Posts mit dem Label Historischer Roman werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Historischer Roman werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 23. Januar 2022

Anthony Doerr / Wolkenkuckucksland (1)

 Fremder, wer immer du bist, öffne dies, und siehe, was dich erstaunen wird.
(Ein Schatz aus Anthony Doerrs Geschichte, ein Schatz, der magisch bis in die Hände der Leser*innen reicht.)

Ein sehr außergewöhnliches und mitreißendes Buch. Ein sehr wichtiges Buch. Ein Buch, das aus verschiedenen Zeitebenen zusammensetzt ist; Vergangenheit, Gegenwart, nahe Zukunft und fernere Zukunft.

Zeitweise, in einer bestimmten Geschichte, habe ich das Buch ein kleinwenig als dystopisch erlebt ... Zu Recht, denn wenn man sich die Gegenwart mit der katastrophalen Umweltproblematik anschaut, bekommt man tatsächlich das flaue Gefühl, dass der Mensch sich selber abschafft, weshalb sich eine Crew von Menschen in ein Raumschiff begibt, um nach weiteren bewohnbaren Planeten zu suchen.

Warum? Um andere Planeten auch noch auszulöschen?

Die Menschen sollte man am besten als Ausrotter verstehen, (...). Jeden Lebensraum, in den wir vordringen, zerstören wir, wir haben die ganze Erde überrannt, und als Nächstes rotten wir uns selbst aus. (365)
Haben wir nicht jetzt die Möglichkeit, unseren Planeten zu retten, statt nach neuen zu suchen?

Aber nein, nicht ganz so trist, denn das Buch ist gleichzeitig auch ein Wachrüttler und ein Hoffnungsträger zugleich, so wie ich eigentlich Anthony Doerr als Literat und Buchautor auch kenne. Es liegt an uns, ob wir seine Warnungen ernst nehmen möchten oder ob wir sie mit dem Schließen der letzten Buchseite einfach nur ignorieren.

Ein wunderbares, opulentes Kunstwerk, das man zwei Mal hintereinander lesen müsste.

Hier geht es zum Klappentext, Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten. Hierbei ist ein interessantes Video persönlich vom Autor zu seinem neusten Werk hinzugefügt.

Die Handlung
Die Handlung besteht aus vier Erzählsträngen. Wolkenkuckucksland ist eine mythologische Geschichte, die einst von Antonius Diogenes verfasst wurde. Der Protagonist dieser Erzählung ist der arme und unzufriedene Schäfer Aethon, der von einem besseren Leben träumt. Seine einfache Existenz empfindet er als monoton und eintönig, und sehnt sich nach Höherem, bis er sich auf eine Reise begibt, als er von dem Wolkenkuckucksland hört, in welches er unbedingt hinfliegen möchte. Aber wie, wo er doch keine Flügel besitzt, um dahin zu gelangen? Denn zu vergleichen wäre diese Zauberstadt mit dem Land von Arkadien, wo Milch und Honig in den Mund fließen. Aethon erzählt:

Als ich das Tor des Dorfes passierte, kam mich an einem garstigen alten Weib auf einem Baumstumpf vorbei. Die alte sagte: >> Wohin, Dummkopf, es wird bald dunkel, es ist keine Zeit, um draußen auf der Straße unterwegs zu sein <<. Ich sagte: >> Ich habe mich mein ganzes Leben danach gesehnt, mehr zu sehen, meine Augen mit neuen Dingen zu füllen, aus dieser vermatschten, stinkenden Stadt herauszukommen, weg von den ewig blökenden Schafen. Ich reise nach Thessalien, dem Land der Magie, um einen Zauberer zu finden, der mich in einen Vogel verwandelt, einen starken Adler oder eine kluge, kräftige Eule. << 

Sie lachte und sagte: >> Aethon, du Trottel, alle wissen, dass du nicht bis fünf zählen kannst, und doch glaubst du, die Wellen des Meeres zählen zu können. Du wirst deine Augen nie mit etwas anderem als deine eigene Nase füllen. <<

>> Sei still, Alte, sagte ich, >> denn ich habe von einer Stadt in den Wolken gehört, wo dir die Drosseln gebraten in den Mund fliegen, Wein in Rinnen entlang der Straßen fließt und immer ein warmer Wind weht. Sobald ich ein mutiger Adler oder eine kluge, kräftige Eule geworden bin, werde ich dort hinfliegen. << (2021, 64)

Spätes Mittelalter
In Konstantinopel bekommen wir es mit zwei Waisenkindern zu tun, die bei den Nonnen untergebracht sind. Anna und Maria, zwei Schwestern, müssen im Kloster harte Handarbeit verrichten, um ihren Unterhalt zu verdienen, während die kleine Anna sich eher zu Büchern hingezogen fühlt. Auf eigene Faust sucht sie sich heimlich einen Lehrer, Licinius, der ihr die Schriftsprache beibringen soll. Sie ist für die Handarbeit einfach nicht geschaffen. … Später rettet Anna mit einem Freund namens Himerius in einer alten Grotte auf einem Berg uralte, teilweise vergammelte Bücher, die von italienischen Sammlern abgekauft und restauriert werden …

Parallel dazu lernt man den Zeitgenossen Omeir kennen, der mit einer Lippen-Gaumenspalte auf die Welt kommt, und er dank seines Großvaters am Leben bleiben durfte, und nicht in einem Fluss ertränkt wurde.

Omeir ist ein ganz besonderer Mensch. Fein- und sanftmütig von seinem Wesen her. Er ist nicht nur menschen-, sondern auch tierliebend und setzt sich für misshandelte Ochsen ein.  Omeir führt insgesamt ein recht bescheidenes und ein demutvolles Leben. Er weiß sein Leben als ein Mensch mit einem entstellten Gesicht mehr als zu schätzen …

Viele politische Unruhen finden über mehrere Jahre durch den Sultan statt, der Konstantinopel erobern wollte; Kriege, Schlachten, ganze Dörfer werden ausgeplündert.

Anna begibt sich auf die Flucht, und ihre Fluchtwege führen sie zu Omeir …

Die Gegenwart findet 2020 in einer Bibliothek in Lakeport statt. Eine Schulklasse studiert darin unter der Leitung von Zeno Nini das Theaterstück von Wolkenkuckucksland ein ... In dieser Bibliothek findet ein Amoklauf eines jungen Attentäters namens Seymour statt, der eine schwere Kindheit zu verwinden hatte. Aber auch die Kindheit von Zeno Nini, mittlerweile über 80 Jahre alt, ist von Leid und Verlust geprägt ...

Die nahe und weite Zukunft führt uns bis ins Jahr 2064 nach Argos.
Die Hauptfigur ist hier die junge Konstanze, die in Argos aufwächst. Eine computergesteuerte Lebenswelt im All auf der Suche nach einem bewohnbaren Planeten findet man hier vor. Selbst die Mahlzeiten sind computergeneriert. Konstanze reist virtuell und dreidimensional durch den Atlas und lernt darin den Planeten Erde kennen, der ihr lediglich von ihrem Vater überliefert wurde. In Argos bricht ein Virus aus, Omikron, und die Mannschaft wird auf unbestimmte Zeit in Quarantäne verfrachtet.

(Na, woher kennen wir das wohl????)

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Es waren jede Menge Szenen.
Ich höre noch die Schläge, die die kleine Anna von der Ordensschwester auf ihren Fußsohlen bezogen hat. Sie sind dermaßen massiv, dass ich sie regelrecht spüren konnte, als würden sich mir die Schwielen nur allein vom Lesen unter meinen Füßen bilden.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Auch recht viele. Dass Omeirs Leben gerettet wurde. Dass Anna ihren eigenen Weg hat finden können. Dass Zenos Vater alles getan hat, trotz seiner Mittellosigkeit, für seinen Jungen bestmöglich zu sorgen ... 

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Es waren fast alle Figuren. Am meisten aber Omeir,  Anna und Zeno. Aber auch Zenos Vater, der schicksalsbedingt nur kurz in der Geschichte wirkte, stellte sich für mich rückblickend nicht einfach nur als eine Nebenfigur heraus. Auch er hat mich innerlich beeindruckt. Sie alle zusammen entpuppten sich für mich zu wertvollen Lichtträgern.

Welche Figur war mir antipathisch?
Die Ordensschwestern, die die Kinder mit heftigen Prügelstrafen gezüchtigt haben. Auch wenn dieser Erziehungsstil zur damaligen Schwarzen Pädagogik gezählt hat, reicht es mir als Entschuldigung nicht aus und bleibt für mich ein unverzeihliches und nicht wieder gut zu machendes Vergehen. Die Verletzungen heilen äußerlich, innerlich bilden sich unsichtbare Narben.
 
Zu jeder Zeit gab es Menschen, die Kinder gut und liebevoll behandelt haben. Unabhängig davon, wie die Gesetzeslage bestimmt war. Man benötigt kein Gesetz, das einem eine gute Behandlung an schwachen Mitgeschöpfen vorschreibt. Man spürt auch ohne Gesetze, wenn wehrlosen Wesen Schmerz zugefügt wird. Und aus diesem Grund war mir der junge Omeir so sympathisch, der sich gegen die Tiergewalt eingesetzt hat. Dasselbe hätten die Ordensschwestern, erwachsene Frauen, die Recht von Unrecht unterscheiden hätten sollen, auch tun können. Gerade die Ordensschwestern, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als die Liebe in ihren Gebeten zu zelebrieren. Welch eine Diskrepanz und welch eine abgebrühte Heuchelei.

Für Menschenrechte, Tierrechte und Kinderrechte benötigt man eigentlich keine vorgegebene Legitimation. Man spürt den Schmerz des Anderen, wenn man emotional nicht abgestumpft ist, auch ohne juristische Vorschriften. Und das bezieht sich nicht nur auf das Mittelalter. Auch heute gibt es Gesetze, die bestimmte schutzlose Mitseelen nicht ausreichend vor Gewalt schützen ... Wir sind heute auch keine besseren Menschen, wenn ich an die vielenTierqualen denke. 

Meine Identifikationsfigur
Anna.

Cover und Buchtitel
Das Cover fand ich persönlich sehr ansprechend, passend 
zum Buchtitel, der uns in die griechische Mythologie führt und damit auch ins Reich der Lüfte, in denen sich diese symbolträchtige Zauberstadt befinden soll. Darüber und über Aethon könnte ich eine ganze Interpretation samt einer Charakteranalyse schreiben. 

Zum Schreibkonzept
Die o. g. Geschichten sind auf satte 532 Seiten in 22 Kapiteln gepackt. Jede Menge Kopf- und Seelennnahrung bekommt man hier serviert.

Auf der ersten Seite ist eine Widmung an alle Bibliotheken gewidmet. An die vorhanden Bibliotheken und an die, die noch kommen werden. Dass die Bücher niemals aussterben, habe ich durch die Geschichten als einen Appell empfunden.

Auf der folgenden Seite gibt es einen kleinen Vorspann, der sich auf die mythologische Erzählung dieses Buchtitels bezieht.

Weiter geht es mit dem Prolog, der an die Nichte des Autors gewidmet ist.
Daraufhin folgen die o. g. Geschichten, die in einem wechselnden Sprechkanon ausgestattet sind.

Das Buch endet mit der üblichen Danksagung.

Meine Meinung
Meine Meinung fülle ich mit wichtigen Zitaten, damit ich sie nachlesend immer griffbereit habe, wenn ich sie als Zitate noch anderweitig benötigen sollte.

Trotz der großen, von Menschen verursachten Umweltproblematik, hat mich dieses Buch verzaubert. So viele schöne Geschichten, wenn auch sehr traurige, aber ein Mix verschiedener Variationen, ein Mix zwischen Realität und Fiktion, die durch Aethons surreale Lebensgeschichte bis tief ins Magische triften. Sich vorzustellen, wie Aethon sich in einen Vogel verwandeln möchte, um seinem Alltag zu entrinnen, um in eine bessere Welt fliegen zu können, hat mich tief berührt. Aber das sind typische griechische Mythologien, die mich immer wieder von Neuem faszinieren.

Das gesamte Buch stimmt dermaßen nachdenklich, dass man damit nicht wirklich abschließen kann. Zerstörung des eigenen Planeten durch Umweltprobleme; eigentlich sind uns ja diese Probleme bewusst. Aber warum machen wir trotzdem weiter wie bisher? Betroffen hat mich gestimmt, als die junge Generation auf die Zerstörung unseres Planeten die ältere Generationen mit folgenden Worten damit konfrontiert:

Ihr sterbt an Altersschwäche, wir an der Zerstörung des Planeten. (Leider habe ich mir die Seitenzahl nicht gemerkt.)
Diesen Satz muss man mal auf sich wirken lassen.

Drei weitere Zitate mit Seitenzahl:

Ein Beispiel einer zehnten Klasse, die im Englisch-Unterricht die Aufgabe bekam, etwas Lustiges aus den Sommerferien aufzuschreiben. Daraufhin die Reaktion der Schüler*innen mit einer leisen Protestreaktion:
Sie sagten, wir sollten was Lustiges aufschreiben, was wir im Sommer gemacht haben, um unsere Grammatik-Muskeln zu dehnen, also okay, Mrs Tweedy, in diesem Sommer haben Wissenschaftler verkündet, dass die Menschen in den letzten 40 Jahren 60 Prozent der wildlebenden Säugetiere, Fische und Vögel auf dieser Welt getötet haben. Ist das lustig? Und in den letzten 30 Jahren haben wir 95 Prozent des ältesten, dicksten Eises in der Arktis zum Wegschmelzen gebracht. Wenn wir alles Eis in Grönland zum Schmelzen bringen, nur das in Grönland, nicht vom Nordpol, nicht das in Alaska, nur das in Grönland, (...), wissen Sie, was dann passiert? Dann steigen die Meeresspiegel um 7 Meter an. Damit gehen Miami, New York, London und Shanghai unter, dann können Sie mit ihren Enkeln aufs Schiff, Mrs Tweedy, und Sie sagen, wollt ihr was essen, und die so, Grandma, kuck mal da, unter Wasser, da ist die Freiheitsstatue, da ist Big Ben, da sind die toten Leute. Ist das lustig? Dehne ich da meine Grammatik-Muskeln? (303)

Zwei Seiten später eine weitere Szene junger Menschen:

Wir haben bereits die meisten Tiere umgebracht, die Ozeane aufgeheizt, der CO2-Gehalt der Atmosphäre ist der höchste seit achthunderttausend Jahren. Selbst wenn wir sofort alles stoppten, so als würden wir heute Mittag alle sterben - keine Autos mehr, kein Militär, keine Hamburger - wird es noch über Jahrhunderte wärmer werden. Wenn wir alle mal fünfundzwanzig sind? Dann wird sich der CO2-Gehalt noch mal verdoppelt haben, was heißere Feuer bedeutet, schwerere Stürme, schwere Überschwemmungen. Getreide zum Beispiel wird in zehn Jahren nicht mehr so gut wachsen. 25 Prozent von dem, was Kühe und Hühner fressen; ist, ratet mal, was? Getreide. (...) und was noch, wenn mehr CO2 in der Luft ist? Dann können Menschen nicht mehr so gut denken. Wenn wir also 25 sind, werden viel mehr Menschen hungern, Angst haben und auf der Flucht aus brennenden oder überfluteten Städten im Verkehr feststecken. Glaubt ihr, dass wir dann da in unseren Autos die Klimaprobleme lösen? Oder wenn wir aufeinander einschlagen, einander ausplündern, vergewaltigen und gegenseitig auffressen? (305) 

Weiter geht es mit jungen Umweltaktivisten, die sich protestierend an die Reichen wenden:

Sie nennen uns militant und Terroristen. Sie sagen, dass Wandel Zeit braucht. Aber wir haben keine Zeit mehr. Wir können nicht länger in einer weltweiten Kultur leben, in der es den Reichen erlaubt ist, zu glauben, dass ihre Lebensweise ohne Folgen ist, dass sie benutzen können, was immer sie wollen, und wegwerfen können, was immer sie wollen, dass sie gegen Katastrophen immun sind. Ich weiß, es ist nicht einfach, sich die Augen öffnen zu lassen, es macht keinen Spaß. (365)

Mich stimmt nachdenklich, dass selbst Eltern, viele von ihnen ihr Verhalten nicht hinterfragen. Menschen, die Kinder haben. Sie fahren ihre Kinder z. B. überall hin mit dem Auto etc. und ich mich frage, was sie ihren Kindern für Werte vorleben? Haben sie keine Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder und die ihrer Kindeskinder?

Aber der Autor maßregelt nicht. Ich wiederhole nochmals. Das Buch ist auch ein Licht- und Hoffnungsträger. Es liegt ganz alleine an uns, ob wir diese nutzen.

Jede Menge Weisheit ist zudem noch in den Geschichten zu finden.

Und das Besondere: Das Buch ist in allen Geschichten ein Buch über Bücher. Wer dieses Genre liebt, ist damit auch wunderbar beraten.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch die Anfrage des Verlages an mich. Und dafür danke ich sehr, denn von mir aus hätte ich mich in meiner Zeitnot an diesen dicken Schmöker selbst nicht herangewagt. Danke an den C.H.Beck-Verlag für diesen so genialen Stoß.

Wie kam der Autor zu seinem Stoff?
Anthony Doerr hat aus Literatur Literatur gemacht.

Am meisten verdankt dieses Buch eine mehr als tausendachthundert Jahre alten Roman, den es nicht länger gibt: Wunderdinge jenseits von Thule von Antonius Diogenes. Nur ein paar Papyrusfragmente sind von ihm geblieben, aber eine im neunten Jahrhundert vom byzantinischen Patriarchen Photios I. verfasste Zusammenfassung und zeigt, dass es sich bei den Wunderdingen um eine wahrhafte Globetrotter-Erzählung handelte, voller miteinander verbundener Sub-Plots und aufgeteilt in vierundzwanzig Bücher. Offenbar arbeitete Diogenes` Roman mit gelehrten wie fiktionalen Quellen, vermischte bestehende Genres, spielte mit Realität und Fiktionalität und enthielt womöglich die erste literarische Reise in den Weltraum. (559)

Mein Fazit
Ein sehr empfehlenswertes Buch, das neugierig stimmt und Lust macht, immer wieder in die verschiedene Welten einzutauchen, die, trotz der großen Zeitabstände, alle miteinander verwoben sind. Die Verknüpfungen zueinander soll allerdings jeder selbst herausfinden.

Ein Buch, das mich sowohl mental als auch seelisch nicht wieder losgelassen hat. Ich hätte eigentlich noch etwas Zeit verstreichen lassen sollen, um diese Besprechung zu schreiben, weil ich noch nicht ganz durch bin mit der innerlichen Verarbeitung der vielen tiefen, tiefen, tiefen Eindrücke. Wäre dies nun ein TV-Film gewesen, dann hätte ich ihn mir sicher drei mal hintereinander angeschaut, wie ich das häufig mit guten Filmen mache. Und ein paar Tage später nochmals schauen. 

Fremder, wer immer du bist, öffne dies, und siehe, was dich erstaunen wird.

Herzlichen Dank nochmals an den C.H.Beck-Verlag für das geniale Rezensionsexemplar. ich bin total beglückt. 

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Zwei Zusatzpunkte wegen des Lesehighlights.

14 von 12 Punkten

 _______________

Gelesene Bücher 2022: 01
Gelesene Bücher 2021: 17
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich höre:
Benedict Wells: Hard Land
Ovid - Metamorphosen
Rachel Joyce: Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie
Paolo Coelho: Schutzengel

_________________________

Partnerschaft zwischen
Wissenschaft und Intuition!

Lesen mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.

Mitgefühl für alle Mitseelen / Mitgeschöpfe
Deine Probleme könnten meine Probleme sein,
und meine Probleme könnten Deine Probleme sein.
Mein Schmerz, Dein Schmerz
Dein Schmerz, mein Schmerz.
Wir sind alle fühlende Wesen.
(Den Tieren eine Stimme geben)

Klopf an dein Herz, denn dort sitzt 
das Genie!
(Alfred de Musset)

Auch Expertenwissen ist subjektiv!
(Tom Andersen / Psychiater und Syst. Therapeut)


Sonntag, 24. Oktober 2021

Olli Jalonen / Die Himmelskugel (1)

Stock Foto
Ich habe es nun endlich geschafft, das Buch auszulesen, das 
durch meinen Zeitmangel auch seine zwei Anläufe benötigt hat.

Mich hat es leider nicht so sehr berührt und werde meine Buchbesprechung etwas kürzer aufziehen. Es gibt viele Szenen, die ich erwähnen sollte, aber mir fehlt einfach die Muse dazu. Ich entschuldige mich schon im Vorfeld dafür. Ich möchte im Geiste nämlich schreibend nicht nochmals alles zurück spulen müssen, um diese dadurch neu aufleben zu lassen.

Trotzdem wurde das Buch von mir mit sehr gut votiert, wie unten begründend zu entnehmen ist.

Man könnte diesen Buchband auch wegen der Wissenslust eines kleinen Jungen und aber auch wegen der Abenteuer als Jugendbuch empfehlen, denn es hat jede Menge gesellschaftliche, politische, pädagogische und religiöse Anreize zu bieten, und junge Menschen die Anregung bekommen würden, in dieser Rubrik der Epoche weiter zu forschen. Für diese Zielgruppe könnte es ein absolut gelungenes Buch sein.  

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten. 

Die Handlung
Die Handlung beginnt im Jahre 1679. Die Hauptfigur dieses historischen Romans ist die achtjährige Halbwaise Angus Totholz, Sohn eines englischen Siedlers. (Ich stolpere über den Namen Totholz).

Ursprünglich stammt die Familie Totholz aus London, doch durch einen Großbrand hat sie auf der Insel St. Helena Land zum Bebauen erhalten.  

Die Insel St. Helena ist lt. Wikipedia durch den vulkanischen Ursprung eine Insel im Südatlantik, und zählt seit 1834, also nach der epochalen Zeit dieses Romans, zum Britischen Überseegebiet, wo allerdings schon im 17. Jahrhundert Sklaven verschiedener Hautfarben aus unterschiedlichen Kontinenten, hauptsächlich Afrika und Indien, gehalten und für die Feldarbeit beschäftigt wurden.

Angus wurde erst vier Jahre nach der Übersiedlung auf der Insel geboren. Der Vater kam auf einem Schiff durch ein tragisches Unglück ums Leben. Angus war zu klein, als er seinen Vater verlor. Sein bewusstes Erinnerungsvermögen ist hiervon geradezu ausgelöscht.

Die nun (noch) fünfköpfige Familie Totholz besteht zudem aus zwei Generationen. Angus´ Mutter Catherine, 33 Jahre alt, Ann, Angus´ Schwester, 16 Jahre alt und ihre kleinen Zwillinge Adam und Thomas. Ann lebt mit ihren Kindern im Haus ihrer Herkunftsfamilie.

Angus hat mit seiner Mutter Glück, denn sie ist es, die ihm eine Schulbildung im Einzelunterricht ermöglicht, um ihn von der schweren Feldarbeit zu entsagen, der sie selbst tagtäglich ausgesetzt ist. Sie schickt ihn mit acht Jahren in die Lehre zum Pastor Martin Bursch.

Der Pastor nimmt den Jungen als gelehrigen Schüler bei sich auf, entwickelt mit der Zeit aber auch Interesse für die Mutter, sodass die Familie Totholz in die Nähe des Pastors zieht, nicht ganz im Sinne der Inselbewohner.

Angus ist gescheit und wissbegierig. Er entwickelt viel sinnstiftende Freude im Schriftspracherwerb:

Einen Brief schreiben ist Zeichnen, aber auch sprechen. Wenn man lesen lernt, lernt man, lautloses sprechen zuhören. Wenn man schreiben kann, kann man sprechen, ohne dass man etwas laut sagt. (36)

Lesen ist nicht bloß lesen. Lesen ist verstehen, zuerst so, dass man die Buchstaben versteht, dann so, dass man die Wörter versteht, dann so, dass man die Wörter zusammen versteht, und nach den Wörtern und Sätzen (ein Satz besteht aus Wörtern hintereinander, aber so, dass sie zusammen einen Sinn ergeben) dann noch, dass man die Dinge versteht. Das ist ein sehr langer Weg. (26)
Der Pastor, ein strenggläubiger Mensch seiner Zeit, aber nicht fatalistisch, schreibt ein Pamphlet, das sein Leben gefährdet. Denn fatalistisch ist das Inselvolk, das noch nicht bereit für ein modernes Denken im Rahmen des Glaubens ist, aber auch der regierende König, der die Unwissenheit der Menschen missbraucht, verfolgt den Pastor politisch und bringt damit die gesamte Familie Totholz in Gefahr ...

Zerstörung ist keine Bestimmung, sondern eine Dummheit des Menschen, die Dummheit entströmt der Gedankenlosigkeit und der Willkür falscher Vorschriften. (70)
Doch Angus lernt noch mehr, er lernt auch Sterne zu zählen und zu lesen. Er entpuppt sich zu einem Sternenzähler. Durch den Pastor kommt er mit dem Astrophysiker Mister Halley in Berührung, die gemeinsam zu dritt einen Berg zu Studienzwecken besteigen.

Herr Halley ist ein gescheiter und gebildeter Mann, der mir alles Neue, was ich weiß, beigebracht hat. Im Können und Wissen gibt es Neues und Altes, das Neue sammelt sich über dem Alten an. Die Gelehrten stehen auf den Schultern der jeweils anderen (...). So ist man von Anfang an weiter oben im Wissen, weil man von den Schultern der Vorigen weiter in die Ferne sieht. (14)
Angus, der allerdings vom Pastor streng nach der Bibel instruiert wird, hat es in seiner Wahrheitssuche zwischen seinen beiden Lehrern nicht leicht, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Dass der Herr Pastor und Herr Halley unterschiedlicher Meinung über die Sonne und die Erde sind, ist überhaupt nicht angenehm. Ich kann nicht wissen, wer von beiden recht hat, oder ob es so ist, dass sie beide recht haben, aber der eine mehr als der andere. (177)

Mr. Halley verlässt wieder die Insel, und kehrt nach London zu seiner Frau und zu seinem Observatorium zurück.

Zwei Jahre später wird Angus mit einem Empfehlungsschreiben des Pastors als schwarzer Passagier ganz allein auf ein Schiff nach London gehievt, damit Angus seine Studien bei Mr. Halley weiter fortsetzten konnte.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Es waren sehr viele Szenen, die ich wieder verdrängt habe. Sehr gewaltträchtig, puh., sodass ich sie nicht mehr zu nennen weiß. Die Menschen besaßen, obwohl das Mittelalter längst überschritten war, dennoch rohe und rigide Umgangsformen. Zudem war das England ähnlich geprägt wie das spätere viktorianische Zeitalter; Armut, sittenstrenge Lehrmeister, schwarze Pädagogik und ungerechte Verteilung von Gütern ...

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Gefallen hat mir, dass Mr. Halley den Jungen in London zu seinem Gehilfen gemacht hat, obwohl seine Frau, die den Jungen Yamsbengel nennt, Kind einer unanständigen Mutter, dagegen war.

Es ist gut, dass du hier niemanden hast. Ich werde dich zum Gehilfen meines Vertrauens und zum Schreiber der Resultate ausbilden. Auch wenn du von weit her kommst und aus einer unbedeutenden Familie stammst, habe ich festgestellt, dass du das Zeug dazu hast. So wächst etwas aus dem trocknen Samen, zuerst das Keimblatt, dann der Schützling, dann gar eine Eiche in York. Ich bin sicher, keine falsche Entscheidung zu treffen. (463)

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Keine. Doch achtenswert, dass Angus Mutter bedacht war, seinem Sohn Bildung zukommen zu lassen, um seine Zukunftschancen aufzustocken.

Welche Figur war mir antipathisch?
Die Seefahrer und die Anonymen Attentäter der Inselbewohner und die Frau des Astrophysikers.

Meine Identifikationsfigur
Keine. Scheint an der Zeit zu liegen. 

Cover und Buchtitel 
Beides sehr stimmig und ansprechend.

Zum Schreibkonzept
Auf den 550 Seiten ist der Roman in fünf  Teilen gegliedert und ist aus der Ichperspektive des Kindes Angus erzählt. Der Schreibstil ist dadurch einfach und flüssig.

Meine Meinung
Das Buch hat mich wegen seiner Langatmigkeit nicht besonders ergriffen. Vielleicht durch diese Langatmigkeit habe ich es als wenig Neugier erweckend erlebt. Vieles zieht sich zu sehr in die Länge, hätte deutlich abgekürzt werden, und die Wissenschaft war nicht wirklich bühnenhaft dargestellt. Das hat aber sicher an dem kleinen Jungen gelegen, der die Welt eben nur aus seiner kindlichen Perspektive hat beschreiben können. Wobei ich alles interessant fand, wie Angus mit seiner großen Weisheit aus seiner Sicht versucht hat, die Welt und die Menschen zu erklären. 

Erst wenn man etwas weiß,  kann man wissen, dass man etwas nicht gewusst hat. (324)

 Angus versucht in seinen beiden Lehrern seine Mitte von beiden zu finden.

So ähnlich wie er im Verstand, aber so ähnlich wie der Herr Pastor in der Güte will ich werden. Sie sind meine Väter, und zum Glück sind sie Freunde, die sich gegenseitig schätzen. (159)

Eine sehr kluge Sichtweise, denn Güte und Verstand müssen nicht gegeneinander ausgeschlossen werden. Zu dieser Erkenntnis müssen manch andere Erwachsene erst noch kommen.

Doch zurück zu meiner Kritik: Vielleicht habe ich auch den Fehler gemacht, den Autor mit Jostein Gaarder zu vergleichen. Ich hatte nach dem Klappentext gedacht, ich bekomme es hier mit einem zweiten Gaarder, Sophies Welt, zu tun. Ein absoluter Bildungsroman für junge Menschen, der aber auch von den Erwachsenen gerne und zahlreich gelesen wurde, um das eigene Wissen damit nochmals aufzufrischen. 

Einmal wurde hier Isaak Newton erwähnt, der aus seiner wissenschaftlichen Neugier heraus versucht haben soll, in eine Lehmfigur Leben hineinzuhauchen.

Aber sonst stand doch eher der Alltagskampf der Menschen im Brennpunkt. Auf einzelnen Seiten fand man ein paar schöne, tiefer gehende wissenschaftliche Gedanken, aber sonst eher Alltag. Ich bin keine Leserin historischer Romane dieser Epoche. Es ist also nicht die Schuld des Autors. Die ersten Teile haben mich richtig genervt, der Pastor, der ständig von Gott und der Bibel spricht, mit solchen Thesen habe ich längst abgeschlossen. Passt einfach nicht mehr in mein Weltbild, zu wissen, was richtig und falsch ist, und dies gemessen an den Lehrsätzen einer Bibel, die doch sehr moralisch, mit gehobenem Zeigefinger, aufgezogen ist. Finde ich für einen modernen Menschen, der 350 Jahre später in die Welt hineingeboren wurde, nicht mehr angemessen. 

Aber für die damalige Zeit war das normal, das ist mir durchaus bewusst, nur muss ich mich damit innerlich nicht mehr befassen. Bin durch mit diesen Themen aus dieser Zeit. Ich meide dadurch sogar absichtlich Literatur aus dem Mittelalter, die es wie Sand am Meer zu lesen gibt.
Ich bin mit den Themen dieser Epochen durch Schule, Studium und Selbsterkenntnis eben reichlich gesättigt.

Mein Fazit
Trotzdem zu empfehlen für Menschen, die gerne Historische Romane lesen. Super spannend, wie der kleine, wissbegierige Junge sich Bildung aneignet, in einer Zeit, in der Bildung nur reichen Kindern vorbehalten war. Diese Lektüre müsste man zwecks besseren Ansporns  jungen Menschen als eine Motivationsträgerin zu lesen geben, die vom Lernen eher träge gestimmt sind. Zu vermitteln, dass in der Geschichte Bildung nur ein Privileg der hohen Klassen war, ist dieses Buch für die Jugend super geeignet.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch das Angebot des Verlages. Ich habe mich durch das Cover und den Klappentext gerufen gefühlt.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
1 Punkte: Authentizität der Geschichte / Langatmig 
2 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur, Gliederung vorhanden 
2 Punkt: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

11 von 12 Punkten

Herzlichen Dank an den Mare - Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar. 

__________________________

Gelesene Bücher 2021: 12
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich höre: Ralf Hungerland: Seelenreisende - Mediale Reisen in die Welt der Seele
Marcel Proust: Der geimnisvolle Briefeschreiber
Leo Tolstoi: Wo Liebe ist, da ist auch Gott
Clemens Cuby: Gelebte Reinkarnation
Rachel Joyce: Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie
Eva Marquez: Kontaktaufnahme mit der kosmischen Familie

_________________________

Partnerschaft zwischen
Wissenschaft und Intuition!

Lesen mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.

Mitgefühl für alle Mitseelen / Mitgeschöpfe
Deine Probleme könnten meine Probleme sein,
und meine Probleme könnten Deine Probleme sein.
Mein Schmerz, Dein Schmerz
Dein Schmerz, mein Schmerz.
Wir sind alle fühlende Wesen.
(Den Tieren eine Stimme geben)

Klopf an dein Herz, denn dort sitzt 
das Genie!
(Alfred de Musset)

Auch Expertenwissen ist subjektiv!
(Tom Andersen / Psychiater und Syst. Therapeut)


Montag, 29. März 2021

Paula Stern / Tage des Aufbruchs - Die Kaffeedynastie (1)

Bildquelle: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Das Beste zuerst; das Buch ist groß im Herzen, was mir gut gefallen hat. Es ist gefüllt mit einer tiefen Empathie, die in großen Nöten zur wahren Menschlichkeit führt. Sowohl in der Politik, in der Freundschaft, als auch in der eigenen Verwandtschaft der Protagonistin, ohne dass es kitschig oder sentimental gewirkt hat.

Was mir nicht gefallen hat; mir war das Buch in den Zwischenetappen zu seicht. Es hat signifikant an Tiefe in den Charakteren gemangelt, sodass es definitiv zu glatt auf mich gewirkt hat, wie ich weiter unten noch besser ausführen werde. Außerdem hatte ich mir etwas ganz anderes unter dem Titel vorgestellt, und so wurden meine Erwartungen leider nicht erfüllt. Es mit dem Werk von Thomas Mann Die Buddenbrooks zu vergleichen, war ein großer Fehler. Die Kaffeedynastie ist ein reiner Unterhaltungsroman. Nicht mehr und nicht weniger.

Achtung Spoiler: Wer nicht zu viele Details erfahren möchte, so verweise ich, sich auf die Handlung zu begrenzen, auf die ersten Leseeindrücke, oder auf die allgemeine Buchbewertung am Ende dieser Besprechung.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die noch im Elternhaus lebende Hauptfigur Corinne Ahrensberg, Ende zwanzig, ist eine junge Frau, die genau weiß, was sie möchte. Als ihr Vater Günther wegen eines schweren Schlaganfalls nicht mehr rehabilitiert werden kann und zu einem Pflegefall wird, möchte die Mutter Esther, dass Corinne zusammen mit ihrem acht Jahre älteren Bruder Alexander in das Familienunternehmen Ahrensberg einsteigt. Dadurch bekommt sie zusammen mit Alexander die Verantwortung für die Firma übertragen. Corinne hat große ideelle Pläne, möchte in die Fußstapfen ihres längst verstorbenen Großvaters Eberhard Ahrensberg treten, der Neuheiten und Wagnisse liebte, während Alexander es eher in die Fußstapfen des Vaters treibt. Ihm geht es mehr um hohe Verkaufszahlen als um Qualität, und dass Altbewährtes bleibt, wie es ist. Corinne dagegen möchte mehr Qualität und Individualität in die Kaffeebranche einbringen und setzt auf Neuerungen wie z. B. die Entwicklung und die Einführung von Fairtrade - Kaffee. Dadurch gibt es Reibereien mit dem despektierlichen Verhalten ihres Bruders, dem sie sich zu widersetzen versucht und sie sich hilfesuchend externen Rat eines anderen Fachkollegen einholt, nachdem ihr von Taktgefühl getragenes Einlenken regelrecht versagt hatte.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Besonders gut hat mir gefallen, dass es Corinne mit viel Liebe und Geduld gelungen ist, ihrem Bruder sämtliche Fassaden von ihm abzulösen, sodass er die Chance bekam, sich in seiner Eigenart zu outen
.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Eigentlich gab es gar keine Szene, die mir nicht gefallen hat, ironisch ausgedrückt. Die Protagonist*innen waren alle so verständnisvoll und gefügig. Viele Probleme wurden recht schnell gelöst, da die Figuren alles machten, was sich die zartfühlige Corinne von ihnen gewünscht hat.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Großvater Eberhard Ahrensberg. Der zartbesaitete Eberhard wurde schon im Alter von 15 / 16 Jahren widerwillig in den Krieg einberufen. Widerstand zu leisten machte keinen Sinn, da sein Vater Anhänger der NSDAP war. Eberhard hatte eine sehr weiche und gutmütige Seele, sodass er überhaupt nicht auf Kämpfen und Morden ausgelegt war.

Wenn es nach ihm ginge, würde er lieber Bücher verschlingen, statt Marschieren und Kämpfen zu üben. (40)

Man nimmt in der Retrospektive an Eberhards Träumen teil, wie der Samen einer eigenen Kaffeeplantage damit im jugendlichen Alter schon gestreut wurde.

Berichte und Geschichten von fernen Ländern faszinierte ihn. Die Farben, Geräusche und Gerüche, die darin beschrieben wurden, lösten eine Sehnsucht nach der weiten Welt in Eberhardt aus. Gerne würde er nach Südamerika reisen, um einmal eine Kaffeeplantage zu sehen. Eines Tages würde er auch genau das tun. Das hatte er sich fest vorgenommen. (...) Seit er vor Jahren in einer Zeitschrift etwas über Kaffeeanbau gelesen hatte, faszinierte ihn das. So war er auch auf sein Sehnsuchtsziel Südamerika gekommen. Mit großer Sorgfalt sammelte er seit damals alles, was er zu Kaffee an Informationen erhaschen konnte. (40f)

Welche Figur war mir antipathisch?
Eigentlich keine. Oder wen soll ich hier auswählen? Eberhards Vater, der der NSDAP verschrien war und damit viele Menschenleben gefordert hat, mitunter auch sein eigenes? Doch ihn habe ich nicht als eine Figur erlebt, sondern nur als eine Beschreibung, an der ein paar Fakten und ein paar Charakterzüge festgemacht wurden.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel  

Ich habe mir etwas ganz Anderes darunter vorgestellt. Als eine Kaffeedynastie im Untertitel habe ich das Buch nicht verstanden. Alles dreht sich um Corinne, während der Einfluss der letzten beiden Generationen viel zu kurz kam, auch wenn der Großvater Eberhard, der eigentliche Gründer dieser Dynastie, in der Lebensgeschichte zwar auftaucht, aber dennoch nur eine Nebenthematik bleibt. Im Fokus stehen eher die Lebensgeschichten der einzelnen Figuren, während die Gründung eines Großunternehmens nur peripher die Handlung widerspiegelt. Hier ging es mehr um das Nazideutschland, und um Eberhards Vater, der sich dem Geist der Nazis angeschlossen hatte. Die Kaffeedynastie kam hier überhaupt nicht zur Geltung. Es hätte, um dem Titel gerecht werden zu können, die Entwicklung eines Familienunternehmens, das aus drei Generationen besteht, mehr in den Vordergrund gerückt werden müssen, und das Nazideutschland, aus dem der Großvater kommt, eher an den Rand. Doch hier werden zwei Hauptthemen vorgestellt, wovon die erste Thematik die Existenzgründung der Corinne behandelt, während die zweite Thematik die Geschichte des Zweiten Weltkriegs mit dem Naziregime umfasst.

Der Hauptitel, Tage des Aufbruchs, passt lediglich in Corinnes Leben.

Das Cover selbst, von der Farbe her getragen einer Nivellierung jener Kaffeebohne, fand ich sehr ansprechend.

Zum Schreibkonzept
Das Schreibkonzept fand ich reizvoll
. Auf der ersten Seite ist eine Widmung zu entnehmen, auf den darauffolgenden Seiten findet man sämtliche Namen aller Figuren bzw. die unterschiedlichen Stammbäume und die Namen von Freund*innen einzelner Hauptfiguren. Anschließend geht es mit dem ersten Kapitel los. 22 Kapitel sind dem Buch insgesamt zu entnehmen. Quellennachweis und eine Danksagung schließen das Buch am Ende.

Die Handlung, die aus zwei Erzählsträngen besteht, wechselt zwischen Gegenwart und Vergangenheit kapitelweise einander ab.

Für alle Kaffeeliebhaber: Es gibt auch ein großes Geschenk an die Leser*innen. Man findet am Schluss der Geschichte jede Menge Rezepte rund um Kaffee und Gebäck.

Das fand ich sehr kreativ fürsorglich. Passt zu der Feinfühligkeit, die das Buch umschließt.

Einzige Bedingung: Man muss Kaffee lieben.

Meine Meinung
Ich finde den Roman nach meinem Geschmack viel zu seicht, obwohl er durchaus supergute Ansätze und wirklich große Themen wie z. B. auch Gegen das Vergessen und Gesellschaftsprobleme aufweist, die die Interaktionen und die Ereignisse zwischen den Figuren beeinflussen. Manche Szenen waren sehr gut und authentisch beschrieben. Vor allem die Szenen mit Isabella Pelzmann, die durch die Nazidiktatur massivste irreparable posttraumatische Störungen mit schwerwiegenden Folgen entwickelt hatte ... Leider konnte die Autorin diese Ebene an Tiefsinn im gesamten Roman nicht halten, weshalb sie immer wieder in dieses Seichte und Oberflächliche abgedriftet ist.

Mit wenigen Ausnahmen verlangten hartnäckige Probleme nach zu raschen Lösungen. Außerdem wurden Beziehungen viel zu schnell geschlossen, was ich als recht künstlich und zu unrealistisch empfunden hatte. Corinne lernt Noah kennen, der selbst auch ein eigenes alternatives Öko - Café besitzt. Schnurstracks waren die beiden ein Herz und eine Seele, und im Nu ein Liebespaar und im Nu lagen alle auch in Mutters Armen.

Die Figuren waren mir alle zu vernünftig, obwohl es in dem Buch große Themen gab, die die Geschichte begleitet hat. Die Fieslinge waren weg. Der Naziurgroßvater stirbt im Krieg. Corinnes dominanter Vater, der von jedermann als der Kaffeebaron bezeichnet wird, erleidet einen schweren Schlaganfall und wird dadurch in der Handlung auch ausgebremst. Der homosexuelle Alexander wird durch die Liebe seiner Schwester gefügig .... Der eifersüchtige Sebastian, der Corinne heimlich liebt, die sich aber für einen anderen Mann entscheidet, gibt sich zufrieden, wenn er schließlich in weiter Zukunft Patenonkel ihres ersten Kindes sein darf … Vermisste Personen aus dem Naziregime werden leicht wiedergefunden. Alles läuft glatt. Das meiste löst sich in kurzer Zeit in Wohlwollen auf und genau dies hat mich nicht überzeugen können. Nein, ich liebe Figuren, die Facetten haben und authentisch sind. Die Autorin hätte mehr aus ihrem Buch machen können.

Und dennoch war ich auch froh, dass das Buch nicht aus billiger Intrige bestanden hat, wie ich in meinen ersten Leseeindrücken befürchtet hatte. Ich präferiere keine Bücher, die mit schwarz-weiß, mit gut-böse Mustern gestrickt sind. Tiefe Facetten zeichnen nämlich den Menschen nicht zu reinen gut und böse, Engel-Teufel-Wesen aus, weil jeder Mensch auf seine Weise, auch wenn es schwer fällt, sich dies vorzustellen, mit diesen Un-Tugenden innerlich behaftet ist. 

Die Kaffeedynastie
Sehr interessant, sie war aber immer nur als eine Nebenthematik erfahrbar. Das Land Brasilien und das ganze Drumherum wurde viel zu wenig in die Geschichte verwoben.

Stereotypen
Die Deutschen hatten hier mit einer Ausnahme alle blonde Haare und blaue Augen. Obwohl die Autorin Nazigegnerin ist, hat sie bewusst / unbewusst genau den Deutschen porträtiert, den Hitler in seiner Rassentheorie als Arier bezeichnet hat, obwohl Hitler mit seiner Rassentheorie gescheitert ist. Manche wollen es immer noch nicht wahrhaben, dass es viele dunkelhaarige Deutsche gibt. Viele haben sogar von Natur aus einen olivfarbenen Teint. Mich wundert das nicht, denn seit eh und je sind Menschen rund um den Globus gewandert, längst sind alle Menschen vermischt. Selbst der sog. dunkelhäutige Urdeutsche kam einst aus dem Urwald, um das mal ganz platt auszudrücken. Was uns genetisch verändert hat, ist das Klima …

Mein Fazit
Wer einen einfachen Unterhaltungsroman sucht, der kommt hier voll auf seine Kosten, dafür hätte der Roman auch seine volle Punktzahl verdient. Wer aber mehr Anspruch sucht, wird eher enttäuscht werden.  

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch die Anfrage beim Verlag. Aufmerksam wurde ich durch den Buchtitel und durch Brasilien, in dem Land, in dem rund um die Kaffeebohne alles begann. Ich wurde neugierig auf die Kaffeeplantage. Ich dachte, dass Brasilien in der Geschichte einen großen Raum einnehmen würde. 

Meine Bewertung

1 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (einfach, fantasievoll)
0 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere; 
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

6 von 12 Punkten

Ein herzliches Dankeschön an den Verlag von HarperCollins für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

________________

Gelesene Bücher 2021: 06
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Gehörte Bücher 2021: 07

Ich höre gerade: Sten Nadolny / Das Glück des Zauberers
Aljoscha Long u. a. / Mit dem Herzen siehst du mehr
Jane Austen: Mansfield Park
Albert Einstein: Triumph des Denkens
Geo Podgast Staffel 1 / 24 Folgen zu Reisen und Tourismus
Geo Podgast Staffel 2 / 26 Folgen zu Wissenschaft und Technik

_________________________

Partnerschaft zwischen
Wissenschaft und Intuition!

Lesen mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.

Mitgefühl für alle Mitseelen / Mitgeschöpfe
Deine Probleme könnten meine Probleme sein,
und meine Probleme könnten Deine Probleme sein.
Mein Schmerz, Dein Schmerz
Dein Schmerz, mein Schmerz.
Wir sind alle fühlende Wesen.
(Den Tieren eine Stimme geben)

 

Sonntag, 3. Januar 2021

John Irving / Owen Meany (1)

 Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Was für ein toller Irving. Mit welcher Raffinesse er hier seine Fäden gesponnen hat, um seine Leser*innen in den Bann zu ziehen. Einmal hatte ich mich sogar so richtig gefoppt gefühlt, ich hatte echt gedacht, der Autor will uns Leser*innen hinters Licht führen, uns einen Streich spielen. Ich war total desillusioniert an einer Stelle, auf die ich sehnsüchtig gewartet hatte, endlich eine Antwort auf eine bestimmte Frage zu erhalten. Mehrere hunderte von Seiten musste ich mich in Geduld üben, bis die Antwort schließlich erfolgte. Eine Antwort, mit der ich partout nicht gerechnet hatte. Ich war total perplex. Doch durch das aufmerksame Weiterlesen, man musste sich weiterhin in Geduld üben, kam für mich die Erlösung. Nein, Irving wollte nicht über uns Leser*innen witzeln, sondern Schabernack treiben zu einer bestimmten Institution ... und manchmal sogar zu bestimmten spießigen Figuren, die mich auch amüsiert haben.

Aber Irving ist auch fair, keine mir gestellte Frage ließ er offen, die Antworten kamen alle erst in späteren Kapiteln, was ich als angenehm empfunden habe, weil es den Reiz hatte, unbedingt weiter lesen zu müssen. Manchmal kam eine Antwort erst nach mehreren hundert Seiten. Eine weitere Antwort kam erst zum Schluss. 852 Seiten, man bekam genug Zeit, alle diese Antworten zu finden. Somit war man echt gefordert, mit den Figuren mitzugehen und mitzudenken, wobei viele meiner Hypothesen nicht aufgegangen sind.

Ich habe auf Facebook so viel darüber geschrieben, dass ich jetzt gesättigt vom vielen Schreiben bin und ich mir ein paar Notizen von dort hier auf meinen Blog hieven möchte.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Dieses Mal ziehe ich meine Buchbesprechung anders auf, da das Buch dermaßen tiefgründig ist, auch die Figuren sind sehr außergewöhnlich und vielfältig, dass ich hier überhaupt nicht sagen kann, wer von den vielen Figuren mir besonders gut gefallen hat. Es waren mehrere. Selbst meine Identifikationsfigur hat sich im Laufe des Lesens gewandelt. Wobei ich mich meistens in Owen gespiegelt hatte, der vor allem in der Welt der Erwachsenen sich so sehr kritisch bezogen hatte, in dem er sich ihr auflehnen musste. Das Schöne an ihm, er ging seinen Weg ... Owen war auch seinem besten Freund John gegenüber eine sehr große Stütze. In der Schule und im späteren Leben, auch weil er Johns Mutter ein Versprechen abnehmen musste ... 

Meine Rezension / Meine Leseerfahrung mit dem Buch
Als ich Owen Meany in der hiesigen Nacht beendet habe, ließ er mich sehr nachdenklich und traurig zurück. Irgendwie befand ich mich am Ende in einem Trance ähnlichen Zustand. Erst war ich zum Schluss etwas gelähmt, musste einiges noch sacken lassen. Was ich vor 450 Seiten durch das Lesen zwischen den Zeilen vermutet hatte, hob sich Irving die Details hierzu für den Schluss auf. 

Owen Meany - Für mich der beste Irving / Die Kindheit von Owen und John
Aber wie ich schon auf der #Diogenes Verlag - backlistlesen - Seite auf Facebook geschrieben habe, ist dieses Buch der beste Irving, den ich bisher gelesen habe. Dieser sehr kritische, differenzierte und recht authentisch geschriebener Gesellschafts- und Familienroman erschien 1990 im Diogenes Verlag, 1989 fand die Erstveröffentlichung in Amerika statt.

Nicht nur, dass das Buch eine Kindheit zweier unterschiedlicher Jungen der 1950-er und 1960-er Jahre behandelt, beide 1942 geboren, schließt das Werk zu dem noch eine umfassende Amerikanische Geschichte mit ein, ohne das Buch damit zu überladen .... 

John Irving war seiner Zeit voraus / Politischer Weitblick, der in die Zukunft führt
Ich hänge außerdem dem Gedanken nach, ob Irving so etwas wie einen Weitblick hatte? Konnte er damals, als er das Buch schrieb, z. B. einen Donald Trump, der einerseits eine Witzfigur darstellt, andererseits eine sehr gefährliche Kreatur im Politikum ist, voraussehen? Mich hat dieses Buch auch hierbei sehr beeindruckt, und sicher bin ich mit diesen wenigen Zeilen noch lange nicht fertig mit der inneren Verarbeitung. 

John Iring - Owen Meany und Günter Grass - Oskar Matzerath
Zwischenzeitlich hat mich diese kleine Figur Owen an den kleinen Oskar von der Blechtrommel erinnert. Oskar wollte nicht erwachsen werden, weil auch er mit der erwachsenen Welt nicht klar kam und hat recht früh gelernt, deren Macken zu durchschauen, um dagegen zu rebellieren. Ich hatte aber noch nicht den Mut, diese Parallele Owen zu Oskar zu ziehen, und ziehe sie jetzt, nach dem ich mit dem Buch durch bin.

Wo spielt die Handlung?
Die Kindheit der beiden Protagonisten John Wheelwright und Owen Meany spielt in Gravesend, New Hampshire, im Bundesstaat der Vereinigten Staaten. Der erwachsene John wandert durch eine Identitätskrise als Amerikaner nach Kanada aus und lässt sich dort einbürgern. Die Amerikanische Geschichte umfasst die Nachkriegszeit, John F. Kennedy, die 1968er Bewegung, Vietnam Krieg, u. v. m.

Owen Meany ist eine hochsensible und strenggläubige Persönlichkeit, die ihn aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit über einen Gendeffekt zu einem besonderen Menschen im Positiven wie im Negativen macht. Owen Meany  ist groß im Denken und groß im Fühlen ... Aber er ist mit seinen 150 cm nicht nur klein geraten, auch sein Kehlkopf ist von dem Gendeffekt betroffen, der Owen dadurch mit einer extrem auffälligen, schrillen Stimme ausstattet, die selbst mit dem Älterwerden nicht aus ihm herauswachsen will ... Er muss sich bei den Gleichaltrigen aber auch bei den Erwachsenen durchsetzen, um gesehen zu werden. Die Stimme allerdings verschafft ihm mit der Zeit Gehör ... Er verfolgt durch seine kleinwüchsige Besonderheit eine religiöse Mission, und fühlt sich von Gott auserwählt, diese Mission zu erfüllen. 

Owens Vater ist im Steinbau tätig und führt ein eigenes Granitgeschäft. Die Mutter lebt angeblich wegen einer schweren Feinstauballergie hinter verschlossenen Türen und Fenstern und zeigt ein seltsames Verhalten auch Owen gegenüber. Die Eltern sind sehr religiös, waren erst Katholiken, sind allerdings aus der katholischen Kirche ausgetreten, da ihnen das Leben aus bestimmten Gründen von der Kirche her schwer gemacht wurde und sind in die Episkopalkirche konvertiert, in der auch die Familie Wheelwright angebunden ist, die zuvor zu den Kongregationalisten zählte ...

Owen selbst ist stark dem Gott-Glauben gebunden und schon in Kinderjahren bibelfest. Er zeigt allerdings eine extrem starke Rebellion der katholischen Kirche gegenüber ...

Auch John Wheelwright hat Ecken, da er vaterlos ist. Seine alleinerziehende Mutter Tabitha  verschweigt ihm den Namen des Erzeugers ... Es ist Owen, der sich ihm bei der Vatersuche behilflich zeigt ... So richtig alleinerziehend ist die Mutter aber nicht, denn in Johns Erziehung wirkt auch ihre Mutter Harriet mit ein. 

Zwischen Owen und John entwickelt sich eine besondere und lebenslange Freundschaft. Owen ist körperlich zwar klein geraten, aber zeigt immense geistige Größe und erhält als Schulbester jeden Schulabschluss, den er haben wollte … Er wird sogar an der Gravesent - Akademy Schulsprecher und kritischer Autor einer regelmäßigen Schülerzeitung. 

Eine besondere Rolle spielt auch Johns Mutter in Owens Leben, allerdings nicht nur, dass sie die durch sein Einwirken über einen sportlichen Unfall tödlich aus dem Leben gerissen wurde …

Cover und Buchtitel 

Das Cover hat mich sehr angesprochen und noch vor dem Lesen musste ich mich fragen, welche Bedeutung es haben könnte? Die Auflösung ist dem Buch zu entnehmen. Das Motiv, eine ärmellose Schneiderpuppe mit dem roten Kleid, ist als ein Double mit Johns Mutter in Verbindung zu bringen.

Zum Schreibkonzept
Das Buch beginnt mit einer Widmung an John Irvings Eltern. Auf der folgenden Seite gibt es zwei Bibelverse, anschließend einen dritten Spruch, der sich auch an die Christmenschen richtet. Diese drei Verse bereiten die Leser*innen auf die Hauptthemen des Buches vor.

Owen spricht in Großbuchstaben. Im Buch ist ein Kapitel mit Die Stimme belegt. 

Anschließend ist ein Inhaltsverzeichnis abgedruckt, das mit neun Kapiteln untergliedert ist. Das Werk umfasst 852 Seiten. Am Ende ist eine Danksagung mit abgedruckt.

Der Schreibstil ist flüssig und sehr authentisch sind die Lebensereignisse und die Charaktere aller Figuren beschrieben. Die Geschichte wird in der Retroperspektive aus der Ich-Perspektive des erwachsenen Johnny Wheelwright erzählt.

Die Erzählperspektiven wechseln ab zwischen Vergangenheit (1950er und 1960er-Jahre) und der Gegenwart (1987).

Die Erzählstruktur ist sehr strategisch gewählt, sodass dadurch die Neugier bis zum Schluss lebendig bleiben konnte.

Meine Kritik?
Ich kann mir vorstellen, dass viele Owen als einen kleinen witzigen Gnom in der Luft zerreißen werden, obwohl er alles andere als witzig ist. Mir ist er dagegen wohlwollend ans Herz gewachsen. Mit seiner außergewöhnlichen charismatischen Art schafft er es, andere 
von seinen Ideen zu überzeugen und andere wiederum zur Weißglut zu bringen. Wie aus dem Werk zu entnehmen ist, war er durchaus auch ein Mensch, den man lieben konnte. Man kann Owen  mögen, man kann ihn aber auch als unausstehlich, unsympathisch und als unbequem wahrnehmen. Es gibt etliche Szenen, die aufstoßen lassen, dennoch halte ich zu ihm. Nicht nur, dass er Mut bewiesen hat, ein Leben seiner Art zu meistern, sondern weil er in der Lage war, sich kritisch einem System gegenüber zu stellen, das von anderen nicht hinterfragt wurde. Wobei Mut nicht der richtige Ausdruck ist. Er hat agiert, weil er nicht anders konnte. Er musste einfach Missstände aufdecken. Und er musste diese Missstände aufzeigen, den Menschen radikal den Spiegel vorsetzen, sie aufrütteln, wenn er weiter in seiner Welt überleben wollte. Ich beneide ihn, weil er mit seiner Energie so viel Kampfgeist bewiesen hat, und er damit viele Menschen zum Nachdenken bewegt hat. Er war in allem einfach schlagfertig aber nicht im Bösen, nicht in einer narzisstischen und egomanen Form. Ihm ging es nicht um Konkurrenz und um recht haben müssen, nicht um besser sein müssen als andere. Ihm ging es immer um die Sache selbst, für die er eingestanden hat.

Mein Fazit
Ein Buch über Freundschaft, Religion, Liebe, Lügen, Politik. Ein großes Buch über Loyalität. Ein Buch über Wunder …

Nach dem Lesen musste ich die ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende nochmals vor meinem inneren Auge Revue passieren lassen. Dieser Irving hat es verdient, ein zweites Mal gelesen zu werden.

Viel Feingefühl, viel Esprit und jede Menge Weisheiten hat er in seine Geschichten gewoben.

Owen Meany ist in meine Seele eingezogen und wohnt da erst mal. 

Mein Highlight zum Jahresabschluss von 2020.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Obwohl dieses Buch mittlerweile zu den modernen Klassikern zählt und es viele Irving-Fans schon nach der Erstveröffentlichung gelesen haben, gibt es doch noch einige wie mich, die erst jetzt empfänglich für diesen Buchtitel geworden sind. Im Netz wurde ich auf eine Buchbesprechung dazu aufmerksam und musste mir, nach dem ich den Klappentext studiert hatte, das Buch unbedingt auch zulegen.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (sachlich, fantasievoll, distanziert)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; autobiographische Erzählweise
2 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur, Gliederung: Ungebunden
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

12 von 12 Punkten

________________

Das erste Wunder, an das ich glaube,
ist mein eigener Glaube.
(Owen Meany)

Gelesene Bücher 2020: 25
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen

Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

„Bäume haben Wurzeln, doch Menschen haben Beine, und der liebe Gott wird sich schon bei der Einrichtung der Welt auf diese Weise etwas gedacht haben. Im Grunde sind wir nicht dazu da, ortsfest wie ein Baum zu leben“.
(Denis Scheck im Interview mit Iris Wolf, aus ARD-Buchmessenbühne 2020)

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)