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Sonntag, 2. Dezember 2018

Paolo Cognetti / Acht Berge (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Ein wunderschönes Buch über die Natur, über eine besondere Freundschaft zweier Jungen, über eine interessante Vater-Sohn-Beziehung und über die politische Lage Italiens.

Gefreut habe ich mich zudem, dass ich tatsächlich eine Antwort zu Ferrantes Buch habe finden können, wo ich erst dachte, dass dies nur auf dem Umschlag steht, um die Leser*innen anzulocken. 

Daher möchte ich am Ende der Besprechung etwas über dieses Buch diskutieren, über die Antwort auf Ferrantes Werk, weshalb ich gezwungen sein werde, ein paar Details mehr anzubringen, bin aber trotzdem bemüht, nicht alles zu verraten.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Handlung wird aus der Ich-Perspektive des Jungen namens Pietro Guasti erzählt. Seine Eltern, die aus dem ländlichen Veneto kommen, sind mit Anfang dreißig in die Großstadt Mailand gezogen. Veneto scheint wie ausgestorben zu sein, als hätten die Bewohner Landflucht betrieben, da die Gegend für Arbeitsplätze nicht mehr lukrativ genug war und die schlechte Infrastruktur die Wirtschaft noch weiter belastet hat. Erst viele Jahre später zog das Bergdorf durch attraktive Umbaumaßnahmen jede Menge Touristen an. Es gab kaum noch Einheimische.

Pietros Vater ist eine Kriegswaise und von Beruf studierter Chemiker. Die Mutter ist gelernte Krankenschwester, in Mailand allerdings ist sie in einem sozialen Brennpunkt als Familienhelferin tätig.

Pietro, Einzelkind, wurde Anfang der 1970er Jahre in Mailand geboren.

Pietros Eltern fühlten sich in dem stickigen Mailand nicht wirklich wohl und vermissten ihre Berge in den Dolomiten. Daher verbrachte die Kleinfamilie die Ferien mehrmals im Jahr in dem kleinen Bergdorf Grana.

Pietros Vater war Einzelgänger. Er fühlte sich wohl in der Natur, war immer froh, wenn er aus der staubigen Großstadt flüchten konnte. Zusammen mit seinem Sohn ging er in die Berge wandern und klettern.

Das Bergdorf Grana wirkte wie eine Geisterstadt, verlassen und einsam, viele heruntergekommene Häuser,  nur noch wenige Menschen sind geblieben.

Pietro lernte in Grana einen gleichaltrigen Jungen kennen, Bruno Guglielmina, der auf der Weide Kühe hütete. Es war schwierig, sich Bruno zu nähern. Bruno war wie Pietros Vater Einzelgänger und schien keine Freunde zu haben. Bruno hatte mit der Schule abgebrochen ... nun ist es Pietros Mutter, die es schafft, dass die beiden Jungen freundschaftlich zueinanderfinden. Allmählich fasst Bruno Vertrauen zu Pietro und dessen Familie …

Durch Pietros Mutter Einfluss gelingt es ihr, dass Bruno wieder zurück in die Schule geht und wenigstens einen Hauptschulabschluss erwirbt … Später setzte sich die Mutter noch dafür ein, Bruno mit nach Mailand zu nehmen, damit er dort mit den höheren Schulen fortsetzen konnte… Das stieß nicht nur bei Pietro auf Widerstand, denn welches Recht hatten seine Eltern, Bruno von seinem Zuhause wegzuholen, wenn er doch glücklich war mit seinem Leben als Kuhhirten …

Je älter Pietro wurde, desto kritischer ging er mit der Lebensweise seines Vaters um. Ständig hinterfragte er den Charakter und das Verhalten seines Vaters. Nach der Schule verließ Pietro das Elternhaus, denn er ertrug seinen Vater nicht mehr, der aus seiner Sicht nur auf seine Bedürfnisse bedacht war und völlig unprofessionell wirkte, wenn es sich z. B. um das Bergsteigen drehte. Jahre später erfuhr Pietro, dass sein Vater Bruno mit in die Berge genommen hatte ...

Pietro geht seinen eigenen Weg, bricht mit der Uni ab, um sich auf eine längere Asienreise zu begeben, um die Himalaja zu besichtigen. Zehn Jahre lang hatte er keinen Kontakt mehr zu dem Vater. Als sein Vater schließlich früh an Herzversagen stirbt, reist Pietro wieder in die Heimat zurück. Durch seine Mutter erfährt er, dass der Vater immer um seinen Sohn besorgt war, und der Stress auf der Arbeit zermürbte ihn letztendlich. Um den Tod des Vaters besser verarbeiten zu können, begibt sich Pietro in den Bergen in seine Fussstapfen ... 

Nach zehn Jahren entsteht ein neuer Kontakt zu Bruno, der inzwischen eine Maurerlehre absolviert hatte, und dennoch die Absicht verfolgt, sich beruflich zu verändern, um einen ganz anderen Bereich zu betreten, der ihm trotzdem vertraut war.

Die beiden Jungen, die zu Männern herangereift waren, kommen sich nach so vielen Jahren über den verstorbenen Freund und Vater wieder näher und setzen ihre außergewöhnliche Freundschaft fort.

Pietro tritt ein Erbe seines Vaters an. In den Bergen hatte er ein Grundstück mit einer alten Ruine geerbt, auf dem für ihn ein Haus hätte entstehen sollen. Das hat der Vater aber nicht mehr geschafft, und nun fühlt sich Bruno verantwortlich, dieses Haus für Pietro zu bauen. Pietro schließt sich Bruno an, packt am Hausbau mit an und so kommen sich die beiden Freunde durch dieses gemeisame Handwerk näher.

Ein intensiver Austausch über den verstorbenen Vater findet statt. Durch Brunos Schilderungen bekam Pietro ein ganz anderes Bild von seinem Vater. Während Pietro seinen Vater abgewertet hatte, wertete Bruno ihn wieder auf. Negative Charaktereigenschaften kamen von Pietro, die positiven von Bruno. Bruno schien Pietros Vater besser zu kennen als der eigene Sohn, vielleicht, weil sie beide seelisch verwandt waren; aber auch, weil sie in ihrer Biografie Gemeinsamkeiten aufzuweisen hatten …

Bruno setzte seine beruflichen Pläne um, und machte sich zusammen mit seiner Partnerin, die er durch Pietro kennengelernt hatte, in der Landwirtschaft selbstständig. Leider scheiterten seine Pläne, obwohl er und seine Partnerin Lara über Jahre Tag und Nacht geschuftet haben. Lara verlässt ihn mit der gemeinsamen Tochter, weil sie ihn für dieses entsetzliche Desaster verantwortlich macht. Bruno war gezwungen, Insolvenz anzumelden … Bruno war nicht bereit, rechtzeitig alle Zelte abzubrechen, um woanders einen Neustart zu wagen. Bruno hat diesen beruflichen Verlust und den Verlust seiner kleinen Familie nur sehr schwer verkraftet und zog sich als Konsequenz noch weiter von der Außenwelt zurück. Auch mit Pietro war er nicht bereit, über seinen inneren Schmerz zu sprechen, und zog wie ein Eremit ein Leben in den Bergen vor. 

Zum Schreibkonzept
Zwei schöne Zitate sind auf den ersten beiden Seiten namhafter Autoren zu lesen. Auf den folgenden Seiten findet eine kleine Einleitung zu der Familiengeschichte Guasti statt. Der Roman ist auf 245 Seiten in drei Teilen und zwölf Kapiteln gegliedert.
Es ist ein ruhiger und dadurch auch ein sehr angenehmer Schreibstil.

Cover und Buchtitel  
Ich wollte gerne das italienische Cover oben mitabbilden, war aber nicht nötig, da der deutsche Verlag das italienische Cover übernommen hat.
Der Buchtitel: Zu Beginn des Romans dachte ich erst, dass diese acht Berge die Berge der Dolomiten darstellen würden. Ich habe mich aber geirrt. Sie führen in eine völlig andere Richtung, raus aus Veneto, raus aus Italien, raus aus Europa.

Meine Identifikationsfigur
Bruno war meine Identitfikationsfigur.

Was ist die Antwort auf Ferrantes Werk?
Die Antwort ist für mich eine politische. Als Pietro nach zehn Jahren wieder nach Italien zurückgekehrt war, war er verwundert, wie sehr seine Heimat heruntergewirtschaftet wurde. Er hat sein Land fast nicht wiedererkannt. Selbst sein studierter Vater bangte zu Lebezeiten um seine Anstellung als Chemiker in einer Fabrik, die über zehntausend Arbeiter beschäftigt hat, und auch sie alle besorgt um ihren Arbeitsplatz waren. Politische Unruhen und viele Arbeiterstreiks dominierten das Land. Nun war nicht nur der Süden Italiens von der krankhaften Wirtschaftskrise befallen, auch im Norden schlug sie wie ein Krebsgeschwür um sich ... 

Und im Fall Bruno? Ja, Bruno hat es schulisch nicht weit gebracht, und wenn Pietros Mutter nicht gewesen wäre, hätte er nicht einmal einen Schulabschluss geschafft. Solche schulischen Lebensläufe findet man auch bei uns in Deutschland, aber sie sind sowohl hier als auch dort nicht die Regel. Schulschwänzer findet man überall auf der Welt.
Biografisch gesehen besaß Bruno zwar einen Vater, aber dieser Vater war kaum für seinen Sohn da. Der Vater verließ eines Tages Sohn und Frau, weil die Frau ihn nicht mehr etrug. Brunos Mutter war eine wortkarge Person, die sich tatkräftig um ihre Wirtschaft gekümmert hat. Über Probleme wurde in dieser Familie nicht gesprochen, man ertrug sie größtenteils jeder für sich stillschweigend ... Pietros Vater war für Bruno ein Vatersubstitut. Der Junge hat in diesem Mann alles gefunden, was er an seinem Vater vermisst hatte. Deshalb betrachte ich Bruno symbolisch als eine Halbwaise. Sicher hatte Bruno seinen Freund Pietro um seinen Vater bewundert, auch, dass er in der Welt herumkam. Das hätte Bruno auch haben können, zusammen mit Pietro, aber er traute sich das nicht zu. Es fehlte ihm an Selbstbewusstsein, und so hielt er an alt Vertrautem fest ... Und gescheitert ist Bruno am Ende trotzdem. Wer es besser wusste, suchte mutig woanders einen Weg, um die Existenz zu bestreiten, wie es Pietros Familie und viele andere Menschen getan haben.

Zur aktuellen politischen Lage
Die italienische Regierung schafft es durch tiefverwurzelte Mafiöse Strukturen nicht, aus der Korruption rauszukommen. Lange, lange Zeit waren auch in Italien die Südländer*innen die Bösen, nun muss auch der Norden zusehen, wo er bleibt. Die Regierung spaltet Nord und Süd. Der Norden Italiens muss höhere Steuern bezahlen, um den Süden zu unterstützen. Das Geld kommt aber nicht an, wo es eigentlich hin soll ...  Außerdem verlassen viele Akademiker*innen derzeit das Land, denn selbst mit einem abgeschlossenen Studium ist es schwer für einen jungen Menschen, in Italien Fuß zu fassen ... 

Die Mieten sind überteuert, und die Gehälter reichen nicht aus, sich ein eigenes Leben aufzubauen, und so bleiben viele junge Leute erstmal bei den Eltern wohnen, bis sie heiraten oder andere Lösungen, die ins Ausland führen, gefunden haben. Hier in Deutschland heißt es, die erwachsenen Kinder würden im Hotel Mama wohnen bleiben; ein Vorurteil, das nicht mehr aus den Köpfen zu bekommen ist. Ohne den Familienverband ist ein Leben in Italien nach wie vor sehr schwer aufrechtzuerhalten. Das Vertrauen zu den Politkern ist schon längst ausgespielt. Aber sie wählen diese Politiker, weil es keine anderen gibt. Viele verweigern die Wahl, gehen nicht mal mehr an die Wahlurne.

Bruno und seine Partnerin haben gerackert und geschuftet und sind trotzdem auf keinen grünen Zweig gekommen.

Derzeit haben die Italiener*innen rechts gewählt, mit der Hoffnung, dass die neue Regierung Arbeitsplätze schafft. Aber tief in ihnen drin, wissen sie, dass sich nichts an dieser maroden Regierung ändern wird, auch wenn die Gesichter im Parlament durch Versagen der Regierung ständig zu wechseln scheinen.

Elena Ferrante hat die Politik in ihrem Buch völlig ausgeblendet. Ich habe nur den ersten Band gelesen, den ich dermaßen einseitig und üerfrachtet mit destruktiven Bildern und Szenen erlebt habe, dass ich die Folgebände boykottieren musste. Ich habe mich gewundert, dass viele studierte Leser*innen hierzulande dieses Werk so hochgelobt haben. Mir fehlt dafür jegliches Verständnis. Ein Buch voller Klischees, voller Vorurteile; weshalb finden es die Leser*innen in Deutschland gut? Würde man über Deutschland ein dermaßen einseitiges destruktives Bild abwerfen, da würde jeder Deutsche protestieren. Warum also so unkritisch Ferrante lesen? Ich kenne in Italien so viele Italiener*innen, die ehrlich und hart ihren Unterhalt bestreiten müssen und sie trotz der Armut ihre Kinder dennoch auf die höhere Schule schicken. Es sind viele freundliche und kinderliebende Menschen, die es nicht verdient haben, in der Literatur so abgedroschen zu werden. Keiner würde das eigene Kind aus dem Fenster werfen, wie Ferrante versucht, es uns glaubhaft zu machen. Böse Menschen gibt es überall auf der Welt, aber überall auf der Welt gibt es auch gute. Die Guten musste ich bei Ferrante mit der Lupe suchen und konnte auch mit der Lupe nicht wirklich fündig werden.

Und wenn man nun beide Werke miteinander vergleicht, Cognettis und Ferrantes Werk, so hat Cognetti schlechter in der Punktevergabe abgeschnitten als Ferrante. Das gibt mir zu denken ... 

Mein Fazit
Ich selbst fand das Buch richtig toll und freue mich dadurch, Paolo Cognetti kennengelernt zu haben; ein italienscher Autor, der sich wunderbar für mein Italien-Leseprojekt eignet. Ein Buch ohne Klischees und völlig frei von Stereotypen. Ich bin dankbar, dass Cognetti dieses Buch geschrieben hat.

Ich freue mich sehr, dass das Bloggerportal mir Cognettis Debüt Sofia zum Rezensieren hat zukommen lassen.

Externe Rezension zum Buch
Meine Freundin Sabine St. hat auf Buchrevier eine interessante Rezension von Tobias Nazemi gefunden, die ich unbedingt mit meinem Blog verlinken möchte. Auf der Seite ist auch ein interessantes Interview mit Cognettis Acht Berge. Der Rezensent nimmt auch Stellung zu Ferrantes Werk.


Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover, Titel und Klappentext stimmen mit dem Inhalt überein

12 von 12 Punkten

________________
Manchmal muss man einen Schritt zurückgehen,
um vorwärts zu kommen.
(Paolo Cognetti)

Gelesene Bücher 2018: 52
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86



Donnerstag, 13. September 2018

Primo Levi / Ist das ein Mensch?- Die Altempause (1)

Mein Lesemotto: Es wird Zeit für einen Perspektivenwechsel.
Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist ein buntes Italien; in Land und Leute. Bunt nicht nur in seiner Schwäche, bunt auch in seiner Stärke. 

Se questo è un uomo
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Mich hat das Buch Ist das ein Mensch? sehr angesprochen. Ich fand hier eine differenzierte Herangehensweise vor, sich mit so einer tristen Thematik wie Antisemitismus und Judenverfolgung innerhalb von Europa auseinanderzusetzen. Viele Gedanken habe ich in mir widergespiegelt gesehen. Gedanken, die man nicht nur im Austausch mit dem Antisemitismus entwickeln kann, sondern auch überall dort, wo es um ein besseres Verständnis einer Gesellschaft bzw. eines Individuums, einer Nation geht, ohne sie in Klischees oder in Stereotypen zu packen.

Viel Neues habe ich in dem Buch über den Nationalsozialismus und den Antisemitismus nicht erfahren, aber mir war es wichtig herauszufinden, was Levi als ein italienischer Jude denkt und wie sein Innenleben durch diese massive, rassistische existentielle Bedrohung ausgestattet war … Primo Levi befasste sich mit Gedanken, ob das Leben im KZ noch lebenswert sei? Dazu meine Fragen; was ging in ihm vor, hat der Wahnsinn ihm den Glauben an die Menschheit genommen? Hat er gelernt, alle Deutschen zu verachten? Er fragte sich immer wieder, ob der Mensch von Natur aus böse, brutal und/oder egoistisch sei?

Hier geht es zum Klappentext und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Primo Levi wurde 1919 in Turin geboren und starb 1987 mit 68 Jahren. Als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist, war er ein junger Mensch. Gerade mal zwanzig Jahre alt. Er kämpfte in den Bergen als Partisan und durch einen Verrat wurde er 1944 zusammen mit 24 anderen italienischen Juden nach Modena gebracht und von dort mit dem Güterwaggon nach Auschwitz deportiert. Im Lager verloren die Juden alle ihre Namen und erhielten eine KZ-Nummer auf dem linken Arm geritzt. Primo Levi war mit 24 Jahren studierter Chemiker. Im Lager verlor er alle seine beruflichen Privilegien und sämtliche Menschenrechte. Die Juden wurden wie Parasiten behandelt. Den Status Mensch haben sie abgesprochen bekommen. Levi wurde recht spät von den Nazis erfasst und ihm war es wichtig, das Lager zu überleben, um später den nachfolgenden Generationen Zeugnis abzulegen. Er tat alles, um innerlich eine Form der Zivilisation zu bewahren. Deutsche Kriminelle wurden aus den Gefängnissen entlassen und wurden im KZ als Wärter auf die Juden losgelassen. 
Kein „arischer“ Häftling war ohne Amt, mag es noch so bescheiden gewesen sein. Daß sie stur und bestialisch waren, ist nur natürlich, wenn man bedenkt, daß es sich meistens um gewöhnliche Verbrecher handelte, die man eigens aus den deutschen Gefängnissen geholt hatte, um sie als Aufseher in den Judenlagern zu verwenden; und mir scheint, daß diese Auswahl sehr sorgfältig getroffen wurde, denn ich kann einfach weder glauben, daß diese schmutzigen menschlichen Subjekte, die wir da am Werk sahen, den Durchschnitt der Deutschen im Allgemeinen, noch den deutschen Gefängnisinsassen darstellten. Schwieriger ist es, eine Erklärung dafür zu finden, wieso in Auschwitz die politischen Prominenten, Deutsche, Polen und Russen, mit den gewöhnlichen Verbrechern an Brutalität wetteiferten. (2018, 114)

Ich persönlich finde es erstaunlich, wie Menschen im Lager die innere Würde bewahrt haben, ohne sich zu Menschenhassern entpuppt zu haben. Levi spricht von einem italienischen Insassen namens Lorenzo, der bis zum Schluss bestrebt geblieben ist, ein guter Mensch zu sein, um sich und anderen Gutes zu tun, soweit dies im Lager möglich war. Lorenzo half Levi, nicht zu vergessen, dass auch er ein Mensch sei.

Primo Levis Wunsch hat sich erfüllt, indem er das KZ überlebt hat. Als er wieder zurück nach Italien gekehrt ist, hat er angefangen, über seine Erlebnisse zu schreiben, und reichte sein Manuskript an die großen italienischen Verlage ein. Leider wurde das Manuskript abgelehnt.1947 wurde es von einem kleinen Verlag angenommen, doch dieser löste sich recht bald auf, und so geriet das Buch in Vergessenheit.1958 wurde in Italien das Buch wieder zum Leben erweckt. Es boomte und wurde in sieben Sprachen übersetzt. Aus dem Buch wurde an den Schulen Italiens eine Schullektüre.1961 kam es durch den S. Fischerverlag auf den deutschen Buchmarkt. Viele junge, deutsche Leser nahmen Kontakt mit Levi auf, um seine Erlebnisse aufzuarbeiten. Die jungen Menschen in Deutschland waren erschüttert, zu welchen Taten viele Eltern/Großeltern/Landsleute fähig waren. 

Das Schreibkonzept
Die einen sagen, dass das Buch eine Autobiografie ist, für mich allerdings ist es ein Erlebnisbericht über die Gefangenschaft im deutschen KZ. Primo Levi berichtet in einem Dokumentationsstil. Sehr objektiv und sehr sachlich, aber trotzdem gut lesbar. In dem Buch sind zwei Bände abgedruckt. Den zweiten Band Atempause werde ich mir später vornehmen, da ich mit dieser Thematik eine Pause benötige.

Ist das ein Mensch? - Die AtempauseCover und Buchtitel? 
Für mich ist beides sehr ansprechend, vor allem der Buchtitel hat gut gepasst. Oben habe ich das italienische Cover eingefügt.

Meine Identifikationsfigur
Keine

Meine Meinung
Ich habe während des Lesens richtig gebangt. Die Nöte der Menschen im Lager fand ich grausam. Der Hunger setzte vielen zu, die Menschen bekamen kaum Brot zu essen, stattdessen erhielten sie überwiegend wässrige Suppen vorgesetzt, obwohl sie harte Arbeiten verrichten mussten. Ich selbst bekam einen Heißhunger auf Brot, so sehr habe ich mit den Lagerinsassen mitgelitten. Ich hatte kein Brot im Haus, und musste auf ein anderes Lebensmittel ausweichen.

Ansonsten fand ich das Buch wirklich gutgeschrieben. Trotz dieser schweren Thematik ist der Autor sachlich geblieben und hat es geschafft, nicht alle Deutschen über einen Kamm zu scheren.

Im Gespräch mit dem deutschen Verlag äußerte er sich über die Deutschen:
Ich habe das deutsche Volk nie gehasst, und hätte ich es auch getan, so wäre ich jetzt, nachdem ich Sie kennengelernt habe, davon geheilt. Ich begreife nicht, ich ertrage nicht, daß man einen Menschen nicht nach dem beurteilt, was er ist, sondern nach der Gruppe, der er zufällig angehört. (217)

Da Primo Levi zu meinem Leseprojekt Italien zählt, freue ich mich, wenn ich gewisse Gedanken von mir auch in seinem Buch wiederentdeckt habe und zeigt mir, dass ich damit nicht alleine bin. Deshalb schließe ich mich Levi an. Auch ich begreife es nicht, wenn im Umkehrschluss viele deutsche Menschen und Menschen anderer Nationen die Italiener nach Schema F beurteilen, und damit immer wider den dümmlichen Italiener herauskehren lassen. Die vielen Klischees und die Stereotypen sind so alt wie ich selbst, wenn nicht sogar noch älter. Man kann das irgendwann nicht mehr hören, wenn man in Deutschland mit diesen Klischees groß werden musste und ich dadurch eine Abneigung entwickelt habe, selbst als Kind italienischer Eltern Italienerin sein zu wollen.

Mein Fazit?
Ich freue mich sehr, Primo Levi als einen italienischen Autor kennengelernt zu haben, und bin total motiviert, mein Leseprojekt zu Italien weiter fortzusetzen. Ein italienischer Autor, der in keine Schublade passt, und der meine Gedanken im Umgang damit bestätigt hat.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Literaturwissenschaftliches, gut recherchiertes Buch
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
12 von 12 Punkten.

 ______________
Gelesene Bücher 2018: 38
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86



Mittwoch, 3. Mai 2017

Cristina De Stefano / Oriana Fallaci (1)

Ein Frauenleben

Lesen mit Tina 

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Eine starke Frau, diese Oriana Fallaci, die zusammen mit ihrer Herkunftsfamilie sämtliche Klischees sprengt. Äußerlich wie auch innerlich …

Was sie alles als Frau in einer männerdominierten Welt geleistet hat, ist wirklich enorm.

Oriana, deren Namen aus Marcel Prousts Figuren stammt. Wer die sieben Proust-Bände gelesen hat, ist eine Madame Oriane de Guermantes mehr als vertraut ... Wie kamen die beiden Eheleute Edoardo und Tosca Fallaci zu Proust? Zuerst etwas zur Herkunft. Oriana kam im Juni 1929 zu Welt. Geboren wurde sie in Florenz und sie war das erste Kind von drei weiteren Kindern. Die Eltern waren sehr arme Leute. Aber sie besaßen recht viele Bücher. Die Wohnung besaß wenige materielle Güter, aber sie war reich an Büchern. Obwohl die Fallacis sehr wenig Geld zur Verfügung hatten, kauften sie sich die Bücher, wenn auch nur auf Raten. Sie waren sehr belesen. Ganz untypisch für eine arme Familie. Die Bücher hatten für sie einen hohen ideellen Wert. Dies allein hatte mir schon sehr imponiert, dass Bücher einer armen Familie so bedeutend sein können. Die Fallacis betrachteten die Bücher als das Tor zur Welt, und so wuchs Oriana auch mit dieser Bücherliebe auf. Das Tor zur Welt passt exakt zu Orianas Leben, die im erwachsenen Alter überall auf der Welt journalistisch tätig wurde. Ihre journalistische Ausbildung absolvierte sie in ihrem geliebten Land Amerika, das Land, das ihre zweite Heimat wurde.

Orianas Kindheit und Jugend ist nicht ganz einfach verlaufen. Sie musste als die Erstgeborene den Jungen in der Familie ersetzen. Der politisch aktive Vater Edoardo nahm seine Tochter überall mit, denn …
… auch als Mädchen kann man dienen. (…) Um zu vermeiden, dass seine Frau sich allzu sehr ängstigt, teilt Edoardo seiner Frau Tosca nicht mit, wann er seine Tochter auf Einsatz schickt. (2016, 19).

Oriana wuchs in einer sehr kalten Welt auf. Sie war gerade mal zehn Jahre alt, als der Faschismus in Italien ausgebrochen ist. Der Vater mischte sich als Antifaschist unter die Partisanen und kämpfte im Untergrund für Freiheit und Gerechtigkeit. Oriana bekam vom Vater den Auftrag, antifaschistische Flugblätter zu verteilen, d. h. sie war schon recht früh politisch aktiv … Früh trat sie in die Fußstapfen ihres Vaters.

Oriana hat viel Elend gesehen und hat dadurch auch den Glauben an Gott recht früh verloren. Sie bezeichnete sich selbst als eine Atheistin, als ihr eine Ungerechtigkeit mit den Nonnen widerfahren ist: 
Die Nonnen im Kloster sagen zu ihr, sie solle alles als Geschenk für den Heiland am Altar zurücklassen. >>Kurz darauf bin ich heimlich noch einmal in die Kirche zurück, um nachzusehen, ob das Jesuskind alles aufgegessen hatte, und das Essen war weg. Doch nicht einmal die Bananenschale lag mehr da, und auch das Silberpapier der Schokolade war verschwunden. Mir kam der Verdacht. Ich verließ die Kirche, ging einen Flur entlang, und da saß auf einem Mäuerchen die Nonne, die meine Banane aß. (39f)

Oriana geht nach der Schule auf die Universität und versucht es mit einem Medizinstudium, das sie aber wegen der Armut selbst finanzieren muss. Das wurde ihr mit der Zeit zu anstrengend, und sie brach das Studium wieder ab und engagierte sich hauptsächlich journalistisch …

Oriana hatte eigentlich den Wunsch, Schriftstellerin zu werden, da sie aber nicht wusste, wie sie sich diesen Wunsch erfüllen konnte, blieb sie weiterhin journalistisch tätig. Ihre Art zu schreiben ist  nach deutscher Art sehr ungewöhnlich. Sie pflegte einen polemischen Ton, aber immer mit Herz und Verstand bei der Sache. Vorurteile konnte sie schnell ablegen, sobald sie sich als falsch erwiesen haben. Oriana wurde als Kriegsberichterstatterin viel in Krisengebieten eingesetzt, wie z. B. im Iran, Indien, Türkei, Südamerika etc. Mit der Zeit genoss sie international große Beliebtheit … Sie hatte Erfolg, sie verschaffte sich auch bei den Patriarchen hohen Respekt. Für mich erwies sich Oriana Fallaci nicht wirklich als Italienerin, für mich war sie ein Weltmensch …

Und dennoch, durch Orianas genossene Erziehung zahlte sie auch einen hohen Preis. Sie lebte nicht wirklich ihre Rolle als Frau, und war auch nicht beziehungsfähig, und erlebte mehrere Zusammenbrüche was die Partnerwahl betraf. Dadurch blieb auch ihr Kinderwunsch unerfüllt. Selbst durch den Beruf, umgeben von vielen Menschen, war sie bis zu ihrem Tod eine sehr einsame Frau.

Weiteres ist dem Buch zu entnehmen …

Mein Fazit zu dem Buch?

Meine Lesepartnerin Tina und ich hatten dieselben Empfindungen. Wir sind beide der Ansicht, dass Oriana Fallaci eine sehr bedeutende Persönlichkeit war, die viel Achtung verdient hat, und trotzdem war sie uns auch zu anstrengend, dass wir uns eine Freundschaft mit ihr schwer vorstellen konnten.

Und wir haben uns die Frage gestellt, was aus ihr geworden wäre, wenn vor ihr ein Junge geboren wäre? Sicher, sie bekäme eine klassische Mädchenerziehung. Aber Oriana hatte noch drei Schwestern, die alle eine gute Schulausbildung erhielten, und sich wahrscheinlich die ältere Schwester zum Vorbild nahmen, da auch sie politisch aktiv und journalistisch tätig wurden. Den Eltern war es also schon wichtig, auch den anderen Mädchen trotz der Armut eine hohe schulische Ausbildung zukommen zu lassen.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Zwölf von zwölf Punkten.

 Weitere Informationen zu dem Buch

Ich möchte mich recht herzlich beim Bloggerportal, btb-Verlag, für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar bedanken.

·         Taschenbuch: 352 Seiten, 12,00 €
·         Verlag: btb Verlag (12. September 2016)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 3442714168

Und hier geht es auf die Buchbesprechung von Tina.

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Es ist ganz gleich, ob man reich oder arm ist,
alle hungern nach etwas.
(Per J. Andersson)

Gelesene Bücher 2017: 17
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86




Mittwoch, 21. Oktober 2015

Francesca Marciano / Stimmen aus Glas (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich fühle mich so richtig hin- und hergerissen von dem Buch. Man hat es hier mit mehreren Nationalitäten zu tun, die teilweise recht klischeehaft beschrieben werden …
Das führt bei mir gleich zu einem Abzug von zwei vollen Punkten …

Andererseits ist der Schreibstil recht interessant und fantasievoll. Es sind nur die Gedanken der italienischen Autorin, die mir oftmals zu einfach sind und mir nicht behagen. Ist mir zu wenig reflektiert, was die Herkunft von Menschen betrifft, die sie in Rassen einteilt. Man weiß doch heute, dass der Mensch mehr als nur das Produkt seiner Erbmasse ist und dass der Begriff Rasse heutzutage, zumindest hier in Deutschland, in der Zuteilung von Menschengruppen kaum noch Verwendung findet, wegen der diskriminierenden und stereotypen Art, mit denen man Menschen dummerweise festlegt. Ich würde eher von verschiedenen Ethnien sprechen ... Kulturverständnis wie z.B. die Aneignung einer Muttersprache, u.a.m. ist keinesfalls genetisch bestimmt und angeboren. Das Erlernen dieser kann über leibliche Eltern geschehen, oder aber auch über Adoptiveltern einer anderen Muttersprache.


Das wird nicht per se über die Genetik gesteuert, nur weil jemand eine dunkle Hautfarbe hat, oder helle Haare, oder einen fremdländischen Namen trägt ... Auch die Identität ist keine genetische Angelegenheit.

Oftmals sind mir die Dialoge zu sentimental, gerade zum Ende hin, das mir auch nicht gefallen hat. Stichwort: Schuldgefühle.
Auch die Reise nach Afghanistan fand ich trotz der absolvierten Kurse in London wenig professionell und wenig vorbereitet. Stichwort: Plastikgeld/Bargeld.

Gefallen hat mir, wie die Autorin über Afghanistan schreibt. Sehr authentisch  geschrieben. Es ist ihr gelungen, die Problematik der afghanischen Frauen aufzugreifen, über deren Unfreiheiten zu sprechen.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: die zurückhaltende, in einer Lebenskrise befangene Maria Galante aus Mailand und die extrovertierte Imogen Glass aus London. Ein gefährlicher Auftrag führt die beiden zusammen nach Afghanistan: Sie sollen zwangsverheiratete Frauen in den abgelegenen Dörfern porträtieren. Der Weg dorthin führt durch ein zerrissenes Land, das den Militärs, Söldnern und Waffenhändlern wehrlos ausgeliefert scheint.
Vieles, was sie über Afghanistan schreibt, vor allem über die Lebensweise der jungen und alten Frauen, ist mir nicht neu. Alle Länder der westlichen Welt setzen sich damit auseinander. Aber auch die Stellung, die afghanische Männer über westliche Frauen beziehen, fand ich äußerst interessant. Beide Seiten haben allerdings der anderen Kultur gegenüber eine etwas arrogante Haltung gezeigt.

Maria habe ich als eine recht empathische Fotojournalistin erlebt, die sich wunderbar mit ihrer Kollegin Imo ergänzt hat.
Maria verhielt sich den Frauen gegenüber eher vorsichtig und zurückhaltend, Imo war eher fordernd. Beide Energien empfand ich ergänzend sehr wichtig …

Und hier ein sehr schönes Zitat. Zeigt ein wenig die Kaltblütigkeit der JournalistInnen: Maria berichtet über ihre Erfahrungen mit Menschen anderer Kulturkreise, die alle recht problembehaftet sind.
Ich mache Reportagen über albanische Immigranten, Aidsopfer in Afrika, Transsexuelle in Indien, streikende Fabrikarbeiter, aber es waren alles traurige Geschichten, bei denen ich mir wie ein Dieb vorkam, der den Kummer der Leute ausnutzt und wie ein Geier die richtige Sekunde abwartet, um auf den Auslöser zu drücken. 
Diese Hemmnis, den Fotoapparat wie ein Schießgewehr zu nutzen, macht sich über das ganze Buch breit.

Maria und Imo begeben sich in die Gesellschaft mehrerer afghanischer Frauen, die sich sehr ängstlich gegenüber den beiden westlichen Damen zeigen. Imo führt das Interview und Maria sollte Fotos machen, ohne die Frauen darauf vorzubereiten. Das ist aus meiner Sicht typischer Journalismus. Als Maria die Kamera aus ihrer Handtasche zückt, lehnen sich die Frauen dagegen auf. Sie haben Angst, in die Zeitung zu kommen und von ihren Ehemännern anschließend verprügelt zu werden.

Es geht um ein junges Mädchen, das mit einem Mann, der dreimal so alt war wie es selbst, zwangsverheiratet werden sollte. Das Mädchen zeigte Widerstand, wollte sich mit dem Feuer suizidieren und liegt nun mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus. Die Mutter des Mädchens gibt an, dass ein Mädchen sich erst den Wünschen des Vaters und später den Wünschen des Ehemannes zu fügen habe. Ansonsten drohe Mord.

Imo und Maria besuchen das Mädchen im Krankenhaus. Die Frauen dort waren aufgebracht, als Maria versuchte, das Mädchen zu fotografieren. Man habe nicht das Recht, sich in ein Krankenhaus zu schleichen, um ein Foto zu machen, ohne um Erlaubnis zu fragen.

Beide Frauen, Maria und Imo, stehen unter Druck. Es müssen Fotos her, egal wie. Das allein verlangt schon die Presse, für die sie arbeiten.
Ich war wütend auf Imo, noch mehr als auf mich. Gewiss, aus rein professioneller Sicht hatte ich gleich bei meinem ersten Einsatz versagt-und das tat weh; andererseits aber verdross es mich, dass sie so tat, als wüsste sie nicht, welch ein räuberischer Akt es gewesen wäre, ein Foto von der Mutter des Mädchens zu machen.In früheren Zeiten war ich mit anderen Journalisten schon in ähnliche Schwierigkeiten geraten. Ich hatte mich mit meiner Kamera in schmerzliche Situationen drängen müssen-in Krankenhäusern, Elendsquartieren, in Slums-und hatte draufgehalten, ungeachtet der Wut derer, die ich ablichtete. Hatte ich mich damals schon so gefühlt, als richtete ich eine Waffe auf sie, so konnte ich es diesmal nicht ertragen, wieder der rücksichtslose Scharfschütze zu sein. 
Teilweise respektlos verliefen diese journalistischen Sitzungen ab, die Ärger verursachten. Maria schlägt vor:
Es ist besser, wir stellen uns erst vor. Wir können nicht einfach so reinmarschiert kommen und Fotos machen. Das ist ja wie ein Überfall, (…). Außerdem hat das arme Mädchen wirklich gelitten, glaube ich.
Sie versuchen den Frauen klar zu machen, wie wichtig es sei, weltweit auf ihre Problematik aufmerksam zu machen, damit sie eines Tages mehr Freiheit erlangen können.

Diesen Gedanken finde ich ein wenig naiv, denn die Westlerinnen kommen, um den Frauen zu sagen, wie man ein richtiges Leben führt.

Ich halte nun noch zwei Gedanken fest, und zwar, wie die Männer, in diesem Fall ist es Malik, der stellvertretend für alle Männer seines Landes spricht, westliche Frauen in ihrer Lebensweise einschätzen:
Malik sagt, dass die Westler glauben, ihre Kultur sei der unseren überlegen, weil die Frauen keinen Schleier zu tragen brauchen. Er sagt, was ihr Westler nicht versteht, ist, dass muslimische Frauen sich freiwillig verschleiern, weil bei uns das Äußere einer Frau nichts mit ihrem Platz in der Gesellschaft zu tun haben sollte. (…) In unserer Kultur hat eine Frau, je mehr sie altert, desto mehr Weisheit, Autorität und Macht in der Familie. Im Westen dagegen ist eine Frau, die ihre Schönheit verloren hat, wertlos und hat keinen Platz in der Gesellschaft. (…) Bei euch liegt der Wert einer Frau nur in ihrer Erscheinung, bei uns dagegen liegt er eher in ihrer Seele und in ihrem Herzen. Dem Koran zufolge gehört die Schönheit einer Frau allein ihrem Ehemann, und sie ist ein Geschenk, das nur für seine Augen bestimmt ist, während sie im Westen wie eine Ware ist, etwas, mit dem man handelt und das man ausstellt wie auf dem Markt.  
Imos Reaktion:
Also, erstens, wir haben die Wahl und es ist nicht wahr, dass im Westen der Wert einer Frau nur in ihrer Schönheit liegt, (…). Unsere Frauen haben einen Platz in der Regierung, lehren an Hochschulen, sind Richterinnen, Staatsanwältinnen. (…) Und sie sind Reporterinnen, wie Maria und ich. Mit anderen Worten, Frauen tragen dazu bei, die Geschicke des Landes zu lenken. 
Das Argument, die Schönheit verheirateter Frauen gehöre nur ihren Männern, klingt in meinen Ohren recht hohl. Was ist mit hübschen Männern? Na, nun her mit den Schleiern auch für die Männer ...


Mein Fazit?

Die Frauen in diesen streng patriarchalisch geführten Ländern müssen psychosozial, politisch, familiär und gesellschaftlich … eine Menge bewältigen. Nicht jede Frau hat die Kraft, sich dem zu widersetzen, mit dem sie ihr Leben existentiell gefährden würde. Frauen aus der westlichen Welt können nur froh sein, dass es ihnen in ihrer relativ autonomen Lebensweise verhältnismäßig gut geht. Es gab genug Vorreiterinnen, die nicht nur für sich selbst, sondern hauptsächlich auch für die Frauen der Nachwelt den Kampf um mehr Frauenrechte geführt haben. Ich fordere mehr Respekt auf beiden Seiten. Ich fordere für die muslimischen Frauen, die nicht die Kraft haben, sich für ein besseres System einzusetzen, mehr Toleranz und Empathie und man sollte aufhören, sie mit der Arroganz der westlichen Welt noch weiter seelisch zu kränken und sie symbolisch zu verstoßen. Wir sollten aufhören, sie als rückständig zu betrachten. Sie haben es in ihrer von Männern dominierten Welt schon schwer genug. Ich fordere eine Solidarität mit allen Frauen, mit oder ohne Kopftuch, denn die westliche Frau  kann gar nicht wissen, wie sie sich selbst, wäre sie in ein solches System hineingeboren, verhalten würde.

Solidarität mit allen muslimischen Männern, die ebenso unter diesem Regime leiden, und die versuchen, es ihren Frauen wenigstens innerhalb ihrer gegründeten Familie leicht zu machen. Und deshalb bin ich gegen Verallgemeinerungen. 

Was wissen wir schon von den inneren Erfahrungen muslimischer Frauen und deren Männern? Was wissen wir überhaupt von den inneren Erfahrungen eines Menschen, der uns gegenüber steht?

Das Buch erhält von mir sieben von zehn Punkten.

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Auch nach der schwärzesten Nacht geht immer wieder die Sonne auf.
(Agatha Christie)

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