Posts mit dem Label Amerika werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Amerika werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Freitag, 12. Februar 2021

Trutz Hardo / Das große Handbuch der Reinkarnation (1)

Bildquelle: Pixabay
 Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Ein wundervolles Buch über die Praxis der Rückführung in andere Leben. Bestens auch als ein Nachschlagewerk bzw. als ein Arbeitsbuch zu betrachten für Menschen, die aus dieser Praxis kommen oder sich dahin verändern möchten.

Für andere könnte das Buch zu einer Überforderung führen. Ohne Vorkenntnisse wäre zu empfehlen, sich erst mal mit leichterer Lektüre einzudecken, die mehr Hintergrund bietet. Was sind die Lebensziele von Mensch zu Mensch? Wie lässt sich die Seele in ihrer Entstehung begreifen? Was ist unter Gott zu verstehen? Wie kommen die vielen unterschiedlichen Religionen  zustande? Haben Tiere überhaupt eine Seele? Ein Background zum Universum und zur Evolution wären auch noch einzubeziehen. Hintergründe zu allen Lebewesen unseres Planeten. Diese und andere Themen würde ich zusätzlich empfehlen.  

Da jedes Subjekt in dem Buch aufeinander aufbaut und ich sie nicht aus dem Zusammenhang reißen möchte, halte ich mich in dieser Buchbesprechung kurz. Am Ende gebe ich eine kleine Empfehlung zu weiteren Werken.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Für mich selbst sind in diesem Buch die theoretischen Hintergründe zu Psychologie und Psychiatrie und die gesamten Krankheitsbilder und deren möglichen Therapiefelder wie Verhaltenstherapie, Autogenes Training und Gruppentherapie durch meine eigene Berufspraxis vertraut. Diese Therapieformen werden mit der Rückführugstherapie über Vorteile und Nachteile miteinander verglichen. Bezüge werden auch durch die komplexen Zusammenhänge wie z. B. die Ausstattung des Gehirns - linke und rechte Gehirnhälfte, sowie die großen Namen wie z. B.  Siegmund Freud, der Vater der Psychoanalyse hergestellt.

Interessant wurde es für mich schließlich erst, wie eine Rückführung in der Praxis durchgeführt wird, z. B. über einen Alphazustand. Die Proband*innen / Klient*innen werden in sechs Tiefenzustände geführt, das heißt, sie werden sukzessiv in einen hypnotischen Schlaf versetzt.

Ich werde mit dieser Therapieform nicht arbeiten, da ich keine Ausbildung dazu habe. Rückführungstherapeut wird man nicht durch das Anlesen diverser Theorien aus Büchern, sondern man muss sich zusätzlich über langwierige Kurse qualifizieren. Mich hat lediglich die Berufspraxis in abstrahierender Form interessiert, ohne die Absicht zu verfolgen, selbst diese Praktiken ausüben zu wollen. Aber vielleicht kann ich mit dem angelesenen Wissen Menschen in Brückenform über eine solche Therapie begleiten. Vielleicht möchte ich selber an mir diese ausprobieren. Wäre doch spannend zu erfahren, wer man in den multiplen Vorleben so alles gewesen ist.

Dazu fand ich den nächsten Abschnitt wiederum spannend, welche Erkrankungen mithilfe einer Rückführung behandelt werden könnten und was die jeweiligen Ursachen der Erkrankungen sind und wo sie ihren Ursprung haben. Ängste und Phobien jeglicher Art sowie Sexual- und Beziehungsstörungen, aber auch somatische Beschwerden, wie z. B. Haut- und Krebserkrankungen, Migräne,  Asthma ... Auch pränatale Entwicklungsstörungen können hier über eine Rückführung angegangen werden.

Aber Vorsicht, auch eine Rückführungstherapie hat ihre Grenzen, denn nicht jeder Mensch könne rückgeführt werden und nicht jede Krankheit sei heilbar.

Wovon ist das abhängig?
Weil nicht jeder Mensch in den Alphazustand gebracht werden könne. In dem Buch befindet sich zur besseren Orientierung für die / den Therapeut*in einen Test, den man zu Beginn der Therapie an der / dem Klient*in anwenden könne, um zu sehen, wie leicht oder schwer diese*r sich in einen Alphazustand versetzen lassen könne. Bei der Heilung der Erkrankung würde es auf das Ausmaß des Karmas, bzw. auf die Tiefe eines Lernprozesses, ankommen.

 Auch psychisch labilen Menschen wäre von dieser Therapieform abzuraten ... Viele Experten üben aus Überzeugung diesen Beruf aus, selbst Skeptiker unter ihnen. Denn …

Ein großes Plus der Rückführungstherapie besteht darin, dass weder Therapeut noch Klient an frühere Leben glauben müssen. Viele Therapeuten, die die Rückführungstherapie mit großem Erfolg ausüben, glaubten anfangs überhaupt nicht an die Existenz früherer Leben und erklärten ihren Klienten, die ebenfalls nicht an die Reinkarnation glaubten, z. B., dass aus ihrem Unterbewusstsein symbolische Bilder aus anderen Zeiten aufsteigen würden, die wichtige Aufschlüsse über den Heilungsprozess geben könnten. Jedoch gilt die Reinkarnation ab dem Jahr 1997 als bewiesen, dank der großartigen Pionierarbeit von Professor Ian Stevenson, (kanad. Psychiater, Anm. d. Verf.)

 Der Psychiater Brian Weiss schreibt: Weder Therapeut noch Patienten müssen an die Existenz früherer Leben bzw. an die Reinkarnationslehre glauben, um mit der Reinkarnationstherapie Erfolge zu erzielen. Der Beweis liegt in der Sache selbst. Schon mancher Kollege aus der Psychotherapie meinte zu mir: >Ich weiß noch immer nicht, ob ich an diese Sache mit dem früheren Leben glauben soll, aber ich arbeite damit, und es funktioniert.< (...) Mit der Zeit werden wohl alle Therapeuten, die diese Methode ausprobieren, von der Tatsächlichkeit der Reinkarnation überzeugt werden, da Klienten im Alphazustand historische und kulturgeschichtliche Fakten oder Daten nennen können, die ihnen im Wachzustand nicht bewusst sind (und die sich auch mit kryptomnesie nicht erklären lassen), deren Richtigkeit vom Therapeuten jedoch überprüft und bestätigt werden kann. (20f) 

Goethe war Pantheist und kein Atheist
Goethes Glaube war später gelöst sowohl von Konfessionen als auch von grauer Theorie und fand Gott in der Natur. Auch darin spiegelt Doktor Faust ohne Zugehörigkeit einer Religion die Sinn- und Glaubenssuche auf einer transzendenten- und einer präkognitiven Art: Was ist der Mensch, was ihn im Innersten zusammenhält? Goethe ist konfessionslos geworden, obwohl er eine protestantische Erziehung erworben hatte. Doch als Suchender hatte er sich von allen religiösen Vorstellungen gelöst, und sich aufgemacht, nach innen zu reisen, denn nur dort würde man, so Goethe, die Wahrheit finden. Suchen wir nur die eine Wahrheit? Es gibt unendlich viele Wahrheiten und jeder muss seine in sich finden, und wenn man hierfür ein ganzes Menschenleben benötigt. 

Goethe wurde später Pantheist statt Atheist. In seiner eigenen Suche musste er auch grenzüberschreitende Erfahrungen gemacht haben. Auch Ereignisse der Feinstofflichkeit waren im Faust zu beobachten; Wie werde ich die Geister wieder los, die ich einst rief? Wobei der Suchende, aus meiner Sicht, überall fündig werden kann, auch in Kreisen der Konfessionen.

Doch nicht nur Goethe, auch Hermann Hesse, Albert Einstein und viele andere Intellektuelle waren große Suchende in ähnlicher Form gewesen. 

Und nun wieder zurück zu Trutz Hardos Lesestoff. 

Ich fand es ganz spannend zu lesen, wie er zu dieser Thematik bzw. zu dieser Überzeugung hingefunden hat. Ähnlich wie sein Kollege Alexander Gosztonyi schreibt er aus seiner eigenen Berufspraxis heraus, denn auch Hardo ist Experte auf dem Gebiet der Rückführungstherapie:

Ich stütze mich bei diesen Ausführungen weniger auf indirektes Wissen (...), sondern vor allem auf direktes Wissen, also Erkenntnisse, die ich aus der praktischen Erfahrung in der Rückführungspraxis oder aus anderen >inneren< Quellen bezogen habe. So habe ich Hunderte von Aussagen von Menschen auswerten können, die ich in Einzel- und Gruppenrückführungen in den Zustand unmittelbar vor ihrem ersten Leben als Mensch versetzte und dann graduell weiter rückwärtsgehen ließ, bis sie am Ausgangspunkt ihres Seins angekommen waren. (27)

Sicherlich hat der Autor sich mit dem Wissen anderer Autoren wie z. B. dem Anthroposophen Rudolf Steiner befasst, aber er pflegte den Anspruch, schließlich sein eigenes Wissen zu finden. Ähnlich wie Goethe wollte er sich nicht mit der grauen Theorie zufriedengeben. 

Meine Empfehlungen zum Abschluss, die aus drei Lesephasen bestehen.

Drei Phasen
Ich empfehle, wer sich mit dieser Thematik ernsthaft beschäftigen möchte, sich mit folgenden Büchern einzudecken:

Erste Phase 
Theoretisches Hintergrundwissen
Das Buch von Alexander Gosztonyi: Das große Buch der Seele

In diesem Buch habe ich alle meine weltlichen- und Sinnfragen, vor allem auch bezogen auf die Tierqualen, beantwortet bekommen.

Von demselben Autor: Betrachte dich mit den Augen der Liebe – Deine Seele ist kein unbeschriebenes Blatt. Auch geht es hier um sieben seelische Entwicklungsstufen, die der Mensch im Laufe der Reinkarnation über zahlreiche und unterschiedliche Lernaufgaben erlangen müsse, um letztendlich von der Wiedergeburt erlöst zu werden, um vollends ins ewige Licht und in die ewige Liebe zu gelangen.

Zweite Phase
Reinkarnation aus der Berufspraxis über die Rückführungspraxis. Hier eignet sich wunderbar das vorliegende Buch von Trutz Hardo, der tiefere Einblicke aus der Praxis mit Menschen, die eine oder mehrere Rückführungen mitgemacht haben, schenkt.

Dritte Phase 
Mit dieser Phase wäre der nächste Schritt, selbst in die Rückführung zu gehen, wer möchte. Dazu gibt es von demselben Autor reichlich Material oder man sucht sich einen realen Experten dafür aus.

Woher hat der Autor sein Wissen?
Ich habe hier noch zwei Bücher von dem Autor und seinem Kollegen Johannes  v. Buttlar liegen, die ich allerdings nicht rezensieren werde. Ihnen zufolge bezieht vor allem Buttlar sein Wissen nicht nur aus seiner beruflichen, therapeutischen Tätigkeit heraus, sondern er selbst würde reichlich über außerkörperliche Erfahrungen (Out-of-Body) verfügen. Er ist daher von der Reinkarnation nicht nur durch seine Klientel überzeugt. Auch er wurde durch seine langjährige Sinn- und Glaubenssuche, die mit 17 Jahren begonnen hatte, auf diesen Weg gebracht. 

Es hat mit Glauben nichts zu tun, sondern es ist meine Überzeugung, weil ich es aufgrund meiner vielen Erfahrungen weiß. (61)

Mit welchen Techniken diese Out-of-Body eingeleitet und ausgeführt werden, sind aus den jeweiligen Büchern der Autoren zu entnehmen. Eines davon habe ich unten im Fettdruck erwähnt.


Mein Fazit?
Das Buch hat mich angeregt, mich weiter mit dieser Thematik zu befassen und gehe in die dritte Phase und habe mir ein weiteres Buch von demselben Autor Trutz Hardo und Mitautor Johannes von Buttler bestellt Supersurfing / Reisen durch Raum und Zeit. Aber es gibt noch andere Bücher mit einer Rückführung - CD. Ich werde sehen, wie weit ich komme, bis mein Wissensdurst gestillt ist.

Zudem eignet sich das vorliegende Buch nach dem Lesen wunderbar auch als ein Nachschlagewerk, wie ich im Vorspann schon geschrieben habe. Also, kein Buch zum Wegstellen.

Meine Bewertung zum Sachbuch

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck und Verständlichkeit
2 Punkte: Sehr gute Umsetzung der Thematik
2 Punkte: Sehr gute aufklärerische  Verarbeitung
2 Punkte: Logischer Aufbau, Struktur und Gliederung vorhanden.
2 Punkte: Anregung zur Vertiefung, zum weiteren Erforschen und zur Erkundung
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

12 von 12 Punkte 

Eine klare Leseempfehlung nicht nur für Profis, sondern auch für andere aufgeschlossene und neugierige Menschen mit Vorkenntnissen.

Herzlichen Dank an den Silberschnurverlag für das Leseexemplar.

________________

Gelesene Bücher 2021: 03
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Aufhören gegen den 
eigenen Strom zu schwimmen.

Ich lese in meinem Tempo
mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen, Tiere und auch mich
besser zu verstehen.

 


Sonntag, 17. Januar 2021

Sy Montgomery / Einfach Mensch sein - Von Tieren lernen

 Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 


Ein wundervolles Buch, das ich vor ein paar Tagen ausgelesen habe. Meine ersten Leseeindrücke haben sich bis zur letzten Seite halten können, sodass ich vorab zwei weitere Werke von der Autorin mir bestellt habe, die ich am Ende noch vorstellen werde.

Das Schöne an der sehr feinfühligen Autorin ist, dass sie ihre Tierliebe nicht auf die üblichen Tiere wie Hunde und Katzen, etc. begrenzt, sondern sie sogar auf viele Exoten ausweitet. Ich konnte viel von ihr lernen, speziell was ihre Liebe auch zu Spinnen und Insekten betrifft.

Ein Buch über den respektvollen Umgang mit anderen Lebewesen, die uns, wenn wir es zulassen, so auch die Autorin, vom inneren Wesen her recht ähnlich sind. 

An einem einzigen Beispiel habe ich durch die Autorin das Bedürfnis verspürt, auch über meine eigene Erfahrung mit meinen Vierbeinern zu schreiben. Seelenverwandte? Finde ich draußen in der realen Welt unter den Menschen sehr wenige. Und dabei gibt es sie sehr wohl. Das hinterlässt für mich einen tröstlichen Charakter.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Sy Montgomery erzählt in einem narrativen Schreibstil von ihrem Leben mit Tieren, dessen Weichen schon recht früh entgegen der Mutter in ihrer Kindheit gelegt wurden. Während ihre Mutter aus ihr ein adrettes Mädchen zu formen versucht hatte, geht sie dennoch ihren eigenen Weg. Sie fühlt sich zu Tieren dermaßen hingezogen, dass sie diese zu ihren einzigen Spielgefährten machte. Begonnen hatte alles mit einer Scotchterrier – Hündin namens Molly. In dieser Kindheit träumte sie schon ihren Traum, aus ihrem Umfeld auszuziehen, um mit den Tieren in der Wildnis leben zu können. Obwohl ihre gut situierten Eltern mit ihr andere Pläne hatten, begannen ihre Träume mit 26 Jahren Gestalt anzunehmen, indem sie beschloss, ihren eigentlichen Beruf als Journalistin aufzugeben und in die Tierforschung zu gehen, um das Verhalten verschiedener Tierarten zu ergründen.

Vorbilder fand sie schon in ihren Kinderbüchern. Sie las Jane Goodall, die berühmte Primatologin und Verhaltensforscherin. Weg von den verborgenen Beobachtungen, und rein in die Sukzessive, um auf die Tiere zuzugehen und deren Verhalten aus der Nähe zu beobachten. Der Terminus  wäre  hierzu Empirie bzw. Feldforschung. Dies waren Goodalls Methoden, die Montgomery übernommen und in ihre Arbeit integriert hatte. 

Sy Montgomery bereiste dadurch mehrere Kontinente, um ihre Forschungsprojekte anzugehen. Doch sie führte als Tierforscherin auch ein Privatleben mit eigenen Tieren wie Hühner, Border – Colly, ein Schwein etc. und auch alle ihre Tiere bekamen einen Namen ... Doch selbst die Goliath – Wolfsspinne aus der Forschung erhielt den Namen Clarabelle und der Oktopus hieß Octavia.

Ihre eigenen Tiere nahm sie bei sich auf, die gehandicapt waren …

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Mir hat nicht gefallen, dass Sy Montgomery von den Eltern enterbt wurde, nachdem sie einen Mann ihrer eigenen Wahl geheiratet hat. Ihr Mann ist Schriftsteller von Beruf und in den Augen ihrer Eltern nicht angesehen genug. Weitere Beispiele hierzu siehe unten.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Es waren jede Menge Szenen, doch bei einer Szene musste ich an Goethe denken, der das Buch über die Wahlverwandtschaft geschrieben hat, weshalb ich diese Szene unbedingt aufschreiben möchte, denn man kann durchaus auch Tiere zu Wahlverwandten machen, wenn man erkennt, dass diese Geschöpfe wie man selbst auch beseelte Wesen sind.

Die Autorin selbst hat sich mehr zu Tieren als zu Menschen hingezogen gefühlt. Wie ich oben schon geschrieben habe, war ihre Zuneigung zu Tieren schon mit der Geburt mitgegeben. Ihren damaligen ersten Hund erhielt sie im Alter von drei Jahren. Diese Hündin bezeichnete sie als ihre Schwester. Deshalb die Bezeichnung Wahlverwandtschaft, die mich an Goethe zurückdenken ließ, in der die Seelentiefe bei der Wahlverwandtschaft stärker ausgeprägt sein kann als bei der Blutsverwandtschaft. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die innere Entwicklung eines Menschen nicht unbedingt von der Erbmasse abhängig gemacht werden muss. Natürlich ist die physische Anatomie davon ausgenommen. Obwohl man die Gene der Eltern in sich trägt, ist man dennoch mit völlig anderen Vorlieben und Bedürfnissen ausgestattet.

Nach einem bewegten Leben voller Umzüge erdete er mich. Und nachdem meine Eltern mich verstoßen hatten, war es Christopher, der aus einem bunten Gemisch von Wahlverwandten eine richtige Familie entstehen ließ, die nicht den Genen zu verdanken ist, sondern allein auf Zuneigung beruht. (77)

Welches Einzelkind kommt schon auf die Idee, sein Haustier als ein Geschwister zu betrachten?

Viele kleine Mädchen vergöttern ihre älteren Schwestern. Mir ging es nicht anders. Nur dass meine ältere Schwester eine Hündin war. Hilflos stand ich da, in dem Rüschenkleidchen und den Spitzensöckchen, in die meine Mutter mich gesteckt hatte. Ich wollte sein wie Molly: wild. Unerschrocken. Nicht zu halten. (15)

Probleme bereitete es der Mutter, da ihr sog. Prinzessinnenkind sich zu einem Wildfang entpuppte.

Dass andere Menschen meine Vorstellung von unserer Beziehung nicht teilten, merkte ich erst, als meine Mutter anfing, uns beide zu zähmen. (27)

Die Autorin hat schon recht früh begriffen, dass Tiere eine Persönlichkeit besitzen, Individuen sind, auf ihre Lebensweise bezogen sogar denken können und auch Gefühle haben. Was sie als Kind unbewusst schon wusste, schärfte sich in ihr durch die Tierforschung noch verstärkt ein. Sie schaffte es sogar mit Spinnen, Quallen … eine Beziehung aufzubauen.

Nähere Bekanntschaft mit jemand aus einer anderen Spezies zu machen, bereichert einen Menschen auf erstaunliche Weise. Alle Tiere, denen ich - und sei es nur flüchtig - begegnet bin, haben mein Leben verändert. (...) Ich (kann) davon erzählen, dass es immer und überall Lehrmeister gibt, mit vier, zwei, acht oder auch gar keinen Beinen, einige mit Skelett, andere ohne. Alles, was wir tun müssen, ist, sie als Lehrer zu erkennen und uns zu öffnen für ihre Wahrheiten. (10f) 

Sehr anschaulich fand ich auch das Exempel mit den Emus, die Montgomerys erstes Forschungsprojekt in Australien abgaben. Ich fand es phänomenal, wie diese Tiere mit ihr auf einer nonverbalen und telepathischen Art kommuniziert haben. In Hawaii und Kalifornien untersuchte Montgomery sogar die Tiersprachen. Und hier, bei den Emus, erschien es mir so, als hätten diese Tiere in ihren Gedanken gelesen, ihre Fragen aufgeschnappt und sie die Tierforscherin in eine Richtung gelenkt haben, die Montgomery zu Antworten verhalfen. Außerdem erinnerten mich ein paar Szenen dazu an den italienischen Biologen Stefano Mancuso, der über die außergewöhnliche Reise der Pflanzen geschrieben hat.

Sind Emus möglicherweise Samenverbreiter? Welche Pflanzen fressen sie? Können die Samen aus den Emus-Ausscheidungen besser keimen? (2019, 42) 

Die Antwort darauf findet man auch bei Mancuso, welchen Einfluss Tiere bei der Migration von Pflanzen haben. Fand ich genial, sie hier nochmals zu finden.

Hier im Nebelwald hatte ich jene Urkraft wiederentdeckt, die uns geistig und körperlich gesund erhält: ungebrochenen, köstlichen Lebenshunger. (140)

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Sy Montgomery und ihr Gatte Howard.

Welche Figur war mir antipathisch?
Das war mir die Mutter, die ich aber nicht verurteilen möchte. Sie konnte eben nicht aus ihrer Haut und versuchte nur ihr Prestigeverhalten an ihre Tochter weiterzugeben, damit diese ein bestmögliches Leben mit allen Privilegien führen könne. Irgendwie tun doch die meisten Menschen in allen Kulturkreisen dasselbe. Gesellschaftliche Normen und Regeln einhalten, um dazuzugehören, um von der Gesellschaft nicht ausgestoßen zu werden. Den Maßstab an Werten an die nächste Generation weiterzuvererben, sehen viele in der Erziehung als ihre Hauptaufgabe an. Glücklicherweise gibt es aber Menschen, die man nicht einfach in eine vorgegebene Richtung erziehen kann. Still oder rebellisch, egal wie, gehen sie doch ihren ureigenen Weg, der von ihrer Anlage her für sie bestimmt ist. Wem es nicht sofort gelingt, erreicht sein eigenes Leben über Umwege. Aber besser Umwege gehen, als kein eigenes Leben zu haben. 

Meine Identifikationsfigur
Sy Montgomery. Sie hat alles für ihre Tiere getan. Hat mich an meinen Momo erinnert, den ich als einen heimatlosen Kater zu mir genommen habe. Er war traumatisiert und litt unter Verlustängsten. Dadurch bin ich nicht mehr in den Urlaub gefahren. Zehn Jahre lang. Und viele konnten nicht verstehen, dass ich wegen eines Tieres auf meine Reisen verzichtet habe. Immerzu haben sie mich bezichtigt, dass das nur eine Ausrede sei, und meinten, dass mein Kater nur vorgeschoben wäre, dass mir die Reisen in Wirklichkeit nicht wichtig genug seien. Das waren aber alles Menschen, die selbst keine Haustiere hatten. Nun lese ich Montgomery und mir fällt es wie Schuppen vor den Augen. Nein, das waren keine Ausreden, mein Kater war nicht vorgeschoben. Bekanntlich hätte die Autorin in meiner Lage dasselbe getan, da auch sie für ihre Tiere Bürden auf sich genommen hat. Und sie hätte mir geglaubt, dass ich aus Liebe zu meinem Kater gerne auf meine Reisen verzichtet habe. Warum müssen Menschen andere Lebensweisen immer so kritisch hinterfragen und zerreden? Im Grunde genommen verstehen sie es nicht. Alle Jahre diese störenden wiederkehrenden Fragen in saisonalen Urlaubszeiten wie z. B. Bist du weggefahren? (…) Und jedes Jahr kam dieselbe peinliche absagende Antwort. Und schon war ich abgeschrieben. Man hat sich lieber mit anderen ausgetauscht, die große Reiseerlebnisse aus ihren Urlaubsorten mitbrachten. Wegen der Tiere auf etwas zu verzichten? Uns werden häufig anthropomorphe Verhaltensweisen vorgeworfen in der Form, dass wir Tiere vermenschlichen würden. Das mag bei einigen Menschen wohl der Fall sein, die mit ihren Haustieren irgendeine innere Lücke kompensieren. Aber echte Tierliebe hat nichts damit zu tun. Denn in der Tierliebe geht es ausschließlich darum, den Tieren ein glückliches und erfülltes Leben zu ermöglichen. Dass Tiere den Menschen bei guter Behandlung mit einer tiefen, freundschaftlichen Geste bereichern, ist außer Zweifel. Selbst mit einem Oktopus erlebte die Autorin eine besondere Beziehung, weil sie fähig war, sich ganz auf dieses Tier einzulassen.

Wer Tiere nur als Lückenfüller benutzt, ist zu solch einer Fähigkeit schon gar nicht in der Lage.

Cover und Buchtitel  

Auf dem gebundenen Cover sind die Hühner abgebildet, die Montgomery von einer Freundin geschenkt bekam. Es waren acht Hühner, die sie als Die Ladys bezeichnet hatte. Das Cover auf dem Taschenbuch trägt einen Hund, der Tess darstellen müsste.

Der Buchtitel hält auch, was er verspricht.

Bald erkannte ich, dass ich in meinem Bemühen, einfach Mensch zu sein, noch viele Lektionen zu lernen hatte. (192) 

Ihre Lehrmeisterinnen waren die Tiere. Selbst von dem kleinen Ferkelchen namens Christopher Hogwood, das bei ihr und ihrem Mann bis zu seinem Lebensende glücklich leben durfte, konnte Montgomery Weisheiten entlocken:

Er war ein großer dicker Buddha, der uns lehrte zu lieben, was das Leben uns gibt. (66)

Sich innerlich öffnen können ist dabei eine Kunst, denn …

(U)nsere Welt bietet eine unermessliche Vielfalt, welche die menschlichen Sinne kaum zu erfassen vermögen. Das hat mir (auch) die Freundschaft mit einem Oktopus gezeigt. (173)

Zum Schreibkonzept
Eine Kurzwidmung zu Beginn des Buches ist enthalten. Anschließend folgt ein Inhaltsverzeichnis. Weiter geht es mit einer recht interessanten Einleitung, die sehr vielversprechend ist. Daraufhin folgen elf weitere Kapitel. Das Buch endet mit einem Nachwort und einer Danksagung. Mit jedem neuen Kapitel ist eine Illustration mit dem betreffenden Tier und einem Spruch abgebildet. Weitere Illustrationen findet man auch mitten in den Geschichten. Sehr schön gemacht. Der Schreibstil ist ein empathischer. Hier bestätigt mir die Autorin, dass die emotionale Intelligenz genauso wichtig ist wie die kognitive. Sy Montgomery ist nicht einseitig gebildet, Kognition oder Emotion, sondern als Wissenschaftlerin auf beiden Ebenen, sowohl Kognition als auch Emotion. Welch ein enormer Reichtum.

Das Nachwort ist von Donna Leon, die das ganze Buch nochmals zusammengefasst hat. Warum eigentlich?

Meine Meinung
Ich habe dieses Buch sehr genossen zu lesen. Nicht nur was das Zwischenmenschliche im Zusammenleben mit den Tieren betrifft, spannend fand ich auch das Fachwissen, an dem uns die Autorin ebenso teilhaben lässt. Gerade was die Berichte zu anderen Tierarten betreffen, habe ich viel Neues dazulernen können.

Mein Fazit
Mein Fazit schließe ich mit einem Zitat:

Um das Leben jeglicher Tiere zu verstehen, braucht man nicht nur ein gehörig Maß an Neugier, Wissen und Verstand. (...) Ich würde nicht nur mein Gehirn öffnen müssen, sondern auch mein Herz. (57)

Wer also Tiere verstehen will, muss es mit Herz und Verstand tun. Gilt aber auch im Umgang mit Menschen im eigenen Land und in anderen Ländern.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Nun, eigentlich war es Tina, die mir dieses Buch empfohlen hat. Sie selbst besitzt die Taschenbuchausgabe. Ich kannte die Autorin Sy Montgomery bisher überhaupt noch nicht. Und bin der Tina unsagbar dankbar für diesen Wink, denn durch die Autorin verstehe ich mein Verhalten zu meinen Tieren nun viel besser, sodass ich mir vorgenommen habe, die Autorin mit zu meinen Lesefavoriten anzureihen und habe vor, alle Bücher von ihr nach und nach zu lesen. Eine wunderbare Möglichkeit, mein Leseprojekt Den Tieren eine Stimme geben mit dieser Autorin weiter zu füllen.

Mit der Autorin setze ich in den nächsten Monaten mit zwei weiteren Werken fort. Ich habe mich für die Bücher entschieden, die die Exoten behandeln, weil ich so gerne mehr dazulernen möchte. Später schaffe ich mir noch die Bücher zu dem Schwein Chris, zu ihren Hunden und zu den Katzen an. 


Meine Bewertung / 14 Punkte

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Empathisch und sachlich)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere in Mensch und Tier
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; autobiographische Erzählweise
2 Punkte: Anregung zur Vertiefung, zum weiteren Erforschen und zur Erkundung
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

2 Sonderpunkte wegen des Lesehighlights.

________________

Gelesene Bücher 2021: 02
Gelesene Bücher 2020: 25
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Lesen mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.


Sonntag, 3. Januar 2021

John Irving / Owen Meany (1)

 Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Was für ein toller Irving. Mit welcher Raffinesse er hier seine Fäden gesponnen hat, um seine Leser*innen in den Bann zu ziehen. Einmal hatte ich mich sogar so richtig gefoppt gefühlt, ich hatte echt gedacht, der Autor will uns Leser*innen hinters Licht führen, uns einen Streich spielen. Ich war total desillusioniert an einer Stelle, auf die ich sehnsüchtig gewartet hatte, endlich eine Antwort auf eine bestimmte Frage zu erhalten. Mehrere hunderte von Seiten musste ich mich in Geduld üben, bis die Antwort schließlich erfolgte. Eine Antwort, mit der ich partout nicht gerechnet hatte. Ich war total perplex. Doch durch das aufmerksame Weiterlesen, man musste sich weiterhin in Geduld üben, kam für mich die Erlösung. Nein, Irving wollte nicht über uns Leser*innen witzeln, sondern Schabernack treiben zu einer bestimmten Institution ... und manchmal sogar zu bestimmten spießigen Figuren, die mich auch amüsiert haben.

Aber Irving ist auch fair, keine mir gestellte Frage ließ er offen, die Antworten kamen alle erst in späteren Kapiteln, was ich als angenehm empfunden habe, weil es den Reiz hatte, unbedingt weiter lesen zu müssen. Manchmal kam eine Antwort erst nach mehreren hundert Seiten. Eine weitere Antwort kam erst zum Schluss. 852 Seiten, man bekam genug Zeit, alle diese Antworten zu finden. Somit war man echt gefordert, mit den Figuren mitzugehen und mitzudenken, wobei viele meiner Hypothesen nicht aufgegangen sind.

Ich habe auf Facebook so viel darüber geschrieben, dass ich jetzt gesättigt vom vielen Schreiben bin und ich mir ein paar Notizen von dort hier auf meinen Blog hieven möchte.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Dieses Mal ziehe ich meine Buchbesprechung anders auf, da das Buch dermaßen tiefgründig ist, auch die Figuren sind sehr außergewöhnlich und vielfältig, dass ich hier überhaupt nicht sagen kann, wer von den vielen Figuren mir besonders gut gefallen hat. Es waren mehrere. Selbst meine Identifikationsfigur hat sich im Laufe des Lesens gewandelt. Wobei ich mich meistens in Owen gespiegelt hatte, der vor allem in der Welt der Erwachsenen sich so sehr kritisch bezogen hatte, in dem er sich ihr auflehnen musste. Das Schöne an ihm, er ging seinen Weg ... Owen war auch seinem besten Freund John gegenüber eine sehr große Stütze. In der Schule und im späteren Leben, auch weil er Johns Mutter ein Versprechen abnehmen musste ... 

Meine Rezension / Meine Leseerfahrung mit dem Buch
Als ich Owen Meany in der hiesigen Nacht beendet habe, ließ er mich sehr nachdenklich und traurig zurück. Irgendwie befand ich mich am Ende in einem Trance ähnlichen Zustand. Erst war ich zum Schluss etwas gelähmt, musste einiges noch sacken lassen. Was ich vor 450 Seiten durch das Lesen zwischen den Zeilen vermutet hatte, hob sich Irving die Details hierzu für den Schluss auf. 

Owen Meany - Für mich der beste Irving / Die Kindheit von Owen und John
Aber wie ich schon auf der #Diogenes Verlag - backlistlesen - Seite auf Facebook geschrieben habe, ist dieses Buch der beste Irving, den ich bisher gelesen habe. Dieser sehr kritische, differenzierte und recht authentisch geschriebener Gesellschafts- und Familienroman erschien 1990 im Diogenes Verlag, 1989 fand die Erstveröffentlichung in Amerika statt.

Nicht nur, dass das Buch eine Kindheit zweier unterschiedlicher Jungen der 1950-er und 1960-er Jahre behandelt, beide 1942 geboren, schließt das Werk zu dem noch eine umfassende Amerikanische Geschichte mit ein, ohne das Buch damit zu überladen .... 

John Irving war seiner Zeit voraus / Politischer Weitblick, der in die Zukunft führt
Ich hänge außerdem dem Gedanken nach, ob Irving so etwas wie einen Weitblick hatte? Konnte er damals, als er das Buch schrieb, z. B. einen Donald Trump, der einerseits eine Witzfigur darstellt, andererseits eine sehr gefährliche Kreatur im Politikum ist, voraussehen? Mich hat dieses Buch auch hierbei sehr beeindruckt, und sicher bin ich mit diesen wenigen Zeilen noch lange nicht fertig mit der inneren Verarbeitung. 

John Iring - Owen Meany und Günter Grass - Oskar Matzerath
Zwischenzeitlich hat mich diese kleine Figur Owen an den kleinen Oskar von der Blechtrommel erinnert. Oskar wollte nicht erwachsen werden, weil auch er mit der erwachsenen Welt nicht klar kam und hat recht früh gelernt, deren Macken zu durchschauen, um dagegen zu rebellieren. Ich hatte aber noch nicht den Mut, diese Parallele Owen zu Oskar zu ziehen, und ziehe sie jetzt, nach dem ich mit dem Buch durch bin.

Wo spielt die Handlung?
Die Kindheit der beiden Protagonisten John Wheelwright und Owen Meany spielt in Gravesend, New Hampshire, im Bundesstaat der Vereinigten Staaten. Der erwachsene John wandert durch eine Identitätskrise als Amerikaner nach Kanada aus und lässt sich dort einbürgern. Die Amerikanische Geschichte umfasst die Nachkriegszeit, John F. Kennedy, die 1968er Bewegung, Vietnam Krieg, u. v. m.

Owen Meany ist eine hochsensible und strenggläubige Persönlichkeit, die ihn aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit über einen Gendeffekt zu einem besonderen Menschen im Positiven wie im Negativen macht. Owen Meany  ist groß im Denken und groß im Fühlen ... Aber er ist mit seinen 150 cm nicht nur klein geraten, auch sein Kehlkopf ist von dem Gendeffekt betroffen, der Owen dadurch mit einer extrem auffälligen, schrillen Stimme ausstattet, die selbst mit dem Älterwerden nicht aus ihm herauswachsen will ... Er muss sich bei den Gleichaltrigen aber auch bei den Erwachsenen durchsetzen, um gesehen zu werden. Die Stimme allerdings verschafft ihm mit der Zeit Gehör ... Er verfolgt durch seine kleinwüchsige Besonderheit eine religiöse Mission, und fühlt sich von Gott auserwählt, diese Mission zu erfüllen. 

Owens Vater ist im Steinbau tätig und führt ein eigenes Granitgeschäft. Die Mutter lebt angeblich wegen einer schweren Feinstauballergie hinter verschlossenen Türen und Fenstern und zeigt ein seltsames Verhalten auch Owen gegenüber. Die Eltern sind sehr religiös, waren erst Katholiken, sind allerdings aus der katholischen Kirche ausgetreten, da ihnen das Leben aus bestimmten Gründen von der Kirche her schwer gemacht wurde und sind in die Episkopalkirche konvertiert, in der auch die Familie Wheelwright angebunden ist, die zuvor zu den Kongregationalisten zählte ...

Owen selbst ist stark dem Gott-Glauben gebunden und schon in Kinderjahren bibelfest. Er zeigt allerdings eine extrem starke Rebellion der katholischen Kirche gegenüber ...

Auch John Wheelwright hat Ecken, da er vaterlos ist. Seine alleinerziehende Mutter Tabitha  verschweigt ihm den Namen des Erzeugers ... Es ist Owen, der sich ihm bei der Vatersuche behilflich zeigt ... So richtig alleinerziehend ist die Mutter aber nicht, denn in Johns Erziehung wirkt auch ihre Mutter Harriet mit ein. 

Zwischen Owen und John entwickelt sich eine besondere und lebenslange Freundschaft. Owen ist körperlich zwar klein geraten, aber zeigt immense geistige Größe und erhält als Schulbester jeden Schulabschluss, den er haben wollte … Er wird sogar an der Gravesent - Akademy Schulsprecher und kritischer Autor einer regelmäßigen Schülerzeitung. 

Eine besondere Rolle spielt auch Johns Mutter in Owens Leben, allerdings nicht nur, dass sie die durch sein Einwirken über einen sportlichen Unfall tödlich aus dem Leben gerissen wurde …

Cover und Buchtitel 

Das Cover hat mich sehr angesprochen und noch vor dem Lesen musste ich mich fragen, welche Bedeutung es haben könnte? Die Auflösung ist dem Buch zu entnehmen. Das Motiv, eine ärmellose Schneiderpuppe mit dem roten Kleid, ist als ein Double mit Johns Mutter in Verbindung zu bringen.

Zum Schreibkonzept
Das Buch beginnt mit einer Widmung an John Irvings Eltern. Auf der folgenden Seite gibt es zwei Bibelverse, anschließend einen dritten Spruch, der sich auch an die Christmenschen richtet. Diese drei Verse bereiten die Leser*innen auf die Hauptthemen des Buches vor.

Owen spricht in Großbuchstaben. Im Buch ist ein Kapitel mit Die Stimme belegt. 

Anschließend ist ein Inhaltsverzeichnis abgedruckt, das mit neun Kapiteln untergliedert ist. Das Werk umfasst 852 Seiten. Am Ende ist eine Danksagung mit abgedruckt.

Der Schreibstil ist flüssig und sehr authentisch sind die Lebensereignisse und die Charaktere aller Figuren beschrieben. Die Geschichte wird in der Retroperspektive aus der Ich-Perspektive des erwachsenen Johnny Wheelwright erzählt.

Die Erzählperspektiven wechseln ab zwischen Vergangenheit (1950er und 1960er-Jahre) und der Gegenwart (1987).

Die Erzählstruktur ist sehr strategisch gewählt, sodass dadurch die Neugier bis zum Schluss lebendig bleiben konnte.

Meine Kritik?
Ich kann mir vorstellen, dass viele Owen als einen kleinen witzigen Gnom in der Luft zerreißen werden, obwohl er alles andere als witzig ist. Mir ist er dagegen wohlwollend ans Herz gewachsen. Mit seiner außergewöhnlichen charismatischen Art schafft er es, andere 
von seinen Ideen zu überzeugen und andere wiederum zur Weißglut zu bringen. Wie aus dem Werk zu entnehmen ist, war er durchaus auch ein Mensch, den man lieben konnte. Man kann Owen  mögen, man kann ihn aber auch als unausstehlich, unsympathisch und als unbequem wahrnehmen. Es gibt etliche Szenen, die aufstoßen lassen, dennoch halte ich zu ihm. Nicht nur, dass er Mut bewiesen hat, ein Leben seiner Art zu meistern, sondern weil er in der Lage war, sich kritisch einem System gegenüber zu stellen, das von anderen nicht hinterfragt wurde. Wobei Mut nicht der richtige Ausdruck ist. Er hat agiert, weil er nicht anders konnte. Er musste einfach Missstände aufdecken. Und er musste diese Missstände aufzeigen, den Menschen radikal den Spiegel vorsetzen, sie aufrütteln, wenn er weiter in seiner Welt überleben wollte. Ich beneide ihn, weil er mit seiner Energie so viel Kampfgeist bewiesen hat, und er damit viele Menschen zum Nachdenken bewegt hat. Er war in allem einfach schlagfertig aber nicht im Bösen, nicht in einer narzisstischen und egomanen Form. Ihm ging es nicht um Konkurrenz und um recht haben müssen, nicht um besser sein müssen als andere. Ihm ging es immer um die Sache selbst, für die er eingestanden hat.

Mein Fazit
Ein Buch über Freundschaft, Religion, Liebe, Lügen, Politik. Ein großes Buch über Loyalität. Ein Buch über Wunder …

Nach dem Lesen musste ich die ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende nochmals vor meinem inneren Auge Revue passieren lassen. Dieser Irving hat es verdient, ein zweites Mal gelesen zu werden.

Viel Feingefühl, viel Esprit und jede Menge Weisheiten hat er in seine Geschichten gewoben.

Owen Meany ist in meine Seele eingezogen und wohnt da erst mal. 

Mein Highlight zum Jahresabschluss von 2020.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Obwohl dieses Buch mittlerweile zu den modernen Klassikern zählt und es viele Irving-Fans schon nach der Erstveröffentlichung gelesen haben, gibt es doch noch einige wie mich, die erst jetzt empfänglich für diesen Buchtitel geworden sind. Im Netz wurde ich auf eine Buchbesprechung dazu aufmerksam und musste mir, nach dem ich den Klappentext studiert hatte, das Buch unbedingt auch zulegen.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (sachlich, fantasievoll, distanziert)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; autobiographische Erzählweise
2 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur, Gliederung: Ungebunden
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

12 von 12 Punkten

________________

Das erste Wunder, an das ich glaube,
ist mein eigener Glaube.
(Owen Meany)

Gelesene Bücher 2020: 25
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen

Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

„Bäume haben Wurzeln, doch Menschen haben Beine, und der liebe Gott wird sich schon bei der Einrichtung der Welt auf diese Weise etwas gedacht haben. Im Grunde sind wir nicht dazu da, ortsfest wie ein Baum zu leben“.
(Denis Scheck im Interview mit Iris Wolf, aus ARD-Buchmessenbühne 2020)

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)

 


Sonntag, 1. November 2020

Oscar Wilde / Das Gespenst von Canterville

 Klappentext  

Das Gespenst von Canterville nimmt seine Pflichten sehr ernst: Schlossbewohnern und Gästen muss zuweilen der Schlaf geraubt werden. Wozu trägt man sonst die schweren Ketten? Die Opfer müssen ja nicht gleich, wie einst Lady Stutfield, den Verstand verlieren. Als der amerikanische Gesandte Mr. Otis das englische Anwesen kauft und mit Frau und Töchtern einzieht, ist der Schlossgeist not amused. Und es kommt noch schlimmer: Der unerschütterliche Materialismus und die Respektlosigkeit der Yankees stürzen ihn in eine veritable Sinnkrise. Was tun, wenn man mit ganzer Kraft und in bewährter Qualität spukt, aber nur Gelächter erntet? Oder, noch schlimmer, von zwei vorlauten Mädchen mit Kissen beworfen wird? Noch nie, kein einziges Mal in seiner dreihundert Jahre langen Karriere, hat man das Gespenst derart beleidigt …

Autor*inporträt

Oscar Wilde, der mit vollem Namen Oscar Fingal O' Flahertie Wills Wilde hieß, wurde am 16. Oktober 1854 in Dublin geboren und ist einer der bedeutendsten irischen Schriftsteller. Als schillernde Lichtgestalt des "L'art pour l'art" wurde er im viktorianischen England u. a. für sein extravagantes Auftreten bewundert. Häufig war der Dandy auch wegen seiner skandalträchtigen Werke im Gespräch, in denen er die Prüderie der damaligen Gesellschaft vorführte. 1890 veröffentlichte Oscar Wilde seinen berühmten Roman "Das Bildnis des Dorian Gray". 1895 wurde der Familienvater wegen Unzucht und Homosexualität zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach Verbüßung dieser Strafe verließ er - verarmt und gebrochen - England und lebte bis zu seinem Tod am 30. November 1900 in Paris.

Buchdaten

·  Originaltitel : The Canterville Ghost

·  Gebundene Ausgabe : 96 Seiten

·  ISBN-13 : 978-3311270034

Eine Halloween-Lektüre

Meine Freundin Anne nahm Halloween zum Anlass, daraus ein Geister und Gespenster Leseprojekt auf Mojoreads zu starten, das am Samstag den 31.10.2020 begonnen hat und am Sonntag, den 01.11.2020 um 22:00 Uhr beendet wird. Dadurch, dass ich nicht so gerne Bücher dieses Genre lese, wollte ich dennoch mitmachen, da ich ein Geisterbuch von Oscar Wilde habe finden können, das mich zum Mitmachen angestoßen hat. Auch, weil ich dadurch unsere Lesebeziehung, Annes und meine, ein wenig festigen wollte. In dem Bücherforum Mojoreads haben sich dazu jede Menge andere Leser*innen angeschlossen. Aber jede*r mit einem anderen Werk.

Meine obige Lektüre habe ich gestern Abend ausgelesen. Aber sie hat mir nicht besonders gut gefallen. Mich hat es überhaupt nicht gegruselt. Ich fand die Erzählung auch nicht spannend. Das Beste davon war für mich der Schluss, der sehr menschlich und liebevoll zwischen den Protagonist*innen gewählt wurde.

Es hat mir sehr gefallen, dass die junge Virginia Otis, 15 Jahre alt, Mitleid mit einem bösen Geist hatte, der einst seine eigene Gattin ermordet hatte. Der Geist namens Sir Simon musste von seiner bösen Tat erlöst werden, und spukte über fünfhundert Jahre fieberhaft und unglücklich in dem Schloss Canterville herum. Virginias Familie, die aus Amerika nach England kam, kaufte dieses Schloss samt dem Geist. 

>Mylord<, antwortete der Gesandte, >ich will die ganze Einrichtung und den Geist dazu kaufen, Ich komme aus einem modernen Land, wo wir alles haben, was mit Geld zu bezahlen ist.< (2019, 6)

So richtig daran glauben konnte Mr Otis nicht, und machte sich einen Witz daraus. Doch ein immer wiederkehrender Blutfleck auf dem Boden der Bibliothek sorgte stattdessen für Verwunderung ... Nur der jungen Virginia war es möglich, den Geist ausfindig zu machen, sodass zwischen ihnen beiden eine Beziehung entstand. Durch Virginias Anteilnahme dem Geist gegenüber schaffte sie es, den Geist zu erlösen …

Dennoch gibt es ein Geheimnis zwischen Virginia und Sir Simon, das sie nicht einmal ihrem Verlobten offenbarte … Welches das ist, lest selbst.

Hier geht es zu Annes gelesene Geschichte. 

Montag, 21. September 2020

Raffaella Romagnolo / Bella ciao (1)

 Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Foto: Italienisches Buchcover

Ein Buch, das nach Leben und Menschlichkeit schreit

Ich habe viel über dieses Buch schon während des Lesens nachgedacht, dass ich gerne darüber schreiben möchte. Es ist mit so vielen Post it beklebt, dass es mir zeigt, mit wie viel Facetten mich diese Lektüre doch begleitet hat. Ich werde leider nicht alle Buchseiten bearbeiten können und stehe vor einer schwierigen Entscheidung.

Es gibt so viele Szenen, die mich innerlich beschäftigt haben, dass ich sie unbedingt hier festhalten möchte. Wie soll man sonst über ein Buch sprechen, wenn man so viele Gedanken unterdrücken muss??? Ich schreibe gerne, und ich denke gerne, das bin ich, wenn ich mich durch eine so gute Lektüre wie diese ausdrücken darf und mir keine Verbotsschilder aufgesetzt werden. Schweigen kann ich später in meinem Grab, wenn mein Leben vorbei ist. Ich lese, also bin ich …

Wer inhaltlich im Vorfeld nicht so viel erfahren möchte, bitte ich nur die Buchvorstellung zu lesen, mit der man sich hier weiter unten verlinken kann ... Wer aber Dinge über Italien lesen möchte, die bislang weitestgehend unbekannt waren, lade ich zum Weiterlesen ein. Es bleiben trotzdem noch viele wichtige Punkte übrig, die ich hier unerwähnt gelassen habe.

Ich nutze durch Romagnolo die Gelegenheit, zu ihrem Buch an mein Wissen anzuknüpfen, das ich durch verschiedene Fachbücher zu Italien mir erworben habe.

Und am Ende der Buchbesprechung verlinke ich zu einem amerikanischen Spielfilm mit dem Titel Im Teufelskreis der Armut, den man sich kostenlos anschauen kann. 

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Handlung gebe ich sprunghaft wieder, wie ich dies beim Lesen erlebt habe.

Die Heldin dieses epochalen Familienepos ist Giulia Masca, die als ganz junges Mädchen schwanger von zu Hause ausgebrochen ist. Sie hat all ihre Ersparnisse zusammengekratzt und sich auf ein Schiff nach Amerika begeben. Geschuldet war die Flucht nicht der Schwangerschaft, sondern dem Partner Pietro Ferro, der sich mit einem anderen Mädchen namens Anita Leone zusammengetan hat. Pietro und Giulia kennen sich seit frühster Kindheit und waren sicher, wenn sie groß sind, würden sie gemeinsam in den Bund der Ehe treten ...

Die Handlung beginnt in New York, als Giulia über ihre Vergangenheit im italienischen Piemont reflektiert. Es ist das Jahr 1946. Giulia ist 1901 von zu Hause abgehauen, ohne ein Sterbenswörtchen der Mutter zu hinterlassen. Der Vater, der unter einer Alkoholsucht litt, kam ums Leben, als Giulia gerade mal acht oder neun Jahre alt war. Die Handlung bewegt sich in der Erzählweise im Wechsel zwischen Borgo di Dentro und New York ...

Das Schicksal wollte es anders. Giulia ging nun nicht die Ehe mit Pietro ein, sondern mit einem nach Amerika eingewanderten Italiener namens Libero Manfredi, der doppelt so alt ist wie Giulia selbst. Während Manfredi vorurteilslos sich dem jungen schwangeren Mädchen annimmt, wird Giulia von dessen Familie als Hure verspottet … Als Giulias Kind auf die Welt kommt, nimmt Manfredi diesen Sohn wie einen eigenen an und gibt sich als seinen Vater aus. Manfredi ist Krämer von Beruf. Er ist ein Illiterat, hat nur Rechnen gelernt. Als Krämer hat er es dennoch geschafft, sich in Amerika durch mehrere Läden einen Namen zu machen. Verkauft werden viele italienische Produkte.

Pietro ging hingegen die Ehe mit Anita ein, die zur selben Zeit schwanger wurde wie Giulia. Beide junge Frauen fühlten sich zu Pietro hingezogen, nur wusste die ahnungslose Giulia dies nicht.

Als sie wortlos verschwand und sie nicht wiedergefunden werden konnte, plagten Anita und Pietro stille Schuldgefühle.

 Auch Anita bringt einen Sohn zu Welt, der den Namen Nico erhält ...

Ihren Mann Pietro verliert Anita im Zweiten Weltkrieg. Später auch ihren Sohn, indem er von deutschen Soldaten tödlich verletzt wurde.

Giulia ist aber durch die Flucht auch der Armut und der harten Arbeit entronnen. Sie stammt wie viele ihrer Landsleute aus ärmlichen Verhältnissen, die weder lesen noch schreiben konnten. Die Reichen im Land übten Druck auf die Kleinen aus und ließen für einen Hungerlohn für sich arbeiten. Trotz der Schulpflicht wurde Giulia nach drei Grundschuljahren von der Bildungseinrichtung genommen, um zusammen mit ihrer Mutter in einer Seidenspinnerei zu arbeiten. Durch die Ausbeutung der Arbeitskräfte sind die Menschen unzufrieden und es kommt zu schweren politischen Unruhen und Krawallen. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Freiheit und Gleichheit, nach Barmherzigkeit ist groß, wofür die Menschen bereit waren zu kämpfen…

Giulia fragt sich häufig, ob sie mutig war, einfach auszubrechen oder war sie nur zu feige, ihre Konflikte zu klären und auszutragen?

Nach über vierzig Jahren kehrt Gulia mit ihrem erwachsenen Sohn Michele für drei Wochen nach Piemont zurück und hofft, ihre Mutter, Pietro und Anita wieder zu sehen … 

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Es waren recht viele Szenen, die mich beim Lesen sehr traurig und nachdenklich gestimmt haben. Ich entscheide mich für drei folgende Episoden, die ich hier gerne niederschreiben möchte.

Episode 1- Giulias Bruch mit ihrer Nation und der Mutter
Sehr traurig fand ich den plötzlichen Abbruch Giulias zu ihrer Mutter. Giulia selber ist mit ihrem Gewissen geplagt, weshalb sie nie den Namen ihres Mannes hat annehmen können. Sie trug auch nach der Heirat noch ihren Mädchennamen Giulia Masca.

>Ich bin nicht du, Mama< Hat sie es deshalb nie geschafft, sich ganz als Giulia Manfredi zu fühlen, oder auch einfach als Giulia? War sie zu sehr damit beschäftigt, mit Assunta zu streiten, sogar aus 6500 km Entfernung? Zu viel Wut. >Mama, hörst du mich? Ich bin nicht du!< (2019, 193)

Giulia hatte versucht, von Amerika aus erneut Kontakt zur Mutter aufzunehmen, hat ihr ein Foto ihres Sohnes geschickt, eine Einladung und Geld, damit sie sie in Amerika besuchen könne. Assunta Masca war so gekränkt, dass sie die Briefe unbeantwortet ließ, sie nahm lediglich das Geld heraus, um damit für ihr späteres Begräbnis zu sparen.

Im Laufe der Jahre musste die mittlerweile Identität geplagte Amerikanerin erkennen, dass ihre Mutter einen harten Überlebenskampf führen musste. Giulia begann zu verstehen, dass die Mutter keine böse Natur war, sondern nur arm.

Assunta hat getan, was sie konnte, das weiß Giulia jetzt. Es gibt keine Rechnungen zu begleichen, es gibt nichts zu verzeihen. Alle tun wir unser Bestes. (514)

Einen schönen Satz hat Romagnolo geschrieben, den ich unbedingt festhalten möchte, der allen anderen Familien Mut machen soll: Familie heißt, füreinander da sein. Leider finden die meisten Zerwürfnisse ganz besonders in Familien statt, die häufig bis zum Tod unversöhnt bleiben, wie ich dies aus meiner psychiatrischen Berufspraxis von meinen Klient*innen heraus kenne und erfahren habe. Auch die Seniorenheime sind voll von alten Menschen, bei denen der Kontakt von den Kindern aus unterschiedlichsten Gründen abgebrochen wurde, und so vereinsamen die alten Leute vor sich hin. Ebenso im Freundeskreis gibt es Fälle dieser Art.

Episode 2 – Libero Manfredis depressive Krise
Giulias Mann sollte einberufen werden, der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen. Libero Manfredi bestand die medizinische Untersuchung nicht, da er Analphabet war und wurde als imbezil eingestuft. Er wurde dadurch ausgemustert und wieder zurückgeschickt. Er fiel in eine schwere depressive Krise, lag apathisch im Bett, verlor jegliches Interesse am Leben. Giulia ging das sehr nahe und meinte, dass niemand das Recht habe, einfach stehen zu bleiben, „denn Gehen heißt Leben“. Gehen heißt Leben und das Beste aus seiner Lage machen …

>Niemand hat die Freiheit, einfach stehen zu bleiben, nicht wahr, Miss Liberty?< (131)

Keine Wertschätzung vonseiten Amerika, das bekannt ist als das Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten, wofür die Freiheitsstatue steht, vor der Giulia ihren Gedanken nachgeht. Dass Manfredi trotz der Bildungsarmut dennoch ein erfolgreicher Geschäftsmann wurde, galt in Amerika nicht als nennenswerter Erfolg.

Episode 3 – Pietro Ferro im Krieg
Pietro ist im Krieg und ist kriegsmüde und sehnte sich nach seiner Frau Anita. Er möchte ihr einen Brief schreiben, und es fehlen ihm aber die richtigen Worte. Es fällt ihm schwer, ihr zu schreiben, wie es ihm wirklich geht, wie schrecklich dieser Krieg doch sei. Er möchte seine Frau nicht beunruhigen. Im Graben liegt ein toter deutscher Soldat. Pietro findet bei ihm einen Liebesbrief an dessen Frau. Er ist angetan von seinen Worten und möchte am liebsten diesen Brief stehlen und seiner Frau schicken. Aber da stehen auch Worte von Vaterlandsliebe, die Pietro am liebsten auslöschen würde, da er dieses Gefühl selbst nicht kennen würde.

Diese Episode hat mich tief berührt, dass der italienische Soldat betäubt vom Krieg einen Brief stehlen wollte, die Worte stehlen, die der deutsche Soldat an seine Frau gerichtet hatte. Und die These zur fehlenden Vaterlandsliebe, wo doch viele hier denken, dass die Italiener*innen alle stolz auf ihr Land aufsehen, was aber in Wirklichkeit nicht stimmt. Weiter unten habe ich geschrieben, warum die Italiener*innen Identitätsprobleme haben. Nicht nur wegen der schwachen italienischen Regierung seit eh und je …

Welche Szene hat mir gefallen?

Es gibt zwei Episoden angelehnt an Zitate …

Episode 1 – Giulias Schulerfolg – Die Anerkennung ihrer Familie

Am letzten Schultag stehen sie alle beide draußen. Er nüchtern, rasiert, in sauberem Hemd, sie im Sonntagskleid, mit glänzenden Stiefelchen und einem Schildpattkamm im Haar. Es sind noch andere Eltern da, wegen der Zeugnisse. Sie setzten sich zu dritt auf die Stufen, Giulia in der Mitte. Sie liest ihnen vor: Drei, Zwei, viele Einsen, doch die beiden sahen sie zweifelnd an. 

In dem Augenblick tritt Primo Leone mit Anita an der Hand zu ihnen. Er will die Noten sehen, wirft einen raschen Blick darauf, macht große Augen, um sie zu belustigen, und drückt ihr zum Schluss die Hand, wie es unter den Großen Brauch ist: >Meine Hochachtung, Signorina Masca. Sogar in Rechnen eine Eins!<

Die Piazetta leert sich, auch der Herr Lehrer (…) geht davon, nickt ihrer Mutter zu und zieht vor dem Vater den Hut. Als sie allein sind, holt Erminio Masca ein größeres Päckchen aus der Tasche. >Zur Feier des Tages<, sagte er. >Du kannst doch so gut rechnen, teil es gerecht auf.<

Auf ihren Knien faltet Giulia das Päckchen auseinander und zählt im Kopf siebenundzwanzig glasierte Haselnüsse. Dann sagt sie ganz leise, als wäre der Lehrer noch dabei: > ja, ist teilbar<, und macht drei Häufchen von je neun. Sie ist so aufgeregt, dass sie nicht einmal herausbringt: > Bitte sehr, nehmt Euch.< Sie blickt auf das greifbare Ergebnis aus Zuckerglasur, mustert aus dem Augenwinkel die gerade Linie des frisch gestutzten Schnurrbarts ihres Vaters und die Handschuhe, die die Mutter aus der Kommodenschublade gefischt hat, um ihre verunstalteten Finger zu verbergen: (Die Finger waren durch die harte Arbeit in der Seidenraupenspinnerei entstellt, Anm. d. Verf.) Sie möchte für immer so bleiben, in diesem Augenblick vollkommenen Glücks, während die Menschen, in ihre Geschäfte und Gedanken vertieft, ahnungslos vorübergehen. Doch dann hat Assunta einen Handschuh ausgezogen, Erminio Masca hat sich eine Haselnuss genommen, und alles war zu Ende. (345)

Obwohl die darauffolgenden Sätze den Tod des Vaters ankündigen, woran, ist im Kontext nicht festgelegt, fand ich diese Szene, den Schulerfolg durch die Eltern mitgetragen zu haben, als eine zwar nur kurzlebige Glückseligkeit, dennoch wunderschön. Ich habe noch lange daran gezehrt. Zu schön, sich vorzustellen, wie sich die Eltern für die Tochter rausgeputzt haben. Und dass der eigentlich alkoholisierte Vater doch einen sehr weichen Kern besaß, wie man dies bei vielen männlichen Alkoholikern beobachten kann. Sie trinken aus purer Verzweiflung durch schwierige Lebensumstände, mit denen sie nicht fertig werden. (336)

Episode 2 – Der weinende Arzt und die Vergebung
Doktor Costa muss im Beisein von Anita, die durch die Todesfälle in ihrer Familie schon vorbelastet ist, Pietros älteren Bruder Achille Ferro, der den italienischen Partisanen sich angeschlossen hatte und von den Feinden erwischt und übelst zugerichtet wurde, eine Todesspritze setzen lassen, um diesen von dem Leid zu erlösen, da er nicht mehr zu retten war. Der Arzt konnte auch Anitas Sohn Nico nicht mehr retten, was ihm zu schaffen macht.

>Glauben Sie mir? Sie müssen mir glauben, Anita< Schwarzhemd, Kniehosen. Die Arroganz. Anita bringt keine Antwort heraus.

Der Arzt schlug die Hände vors Gesicht. >Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid<, schluchzte er, und Anita begreift, dass dieses Weinen alles enthält, was der Arzt nicht mit Worten ausdrücken kann: seine Jugend und die von Nico, die Entscheidungen, der Zufall, das Schicksal.

Sie tritt zu ihm, nimmt seinen Kopf zwischen die Hände, und er klammert sich an ihre Rockschöße.

Seine Schultern beben. Sie lässt ihn sich ausweinen, streicht über seine schütteren Haare. Auch Nico wären sie ausgegangen, alle Ferros bekommen früh kahle Schläfen. Sie denkt an die jungen Widerstandskämpfer, zu denen der Arzt nachts hinaussteigt, um sie zu behandeln. Dutzende. Sie denkt an Gatto und an Hamlet. Kleine Tränen der Erleichterung rollen über ihre Wangen. Ihr wird leicht ums Herz, sie fühlt, wie der Hass, der sich in all den Jahren abgelagert hat, sich auflöst, wie angetrocknete Seife und fortgespült wird. Ist das die Vergebung, von der die Pfarrer sprechen? Dieses unvermutete Vermächtnis füreinander, diese Verbindung zwischen dem, der vergibt, und dem, dem vergeben wird? (492)

Welche Figur war für mich Sympathieträgerin?
Am Ende waren es Anita und Giulia, aber auch Giulias Sohn Michael und Libero Manfredi. Auch Adelhaid fand ich sympathisch, die sich als Frau für Politik interessierte. Sie sich in Männerkleidung begab, um für das Land mitzukämpfen. 

Welche Figur war mir antipathisch?
Alfonso Risso, der hinterhältig war und mit einem Fußtritt einen Hund der Leonis getötet hat.

Meine Identifikationsfigur
Es hat lange gedauert, bis ich mich in eine der Figuren habe spiegeln können. Ich sah mich anfangs in Anita, doch erst am Ende war ich mir sicher, dass sie es ist, deren Namen ich hier festhalten möchte. Anita Leone-Ferro.

Cover und Buchtitel
Den Titel Bella ciao fand ich unpassend. Besser finde ich den Originaltitel Destino – Schicksal.


Bella ciao ist nichtsagend, auch wenn der Titel auf der Seite 509 in die Nationalhymne gepackt wird, sodass ich im Internet mir die gesamte Nationalhymne runtergeladen habe, und habe dort allerdings nirgends etwas von „Bella ciao“ entnehmen können. Das Cover von der Büchergilde finde ich etwas zu bunt, aber die Idee, beide Staaten, Italien und Amerika, auf den Kopf zu stellen, soll die Gegensätze aufzeigen, finde ich künstlerisch gelungen, wenn es aber auch viele Gemeinsamkeiten gibt, die man auch mal ruhig in den Fokus hätte rücken können.

Das Cover von Diogenes finde ich für mich ansprechender, wobei die Figur darauf sicher die Hauptfigur Giulia Masca darstellen soll. Aber warum dunkelhaarig? Giulia hat blonde Haare und blaue Augen. Überhaupt fand ich es schön, dass die Figuren im Buch bunt waren, es gab auch Rothaarige. Figuren mit blauen

und grünen Augen, große und kleine Italiener*innen. Warum dürfen Italiener*innen nicht blond … und hellhäutig sein? Warum halten ausländische Verlage so an diese Stereotypen fest? Selbst meine Herkunftsfamilie, die nicht aus dem Norden Italiens kommt, ist bunt gemischt. Viele Blondhaarige, viele mit blauen und grünen Augen, nicht alle haben schwarze Augen bzw. schwarze Haare. Warum darf Vielfalt im Süden nicht sein? Sowohl im Auftreten als auch von der Genetik her werden sie immer als Exoten dargestellt. Ein Schwarz-Weiß-Bild, das ich in meiner Familie nicht bestätigen kann. Hell ist der Norden Europas, dunkel der Süden. Doch auch der Norden ist bunt und ist keineswegs nur hell. Es wird ein Wunschbild kreiert, wie man sich wünscht, wie Menschen aus anderen Ländern auszusehen haben. Und diese Bilder sind fest in den Köpfen der Leser*innen programmiert. Man verbindet damit auch bestimmte Verhaltensweisen, wie z. B. Heißblütigkeit, u. a. negative Attribute.

Verbrecher und Kriminelle werden zum Beispiel meist dunkelhaarig dargestellt. Die Hellen werden häufig als sanft und sensibel beschrieben. Ich bin froh, Romagnolo gelesen zu haben, denn in ihrem Roman gibt es auch weinende, italienische Männer. Selbst in meiner Familie gibt es sehr sensible Männer, die in belastenden Situationen durchaus Tränen vergießen können. Nicht alle sind hart gesottene Machos. Aber will man solche Männer? Hier in Deutschland werden sie als Weicheier beschimpft.

Woher mein kritischer Blick? 
Durch mein Hauptstudium der Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt, als ich damals neben meinen anderen Nebenfächern auch das Fach der Migrationspädagogik mitbelegt hatte, wurde uns Student*innen der Blick geschärft, Bilder in der Literatur, auch durch Wort und Schrift gegenüber den Personenbeschreibungen kritisch anzugehen. Selbst in Schulbüchern ist häufig versteckter Rassismus verbreitet. Kinder werden frühzeitig geimpft, in dem sie Migrant*innen mit bestimmten Mustern im Wir und Ihr-Modus dargestellt bekommen, die zusätzlich ausgrenzende Wirkungen erzeugen sollen. Türken wurden in Schulbüchern häufig der Berufsgruppe Müllabfuhr, Türkinnen waren Putzfrauen, Italiener waren Pizzabäcker, etc. während Deutsche in akademische Berufe gepackt wurden. Dies ist sicher auch ein Grund, weshalb sich keine italienischen Akademiker*innen in Büchern zu Italien finden lassen, die von deutschen Autor*innen geschrieben werden. Es ist schwer, sich mit diesen stereotypen Bildern im Kopf z. B. eine*n italienische Wissenschaftler*in etc. vorzustellen.

Zum Schreibkonzept
Das Buch ist auf den 518 Seiten in drei Büchern mit insgesamt neun Kapiteln gegliedert. In manchen Kapiteln findet man weitere Überschriften, die thematisch aufgebaut sind. Die Erzählform hat reflektierenden Effekt. Außerdem besitzt die Lektüre eine gut verständliche Sprache. Manchmal allerdings bedient die Autorin auch Fäkalbegriffe, die wahrscheinlich gewollt sind, um die Misere Italiens besser verdeutlichen zu können. Für Scheiße hätte man aber auch den Begriff Kot einsetzen können. Hätte für mich denselben Effekt, klingt nur nobler. Aber diese primitiven Begriffe sprengen keineswegs den Rahmen.

Auf der ersten Seite schenkt uns die Autorin zwei wunderschöne einleitende Verse zu ihrem Roman.

Auch findet man zu Beginn jedes neuen Buches einen Stammbaum der Familien Leone, Masca und Manfredi. Separat dazu Namen anderer Figuren. Am Ende des Buches ist eine Anmerkung der Autorin abgedruckt, die beschreibt, wie sie zu ihrem Erzählstoff gelangt ist.

Meine Meinung
Nach dem Ende des Buches weiß ich noch nicht mit absoluter Sicherheit zu sagen, wie ich zu der Autorin Raffaella Romagnolo stehen soll, die immerzu von Italien spricht, aber die Grenzen bis nach Piemont gezogen sind. Es gibt noch nicht einmal die Hauptstadt Rom, in der von dort aus seit der Staatsgründung von 1861 sämtliche politische Fäden gesponnen wurden. Vor dieser Zeit war Italien in mehreren Staaten gesplittet. Florenz hatte zum Beispiel eine eigene Festung, fremd war jeder, der nicht dieser Bastion angehörte. Durch die gewaltigen Machtkämpfe aus anderen europäischen Länder wie z. B. das Eindringen durch Österreich in den Norden, der Süden wurde sogar von arabischen Ländern fremdbesetzt, haben sich die vielen italienischen Kleinstaaten zusammengetan und gründeten ein großes Staatsgebiet, um sich gegen die Fremdherrschaft oben wie unten besser schützen zu können. Aber eine Liebe zwischen diesen Staaten konnte als ein geeintes Italien nie wirklich erworben werden. Zu groß waren die Vorurteile, zu groß der Ressentiment unter den vielen kleinen Staaten, die zu einem einzigen Volk Italiens hätten zusammen wachsen sollen …

Wenn auf diesen Buchseiten mal über eine Figur aus Süditalien geschrieben wird, dann eher auf eine recht abfällige und rassistische Form durch die Romanfigur Giulia Masca. Es herrschen hier dieselben rassistischen Vorurteile, wie man sie von anderen Ländern zu Italien her kennt. Giulia befindet sich in Manhattan, als sie folgenden Gedanken spinnt:

In der Wohnung im 1. Stock wohnen jetzt acht kürzlich angekommene Kalabresen, vielleicht auch neun, Mrs. Giulia Masca ist sich nicht sicher Sie vermehren sich rasch. Ungebildete Italiener, Analphabeten mit zu vielen Kindern (…), (37).

Klagte sie doch über die Bildungsarmut ihres eigenen Landes, auch ihre Mutter war Analphabetin, ihr Mann Manfredi ist es, hackt sie nun auf die Süditaliener, ohne zu wissen, was das tatsächlich für Leute sind. Das war oder ist sogar noch italienischer Alltag zwischen Nord und Süd und dies hat Romagnolo in dieser einzigen Szene sehr gut darstellen können.

Auch Äußerlichkeiten verwenden Norditaliener*innen dieselben Stereotypen wie die Deutschen. Die Süditalien*innen werden alle als dunkelhäutig und schwarzhaarig abgebildet. Dabei sind sie durch das milde und heiße Klima eher sonnengebräunt.

Auf nur 518 Seiten ein Familienepos über italienische Geschichte zu schreiben, finde ich für jemanden, der sich mit dieser Materie nur wenig auskennt, eine Überfrachtung. Zu große Zeitsprünge hin und her, während Menschen, die in dem Land groß geworden sind und in der Schule italienische Geschichte gelehrt bekommen haben, es sicher leichter haben, sich in dem Buch historisch zu orientieren. Mir hat in der Erzählstruktur mitunter ein Zeitraffer gefehlt. Mitten im Text bekommt man völlig unerwartet mit einer anderen Epoche zu tun und dann wieder mit anderen Figuren aus den verschiedenen Stammbäumen, die aber alle miteinander verbunden waren.

Auf die Weltwirtschaftskrise, die in den 1920er und 1930er-Jahren in Amerika grassierte, so wie auch die Bankenkrisen, die Schuldendeflation … erwähnte die Autorin kaum. Amerika ging es zu dieser Zeit existenziell auch sehr schlecht. Viele Amerikaner*innen nagten ähnlich wie die Italiener*innen am Hungerstuch ...

Das Buch hat dennoch mein Interesse geweckt, dass sich in mir eine innere Lust entwickelt hat, weitere Bücher zur Geschichte Italiens zu lesen. Der italienische Faschismus ist mir durch den deutschen Nationalsozialismus vertraut, aber nicht nur auf Piemont bezogen. Ich habe dazu viele Fachbücher gelesen, aber keine belletristischen Romane, die es in Italien zuhauf gibt, wie ich mir habe sagen lassen. Leider werden zu wenige davon ins Deutsche übersetzt.

Doch im Nachhinein fand ich das Buch sehr gut. Diese Kühle, die die Autorin in die Seelen ihrer Figuren hineingelegt hat, konnte am Ende in Empathie und Menschlichkeit umgewandelt werden. Ich fand das Ende daher richtig genial, das mich sehr tief bewegt hat.

Schützt Bildung vor Armut? In vielen Ländern schon, leider nicht in Italien. In den 1990er Jahren sind viele italienische Akademiker*innen ausgewandert, da sie im eigenen Land keine Arbeitsplätze haben finden können. Die Ressourcen der jungen und gut ausgebildeten Menschen hatte der Staat regelrecht verschwendet, die auch heute noch zu wenig für das eigene Land eingesetzt werden. 

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch die Buchmesse von 2018. Es fand wieder das alljährliche Bloggertreffen durch den Diogenes Verlag statt, das von der Pressereferentin S. B. moderiert wurde. Hier wurden sämtliche Neuerscheinungen für das erste Halbjahr 2019 vorgestellt. Mir war klar, dass ich durch mein Leseprojekt italienische Autor*innen Literatur gesucht habe. Romagnolo kam mir hier sehr recht, da ich mit meinem Projekt noch in den Startlöchern steckte. Entdeckt und fertig gedruckt hatte ich es allerdings etwas später bei der Büchergilde bei meinem Quartalseinkauf. Die Büchergilde bekam eine Lizenzausgabe durch die Genehmigung des Diogenes Verlages, der zuerst die Autorin aufgespürt hatte.

Auch wenn in Amerika von den Medien häufig nur die Glitzerseiten gezeigt werden, gibt es auf Youtube kostenlos einen Spielfilm über die Armut in Amerika zu sehen. Der Film heißt  Im Teufelskreis der Armut. Ich hatte ihn mir vor mehreren Jahren mehrmals angeschaut, noch bevor ich Romagnolo kannte.


Auch in diesem Film wird deutlich, wenn in einer Familie die Existenzgrundlage fehlt, dann geht es um das nackte Überleben, und man einfach nicht die Mittel hat, das Kind (weiter) zur Schule zu schicken. In diesem Film bettelt das Kind regelrecht darum, in die Schule gehen zu dürfen. Aber seht selbst.

Mein Fazit
Ein Buch nicht nur über Krieg und Armut, sondern auch über eine echte Freundschaft mit der Weisheit behaftet, die alles vergibt und nichts vorwirft. Gehen heißt Leben und Leben heißt, das Beste aus seinem Schicksal zu machen. Bella ciao.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte, Spannung
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Elf von zwölf Punkten.

________________

Familie heißt, füreinander da sein.

Niemand hat die Freiheit, einfach stehen zu bleiben.
Gehen heißt Leben.
(Raffaella Romagnolo)

Gelesene Bücher 2020: 17
Gelesene Bücher 2019: 34
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)