht mehr stark genug. Aber Ihre Geschichte macht es mir zur Pflicht, nicht dabei zuzusehen, wie Sie so dumme, so bösartige und auch so feige Handlungen begehen, ohne zu ihrem eigenem Wohl den Versuch zu unternehmen, Ihr Gewissen wachzurütteln und Sie dazu zu bringen, dies, wenn schon nicht einzugestehen – denn das verbietet Ihnen Ihr Stolz -. so doch zumindest zu fühlen.
Was hat Proust so getriggert? Dass Hahn zu wenig Zeit mit ihm verbringt? Erst begibt sich der Freund ohne ihn für mehrere Monate ins Ausland, siehe letzte Briefe, und als er wieder im Land ist, verbringt er seine Zeit auf Abendveranstaltungen, statt sie alleine mit Proust zu verbringen.
Als Sie mir sagten, dass Sie zum Souper blieben, war dies nicht das erste Zeichen Ihrer Gleichgültigkeit mir gegenüber. Aber als Sie mir zwei Stunden später, nachdem wir freundlich geplaudert und Ihre musikalische Unterhaltung genossen hatten, ohne Zorn und ganz kühl sagten, dass Sie nicht mit mir nach Hause wollten, war dies der erste Beweis von Boshaftigkeit, den Sie mir gegeben haben.
Das sind schon große Vorwürfe, einem Menschen Boshaftigkeiten zu unterstellen, nur, weil Hahn seine Zeit anders verbringen möchte. Aus den nächsten Zeilen geht hervor, dass Proust sich von Hahn nicht mehr geliebt fühlt. Proust scheint als ein Hochsensibler zu Gefühlen einen großen Hang zu haben. Vieles wirkt melodramatisch, wenn er sich emotional nicht beachtet fühlt.

Aus der Fußnote geht hervor, dass diese Eifersuchtsszenen auch in der Recherche Unterwegs zu Swann eingebettet waren. Ich kann mich deutlich an mehrere Eifersuchtsszenen des fiktiven Marcels erinnern. Schon als kleiner Junge konnte er sie äußern, wenn die Mutter sich um ihre Gäste gekümmert hat, und sie den Jungen ohne Gutenachtkuss ins Bett geschickt hat. Der kleine Marcel war eifersüchtig auf die Gäste seiner Mutter.
Und wenn mir etwas Kummer bereitete, das für Sie ein wirkliches Vergnügen war wie Reviers, habe ich niemals gezaudert. Im Übrigen bereue ich nichts von dem, was ich getan habe.
Anne und ich haben uns gefragt, was er getan haben könnte? Sexuelle Annäherungen? Das sind nur Vermutungen, wissen können wir das nicht.

In der Fußzeile steht, dass Proust gemeinsam mit Hahn einen Ausflug in Reviers gemacht haben könnte. Sicherlich sind sich die beiden hier sexuell nahegekommen.

Weitere Vorwürfe dieser Art sind dem Brief zu entnehmen.

In der Abschlusszeile bezeichnet sich Proust auch in diesem Brief wieder als Hahns Pony.
Ihr kleines Pony, das nach diesem Huftritt ganz traurig und allein in den Stall zurückkehrt, als dessen Herr Sie sich einst gern bezeichneten.
Diese Vorstellung, wirklich als Bild wunderschön beschrieben, dennoch wirkt sie auf mich sehr infantil. Auf jedem Fall keine erwachsene Liebe, in der beide Partner auf Augenhöhe sich bewegen.

Weiter wirft er Hahn vor:
Fast wünsche ich mir schon, dass das Verlangen, mir Freude zu machen, nie eine Rolle bei Ihnen gespielt hat, bei Ihnen nie vorhanden war. Andernfalls müssten – wenn solche Jämmerlichkeiten, denen Sie mehr verhaftet sind, als Sie glauben, so oft die Oberhand bei Ihnen gewinnen – diese mehr Gewalt über Sie haben, als ich glaube. All das wäre nur Schwäche, Stolz und Kraftprobe. (…)
Aber an all das glaube ich nicht, ich glaube nur, dass, genauso wie ich Sie sehr viel weniger liebe, Sie mich überhaupt nicht lieben, und das, mein liebster Reynaldo, kann ich Ihnen nicht übel nehmen.

Kann man den letzten Satz ernst nehmen? Natürlich nimmt er es Reynaldo übel. Anne und ich sind auf die nächsten Briefe zwischen Proust und Hahn gespannt.

An Lucien Daudet
August 1896

Proust befand sich auf Reisen, die er unterbrechen musste, da er wieder erkrankt war. Er hat sich eine schwere Erkältung eingefangen. Ist heiser und fiebrig. Lucien schrieb Proust, um über seinen Onkel zu schreiben. Allerdings besteht der Brief aus Fragmenten, was Proust Lucien mitteilt. Auf den Seiten sind zudem literarische Themen mitabgedruckt. Proust schien zu der Zeit jede Menge Novellen geschrieben zu haben, die von einem anderen Schriftsteller plagiiert wurden. Doch hierzu Proust:
Lieber Lucien, ich gestehe Ihnen unumwunden, dass diese Wunderwerke nicht von Guillemont stammen, sondern von mir. Und ich leide, wenn ich daran denke, dass derartige Dinge unbekannt bleiben werden. Im Ernst: wollen Sie, dass wir uns bei einer angesehenen Zeitung in >Vorschlag bringen< und mit unseren >kleinen Krawatten< Geld verdienen, indem wir einmal wöchentlich ein noch >unerforschtes< Feld beackern?
Telefongespräch mit Anne
Wir hatten Mitgefühl mit diesem liebenden Marcel, dessen Forderungen nicht erwidert wurden. Und wie sehr er unter seinem Liebeskummer litt, wobei für uns nichts Tragisches passiert ist. Aber wir sind auch nicht die Verliebten und können dieses Liebesleid ganz objektiv betrachten, allerdings wird dieser Liebeskummer sehr einseitig erlebt, denn Hahn scheint gelassen seinen Weg auch ohne Proust zu gehen, was Proust schmerzlich verletzt. Da aber Reynaldo Hahn für Marcel Proust bis zu seinem Lebensende eine wichtige Person bleiben wird, bleibt es für uns noch spannend, wie sich diese Männerbeziehung noch weiter gestalten wird.

Ich stellte mir noch die Frage, wie Franz Kafka es geschafft hat, alle seine Novellen weltweit publizieren zu lassen, während Marcel Prousts Novellen unbekannt geblieben sind? Mit seinen Novellen hat er sich sein Geld verdient. Hierauf werden wir so schnell wohl keine Antwort finden. 

Da ich nächstes Wochenende keine Zeit haben werden, lesen Anne und ich morgen nochmals zehn/elf Seiten und werden uns darüber am Dienstag austauschen. 

Die nächsten Briefe; von Seite 217 – 228.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Sonntag, 21. Juli 2019

Ein Mann schenkt einem anderen Mann Liebesblumen - ein peinlicher Zwischenfall

Seite 194 - 207   

Auf den folgenden Seiten erfährt man, dass es in Prousts Familie zwei Todesfälle gab.
Auch spricht Proust von seinem Buch, das er geschrieben hat, und das uns hier in Deutschland unbekannt ist. Dieses Buch ist sogar von seiner Mutter wohlwollend aufgenommen worden, was heißen könnte, dass sie mittlerweile ihren Schriftstellersohn akzeptiert hat. Und es geht hier auch wieder um eine Konfliktklärung, die Proust mit dem Dichter Robert de Montesquiou wiederholt pflegt.

An Robert de Montesquiou
April 1896

Montesquiou publizierte Hortensias blue am 27. Mai 1896. Proust, der sehr für die Gedichte seines Freundes zu haben ist, schickte ihm als eine nette Geste passend zu dem Gedicht einen Strauß Hortensien, die Montesquiou nicht erfreut hatte, wie man aus dem Zitat unten entnehmen kann, da es unüblich ist, einem Mann Blumen zu schenken. Proust hat darauf sehr gekränkt reagiert, was zeigt, wie sensibel er ist. Ihm sind seine Mitmenschen nicht gleichgültig. Und es ist ihm nicht gleichgültig, was sie über ihn denken.
Was mich schmerzt und von Ihrer Seite so sehr verwundert hat, ist nun Folgendes: Ich habe mich Ihnen gegenüber immer so liebenswürdig, wie es mir nur möglich war, erwiesen, und so lästig, so unangenehm ich sein mag, so müssen Sie doch die Vorzüglichkeit und den feurigen Eifer meiner guten Absichten Ihnen gegenüber anerkennen. (197)

Proust hinterfragt sich selbst. Im Postskriptum schreibt er:
Warum ist man zu liebenswürdig? Kann man überhaupt zu liebenswürdig sein? Ihre feinen Unterscheidungen und vor allem Ihre Verärgerungen sind mir unbegreiflich. Ich brauche dringend eine Lektion von Ihnen und habe größte Lust darauf, ich meine damit eine Erklärung und nicht, dass Sie mir >eine Lektion< erteilen in dem Sinne, in dem Ihre Äußerung gegenüber Madame Lamaire (Künstlerin, Anm. d. Verf.) hinsichtlich der Hortensien eine für mich war.

Anscheinend hat Montesquiou hinter Prousts Rücken abgelästert, und Proust es über Dritte erfahren hatte. Für den armen Proust eine peinliche Situation, wie ich mir vorstellen kann. Genaueres ist laut der Fußnote aber nicht eruierbar. Anne hat diese Szene auch als Klatsch und Tratsch aufgefasst.

An Laure Hayman
Mai 1896

Im nächsten Brief, der am 11.Mai 1896 an Laure Hayman geht, ist zu entnehmen, dass Prousts Onkel Louis Weil am 10.Mai 1896 im Alter von achtzig Jahren an einer Lungenfellentzündung verstorben ist. Laure Hayman hatte eine hohe Meinung von diesem Onkel, aber weshalb sie nicht an der Beerdigung teilgenommen hat, geht aus den Briefen nicht hervor. Allerdings hat sie Proust ihr Bedauern schriftlich niedergelegt.

Laure Hayman ist eine Geliebte des Verstorbenen gewesen.

Am 10. Juni 1896 verstarb der Großvater Nathé Weil im Alter von 82 Jahren. Nathé Weil ist der Vater von Madame Prousts. Prousts Mutter hatte der Tod ihres Vaters seelisch mitgenommen. Und so schreibt er an Reynaldo Hahn:
Mama geht es leidlich. Sie scheint ihren immensen Kummer mit mehr Kraft zu bewältigen, als ich zu hoffen wagte. (206)

An Robert de Montesquiou
19. Mai 1896

In diesem Schreiben geht es um den Antisemitismus. Laut der Fußnote spielt Proust auf eine Diskussion über Emile Zola an, der im Figaro wiederholt Stellung gegen antisemitische Vorurteile nimmt. Montesquiou, der die Artikel selbst auch gelesen haben muss, möchte zu der Judenfrage gerne Prousts Meinung hören, da sich Proust bisher zu dieser Thematik eher bedeckt gehalten hat. Er begründet seine Zurückhaltung folgendermaßen:
Ich habe Ihnen gestern nicht auf Ihre Frage nach meiner Meinung zu den Juden geantwortet. Und dies aus einem ganz einfachen Grund: Ich bin, wie mein Vater und mein Bruder, katholisch, meine Mutter hingegen ist Jüdin. Sie werden verstehen, dass dies für mich ein hinreichend triftiger Grund ist, mich aus derartigen Diskussionen herauszuhalten. (200)

Ich selbst dachte auch erst, dass Proust Jude ist. Dies hatte ich aus vielen Literaturforen entnommen.

Der nächste Brief geht an Reynaldo Hahn.
Juli 1896, Proust ist hier, am 10. Juli, 25 Jahre alt geworden

Reynaldo Hahn befindet sich auf Deutschland Reisen und besucht seine Schwester in Hamburg. Wie ich in der letzten Besprechung schon mitgeteilt habe, ist, dass Hahns Vater deutscher ist. Obwohl Proust hier wieder die förmliche Anrede gebraucht, spürt man an dem Brief, wie nah er Hahn ist und der Brief glauben lässt, dass die beiden ein Paar sind, was aber eher nur angedeutet wird.
Ich wäre glücklich, wenn Sie, ohne erneut die Mühen einer Reise auf sich zu nehmen, noch ein wenig Ihr >liebes Deutschland< genießen könnten, (…). Anders als die Lemaire bin ich all den Orten, an denen wir nicht zusammen sein können, keinesfalls feindlich gesinnt. Und entzückt, dass Sie Ihren Frieden haben. Ich wünsche, dass Sie dort solange wie möglich bleiben können, und ich schwöre Ihnen, dass ich, sollten die raren Momente, in denen ich die Lust verspüre, den Zug nehmen, um Sie gleich wiederzusehen, sich häufen und unerträglich werden, Sie darum bitten würde, zurückzukommen oder selbst kommen zu dürfen. (203)

Hahn scheint mit der räumlichen Distanz keine Probleme zu haben, während Proust emotional anders gestrickt zu sein scheint. Dabei erinnere ich mich an die Szene zurück, wo Proust in der Bibliothek Mazarine sich in einer Aufnahmeprüfung befindet, und er zwischendrin den Saal verlassen musste, um noch schnell seinem Freund zu telegrafieren.
Aber das ist eine unwahrscheinliche Hypothese. Bleiben Sie, solange Sie sich dort wohl fühlen. Bedenken Sie mich nur von Zeit zu Zeit in Ihren Briefen – nichts davon was mosch wäre, nichts davon gesehen -, denn wenn Sie es von Zeit zu Zeit auch sagten. Und ich bin – ohne Selbstverleugnung – glücklich, dass Sie bleiben. Aber ich werde auch sehr glücklich sein, ach, mein Liebster, sehr sehr glücklich, wenn ich Sie wieder umarmen darf, Sie, der Sie mir mit Mama der liebste Mensch auf der Welt sind. (Ebd.)

Ich hatte schon letztes Mal geschrieben, dass Hahn nach Prousts Mutter der wichtigste Mensch für ihn ist. Aber nein, ich hatte untertrieben; Proust stellt Hahn auf dieselbe Stufe, auf die er seine Mutter gestellt hat. Darauf kann sich Hahn wirklich etwas einbilden. Irgendwie klingt das einerseits recht rührend, andererseits aber auch recht naiv, und zeigt, dass Proust mit seinen 25 Jahren sich emotional nicht wirklich von seiner Mutter hat lösen können. Ob Hahn diese Art von emotionaler Ebene angenehm ist? Proust scheint sehr bemüht zu sein, es seinem Freund recht zu machen, ihn mit seiner seelischen Abhängigkeit nicht zu verärgern.
Aber ganz rasch noch (ich gebe mir Mühe, Ihnen nicht zu schreiben, was Sie verärgern oder verstimmen könnte, da es nicht in meiner Macht steht, Sie aus der Ferne mit tausenderlei Nettigkeiten eines Ponys zu besänftigen, die ich für Ihre Rückkehr aufbewahre). (Ebd.)

Weshalb Proust den letzten Absatz in eine Klammer gesetzt hat, ist mir nicht ganz klar. Kurze Begriffsklärung zu Mosch, siehe obiges Zitat.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass mosch in Prousts und Hahns Idiolekt ein Synonym für Homosexualität darstellt, angelehnt an méchant, böse, und mosche, hässlich. Homosexuell zu sein ist in einer geächteten Gesellschaft etwas Hässliches, etwas Böses, etwas widernatürlich Abstoßendes.

Dass die beiden eine Geheimsprache sprechen, hatten Anne und ich schon vermutet.

Telefongespräch mit Anne
Anne hatte sich die Frage gestellt, ob Proust parallel zu Hahn nicht auch noch zu Montesquiou eine sexuelle Beziehung gepflegt hat? Eine berechtigte Frage, aber darauf werden wir wohl kaum eine Antwort bekommen. Aber ich denke schon, dass Proust viel ausprobiert hat, siehe unten.

Merkwürdig fanden wir beide, dass die Beziehung zu Prousts Freunden die Anrede in den Briefen förmlich geblieben ist. Vielleicht, um die Homosexualität zu tarnen. Es war allerdings damals nicht mal üblich, die Eltern zu duzen. Aber muss man sich in den Briefen verstecken?
Hängen geblieben sind Anne und ich auch an dem Brief, der Montesquiou bestimmt war. Wie ist es für einen Mann, der von einem anderen Mann einen Strauß Blumen geschenkt bekommt? Angenehm erfreut war der Dichter darüber nicht, wie ich oben schon geschrieben habe. Es scheint, als würde Proust häufig mit seinem offenen Herzen ins Fettnäpfchen treten, weshalb er in dem Brief an Hahn so sehr vorsichtig war, ihn mit seiner Emotionalität nicht einzuengen.
Vielleicht hatte Proust keine Berührungsängste, seinem Freund Blumen zukommen zu lassen, da dieser so viele Gedichte über Blumen verfasst hat. 

Traurig waren wir auch über den Tod des Großvaters Nathé Weil, da wir nun keine an ihn gerichteten Briefe mehr zu lesen bekommen. Der Großvater schien für Proust häufig ein Ausgleich zwischen sich und seinen Eltern gewesen zu sein.

Geredet haben wir auch über den zweiten Band, der über 1000 Seiten umfasst. Briefe, die bis zu Prousts Tod reichen. Wir sind neugierig, wie er sich im späteren erwachsenen Alter noch entpuppen wird. Auch wenn die Antwortbriefe ausbleiben, nehmen wir wie ein roter Faden doch an seiner persönlichen Entwicklung teil.  

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 207 – 2017.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Sonntag, 23. Juni 2019

Berufliche Neuorientierung / Selbstfindungsphase

Seite 152 – 162  

Auf den folgenden zehn Seiten strebt der junge Marcel Proust unter dem Druck seiner Eltern eine berufliche Laufbahn an. Ein Dilemma, wie man es schon von verschiedenen anderen Künstlern her kennt. Die Schriftstellerei als Existenzsicherung scheint für Prousts Vater zu ungewiss zu sein. Schreiben als Hobby neben einem anderen Beruf ist durchaus machbar. Aber Proust schreibt nicht zum reinen Vergnügen, sondern professionell. Profession bedeutet in meinen Augen, einen ganzen Arbeitstag mit dem Schreiben zu verbringen. Damit ist nicht nur das Schreiben impliziert, sondern auch die Zeit, die er auf der Suche nach seinem Stoff noch zusätzlich benötigt. Wo soll da noch Zeit sein, einem anderen Beruf nachzugehen? Ich denke dabei auch an die vielen Profimusiker, die Virtuosen unter uns, die täglich mindestens acht Stunden mit Übungen zubringen, wie ich mir von echten Profis habe sagen lassen. Ein Laie übt wahrscheinlich nicht einmal eine Stunde am Tag.

Proust sucht verzweifelt nach Kompromissen, später nach einer patenten Lösung.

September 1892, 22 Jahre
Brief an Robert de Billy

Er schreibt in dem Brief an seinen Freund Robert de Billy, spricht sich in dem Brief aus, dass er in der allergrößten Verlegenheit stecken würde, da er auf den Druck seines Vaters sich für eine berufliche Laufbahn entscheiden müsse. Durch Anraten seines Vaters strebt Proust eine Beamtenlaufbahn zwischen dem Rechnungshof und dem Dienst im Außenministerium in Paris an. Aber beides empfindet Proust als eine >>geisttötende Laufbahn<<. Obwohl Proust Jura studiert hat, und er sein Lizenziat im Oktober 1893 bestanden hat, drängte sein Vater auf eine zügige Berufswahl. Im Folgenden zeigt Proust dem Freund seine innere Not, für die sein Vater wenig Verständnis aufzubringen scheint. Ich zitiere folgende Textstelle, da ich so sehr mit Proust mitfühlen kann:
Ach, mein Freund, mehr denn je wäre mir Ihr Rat hier teuer, und ich leide sehr unter ihrer Abwesenheit. Möge sie doch ein schöner Brief durch das allmächtige Wunder der kommunizierenden Geister aufheben. – Genießt die höhere Verwaltungslaufbahn nicht zu wenig Ansehen? Was bleibt da noch, wo ich entschlossen bin, weder Anwalt zu werden noch Arzt, noch Priester, noch -, (154).

Ende September 1893 schreibt Proust diesbezüglich an den Vater …

… und bittet indirekt erneut darum, seine Studien in Philosophie und in der Literatur weiter fortsetzen zu dürfen, worauf der Vater sich in Schweigen hüllte. Aber Proust ist nachgiebig, zeigt sich weder motzig, noch rebellisch dem Vater gegenüber und sucht nach einer Lösung, mit der beide gut leben können.
Mon cher petit Papa,ich habe immer gehofft, deine Erlaubnis für die Fortsetzung der literarischen und philosophischen Studien zu erhalten, für die ich mich geschaffen glaube. Aber da ich sehe, dass mit jedem Jahr nichts weiter als eine immer aufs Praktische gerichtete Disziplin auf mich zukommt, will ich mich lieber gleich für eine dieser praktischen Laufbahn entscheiden, die du mir vorschlugst. Ich werde ernstlich darangehen, ganz nach Deiner Wahl, die Aufnahmeprüfung für den diplomatischen Dienst oder für die École nationale des Chartes vorzubereiten. (155)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass die École national … die Schüler auf einen höheren Dienst für Bibliotheken, Archiven und Museen vorbereitet.
Was die Anwaltskanzlei angeht, so würde ich noch tausend Mal lieber bei einem Wechselmakler anfangen. Du kannst übrigens sicher sein, dass ich es dort keine drei Tage aushalten würde! Es ist nicht so, dass ich nach wie vor alles außer der Beschäftigung mit Literatur und Philosophie für verlorene Zeit hielte. Aber unter mehreren Übeln gibt es kleinere und größere. Ich habe mir, selbst in den Tagen meiner größten Verzweiflung, nie etwas Furchtbareres als eine Anwaltskanzlei vorstellen können. Der Botschaftsdienst, der mir jene ersparen würde, scheint mir zwar nicht meine Berufung zu sein, aber ein Ausweg. (155f)

Auf der Seite 152 schreibt Proust weiterhin an Robert de Billy. Zur Erinnerung; Proust lernte de Billy im Militärdienst kennen. Sie waren beide in Orléans stationiert. Proust verbrachte nur ein Jahr beim Militär, danach kehrte er nach Hause zurück, um zu schreiben. Dadurch, dass Proust Asthmatiker war, war es leicht, vom Militärdienst befreit zu werden.

Auf den folgenden Seiten findet Proust noch andere Autoritäten, mit denen er über seine Zukunft spricht, da er noch immer nach Auswegen sucht, auch wenn er ernsthaft bemüht ist, es seinem Vater recht zu machen.

Im November 1893 schreibt er an Charles Grandjean und bittet um seinen Rat. Das bedeutet, er ist noch immer auf der Suche, seinen Beruf zu finden, aber wie es scheint, findet er nur in den hoch geistigen Künsten seine berufliche Heimat. Würde er sich für die Beamtenlaufbahn im Rechnungshof entscheiden, so müsse er dort schätzungsweise nach zweijähriger Vorbereitungszeit eine Aufnahmeprüfung ablegen, von der Proust schon jetzt weiß, dass er die Prüfung nicht bestehen werde. Allerdings sucht Proust eine unentgeltliche Anstellung im Museum, um über Umwegen doch in der École de Chartes ein Lizenziat in Literatur ablegen zu können.
 Während dieser Zeit könnte ich, wenn ich feststelle, dass es mir dort gefällt, ganz nach Ihrem Belieben die École des Chartes, ein Lizenziat in Literatur, die École du Louvre oder ganz einfach persönliche Arbeiten vorbereiten – und zwar dergestalt, dass daraus eine Laufbahn für die Zukunft wird, und in Erwartung des noblen und diskreten Rahmens einer Existenz, die ich durch das Studium schöner Dinge zu inspirieren und zu veredeln versuchen würde. (157)

Weitere Details sind den Briefen zu entnehmen.

Mit dem richtigen Beruf versucht Proust, einen Lebenssinn zu bestimmen, ohne das Gefühl zu bekommen, in Zukunft sein Leben vertan zu haben. Doch er ist ambivalent, er weiß nicht so recht, wie er seine beruflichen Pläne umsetzen soll, solange ihm die Unterstützung seines Vaters fehlt. Weiter schreibt er um Rat bittend an Grandjean:
Aber ach, Ihr wunderbarer kritischer Geist wird auch diesen neuen Ballon zerplatzen lassen – oder sagen wir, ich freue mich darüber, denn Sie verscheuchen für mich die Trugbilder, die das Gefährlichste überhaupt sind, und ersparen mir auf diese Weise grausame Enttäuschungen. (158)

Er weiß, dass die Jugend vorbei ist und somit der Ernst des Lebens beginnt.
Da es früher oder später nicht mehr reicht, sein Leben zu erträumen, sondern man es leben muss, hätte ich große Enttäuschungen zu gewärtigen – die größte wäre die, sein Leben vertan zu haben -, wenn Ihre Erfahrung und Ihre Intuition meinem allzu phantasievollen und zu unwissenden guten Willen nicht zur Vorsicht rieten. (Ebeda)

Ich erlebe diese Briefe als einen stillen Hilferuf. Still deshalb, weil Proust diplomatisch bleibt und auch seinen Vater nicht beschimpft. Er schwankt zwischen den Erwartungen und den Forderungen seines Vaters, und zwischen seinen eigenen Plänen, die auch aus seiner Sicht tatsächlich scheitern könnten. Was ist, wenn der Vater recht hat, und alle seine beruflichen Pläne sich nicht so umsetzen lassen, wie er sich dies vorstellt?

Zum Schluss habe ich mich gefragt, weshalb Proust Jura studiert hat? Wurde er dazu gezwungen? Später geht aus den Briefen hervor, dass er weder Medizin, noch Theologie … studieren wollte, so blieb ihm wohl nur noch die Justiz. Aber eine Karriere als Anwalt lehnt Proust vehement ab.

Später bekommt er von den Agenturen mehrere Angebote gemacht, entscheidet sich aber letztendlich, auf seinem Museumsplan zu beharren. Da ich nicht alles verraten möchte, erspare ich mir weitere Details.

Damit es hier nicht nur um Prousts berufliche Pläne geht, sondern zur Abwechslung auch mal um begabte Frauen, möchte ich als letztes hierzu noch einen Beitrag leisten.

Proust befindet sich auf Reisen. Wahrscheinlich zur Erholung. Derzeit ist er mit seiner Mutter in Trouville. Trouville-sur-Mer ist ein kleines französisches Seebad mit 4642 Einwohnern. Zuvor verbrachte er drei Wochen in der Schweiz, St. Moritz, und eine Woche am Genfer See. Er hat von seinen Reiseeindrücken in der Zeitschrift Revue blanche geschrieben. Er ist wieder von einer Dame angetan, Madame Jameson, eine musische Künstlerin, eine Pianistin, zu der sich Proust hingezogen fühlt. Er schreibt seinem Freund Robert de Billy, um über die Pianistin Auskunft zu erlangen, da der Freund diese Dame kennen würde. Proust schreibt, dass er sich schon bei Madame Straus erkundigt habe, bestätigte, dass Madame Jameson … 
… >recht patent ist, die Wohnung gut aufräumt, und überall schrubbt< (was sehr geistreich ist, aber meiner Ansicht nach eher auf andere Anwendung findet als auf diejenige, dich ich für eine so große Musikerin halte< und auf eine antikünstlerische und abscheuliche Weise spielt. (153)

Madame Straus scheint wohl gar nichts von den Künsten Jameson zu halten, drückt es aber eher in versteckter Weise aus, was Proust ein wenig irritiert, weshalb er eine andere Meinung sich bei dem Freund einholen möchte. Man weiß nicht mit Bestimmtheit, wie Madame Straus auf Talente anderer Damen tickt. Vielleicht empfindet sie einfach nur Neid. Madame Jamesons Herkunft stammt nicht aus der gehobenen Gesellschaft, weshalb Proust seinen Freund hierbei um Nachsicht bittet, da sie weder Herzogin noch Prinzessin und nur Protestantin sei. Vielleicht hat Madame Straus die Pianistin auch deshalb abgewertet bzw. sie auf das Können ihrer Hausarbeit reduziert, weil sie keinem Adel angehört. Sehr geistreich scheint Madame Straus aber auch nicht zu sein. Diese wenig geistreichen Menschen treten gehäuft aber auch in der Recherche auf. Sie sind mir nicht neu.

Telefongespräch mit Anne:
Erneut haben Anne und ich unsere Leseeindrücke teilen können. Ja, Proust wird jetzt erwachsen und er spürt deutlich, dass sich seine Jugend und seine Träumereien so langsam dem Ende neigen. Trotzdem sind wir gespannt, wie es weitergehen wird, denn, dass er weiterschreiben wird, das wissen wir schon durch seine siebenbändigen Recherchen. Den letzten Band hat er kurz vor seinem Tod noch beenden können. Anne meinte, dass man neben dem Beruf sich trotzdem noch mit Büchern befassen könne, und ich war der Meinung, dass Proust sich mit Literatur als Hobby nicht begnügen wolle. Er wollte ganz frei sein für sein Schreiben, und so war er nicht bereit, dieses mit einem anderen Beruf zu teilen. Dazu habe ich oben schon einiges geschrieben. Interessant fand ich, dass Anne, die meine Buchbesprechung noch gar nicht gelesen hat, da ich noch am Werkeln bin, dieselben Gedanken und Ideen wie ich geäußert hat.

Ich weiß noch aus der Biografie, dass Proust die meiste Zeit seines Lebens im Bett zugebracht hat, weil er sehr krank war. Eine große Karriere, wie der Vater sie für ihn bestimmt hat, wird er dadurch nicht machen können.

Des Weiteren haben wir uns über den Briefpartner Robert de Billy ausgetauscht, da ich ihn total verdrängt hatte. Ich wusste nicht mehr, wer er war. Aus Annes Namensliste geht hervor, dass dieser Mensch nur Prousts Briefpartner war. Mehr ist aus der Fußnote nicht hervorgegangen. Ich wurde schließlich auf einer französischsprachigen Proust – Seite fündig. Weitere Erklärung sind oben im Text hinterlegt.

Wir sind beide auf nächstes Wochenende gespannt. Wir sind neugierig, wie bzw. ob Proust aus seiner Bedrängnis herausfinden wird, ohne es sich mit dem Vater zu verscherzen. Aber Ewachsenwerden bedeutet auch, sich gegen die elterlichen Erwartungen auflehnen zu können, auch wenn hier eine finanzielle Abhägnigkeit besteht.
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Das Herz hat Gründe,
die der Verstand nicht kennt.
(Marcel Proust)

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