Posts mit dem Label Amerika werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Amerika werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 21. Juni 2020

Dennis Lehane / Der Abgrund in dir (1)

Foto: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Da ich in der Regel keine Krimis lese, und ich den Klappentext nur grob überflogen habe, bin ich zu diesem Buch gelangt, weil es mich durch den Titel neugierig gestimmt hat. Ich dachte, ich bekomme es hier mit einer komplizierten fiktiven psychischen Familienbiografie zu tun, wenn auch der Fokus anfänglich hauptsächlich auf die gestörte Beziehung zwischen Mutter und Tochter gelegt zu sein schien. Aber der Roman entpuppte sich immer mehr zu einem blutrünstigen Krimi …  Obwohl man schon auf der ersten Seite angeblich mit einem Mord zu tun bekommt, hätte ich hellhörig werden sollen. Dennoch habe ich ihn weitergelesen, weil ich dachte, dass die komplexe Psyche der Protagonistin die Oberhand behalten würde. 

Daher möchte ich den Krimi, bzw. den Psychothriller ganz schnell wieder aus meinem Kopf verbannen, weshalb ich mich hier nur kurz und nur mit knappen Details auslassen werde.

Es gibt in der Realität genug Gewalt, kriminalistische aber auch legale, wenn ich z. B. an  die Schlachthäuser denke, in denen pro Sekunde weltweit 3000 Tiere gequält und anschließend geschlachtet werden, dann ist mir, als würde unser Planet eines Tages in einem Ozean von Blut versinken.

Deshalb möchte ich mich nicht auch noch fiktiv mit diesen brutalen Bildern befassen, meinen Geist mit diesen unschönen Vorstellungen nähren, die man so schnell nicht mehr vergessen kann, wenn sie sich im Kopf erst mal festgesetzt haben.

Aber an alle Krimileser*innen. Ich kann dieses Buch sehr wohl weiterempfehlen. Er war gut, authentisch, nur bei den brutalen Szenen musste ich mir die Ohren zuhalten, die Augen schließen und dann bin ich durch die Seiten gerast, um endlich einen fixen Abschluss daraus zu finden.

Nun ist es eine Woche her, seit ich den Roman ausgelesen habe, mal schauen, was ich nach diesem schnellen Lesen noch weiß, und ich merke, dass die brutalen Szenen durch den Zeitabstand in meiner Vorstellung wieder verblasst sind, wenn mir auch die Bilder noch durchaus präsent sind.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Zu Beginn bezieht sich die Handlung auf eine gestörte Beziehung zwischen Tochter und Mutter namens Rachel und Elizabeth Child. Elizabeth ist alleinerziehend und die Tochter  Rachel leidet darunter, ihren Vater nie kennengelernt zu haben. Elizabeth hatte mehrere Affären, mehrere Gelegenheitsliebhaber, sie konnte sich auf keine feste Bindung einlassen. Beruflich geht sie auf einem renommierten College einer Lehrtätigkeit in der Fachrichtung Psychologie nach und ist erfolgreiche Buchautorin von Die Treppe, ein psychologischer Ratgeber mit mehreren Folgebänden. Wer der Vater von Rachel ist, macht die Mutter ein großes Geheimnis daraus, das sie schließlich mit ins Grab nimmt. Nach dem Tod der Mutter engagiert Rachel einen Privatdetektiv, der den leiblichen Vater ausfindig machen soll. Brian Delacroix soll den ominösen Vater finden, obwohl er angibt, dass er dafür nicht geeignet sei, doch Rachel hält weiter an ihm fest. Im Laufe der Zeit wird aus dem Privatdetektiv Rachels Ehemann, nach dem ihre erste Ehe gescheitert ist.

Rachel konnte sich zu keiner stabilen Persönlichkeit entfalten, und so entwickelt sie psychische Störungen wie Panik und Angstattacken. Mitten vor laufender Kamera erleidet sie auf Haiti einen psychischen Zusammenbruch, der ihre Karriere daraufhin zerstört. Rachel verkriecht sich immer mehr in ihren vier Wänden.

Sie ist durch ihre Erkrankung ihrem Ehemann gegenüber sehr misstrauisch geworden, denn sie ist es leid, ständig belogen zu werden, bis sie aus eigenem Antrieb herausfindet, dass Brian mit mehreren Identitäten unterwegs ist. Sie fühlt sich hintergangen und betrogen, sodass ihr Eheleben mit Brian dadurch immer mehr ins Wanken gerät.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Die gesamte Tragik zwischen Rachel und der Mutter, die gesamte Tragik zwischen Rachel und der Beziehung mit Brian Delacroix. Die Mutter konnte gute Ratgeberbücher schreiben, hätte sich doch selbst einmal Rat geholt, um ihrer vaterlosen Tochter besser beistehen zu können.

Welche Szene hat mir gefallen?
Gefallen hat mir nur der Gerechtigkeit halber eine Szenerie aus einer Schauspielschule, die sich zwischen Dozent und Student zugetragen hat. Ein abwertender Hochschullehrer, der einen schwächeren Studenten mit einer Fäkalsprache dermaßen erniedrigt hat, sodass der Kommilitone Brian, der sehr sensibel darauf reagiert, den Raum verließ, einen Pümpel holte, um dem Dozenten damit die Fresse zu polieren, was ihm sichtlich gelungen war. Obwohl Brian nach dieser Aktion aus dem College geworfen wurde, glaubte er, dass dieser Denkzettel für alle Zeiten ausreichen würde, um keinen schwächlichen Studenten mehr drangsalieren zu müssen.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Kann ich nicht sagen.

Welche Figur war mir antipathisch?
Elizabeth Child. Ich fand es grausam, dass sie ihrem Kind den Vater vorenthalten hat.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel
Das Cover fand ich das Beste von allem. Ein sehr surreales Motiv. Ganz nach meinem Geschmack.
Cover und Buchtitel haben dafür gesorgt, dass ich mir das Buch angeschafft habe. Interessant herauszufinden, von welchem Abgrund hier die Rede ist, wobei mir Abgründe im Nachhinein besser gefallen hätte. Erst dachte ich, als ich das Buch gekauft habe, dass es hier um den Abgrund von Rachel gehen würde. Abgründe, weil das Innenleben derjenigen Figur, die mit mehreren Masken unterwegs ist, viel zu komplex ausgestattet ist. 

Zum Schreibkonzept
Auf der ersten Seite sind zwei bemerkenswerte Zitate von Buddy Johnson und von René Descartes zu entnehmen, deren Zusammenhänge man eigentlich erst versteht, wenn man das Buch ausgelesen hat. Auf den 527 Seiten ist die Geschichte in 35 Kapiteln gegliedert. Zum Schluss gibt es die übliche Danksagung. Der Kontext ist klar und flüssig, die Abläufe logisch geschrieben, wenn sie auch auf den ersten Blick ein wenig in die Irre führen sollten. Dazu noch gut verständlich, und reichlich bestückt mit Aha-Erlebnissen. Viele Krimis habe ich bisher meist als gekünstelt erlebt, dieser dagegen empfand ich mit wenigen Ausnahmen als recht authentisch, weshalb ich ihn zu Ende gelesen habe.

Meine Meinung
Der Schluss hat mich allerdings überhaupt nicht überzeugen können. Außerdem muss ich auch dem Klappentext ein wenig widersprechen. Rachel habe ich überhaupt nicht als eine glückliche Persönlichkeit wahrgenommen, die alles hatte, was ein glücklicher Mensch braucht. Nicht nur, dass ihr der Vater fehlte, sondern auch das Leben, das sie führte, mehr als anstrengend war. Nachdem ihre Suche nach ihrem Vater und schließlich auch ihre erste Ehe gescheitert ist, bricht auch ihre zweite Ehe durch Lügen und Verrat auseinander. Rachel war für mich eine sehr betrübte und instabile Persönlichkeit, die nicht auf festem Boden stand. Die Wurzeln ihrer psychischen Instabilität sind in ihrer Kindheit zu finden. Die Mutter, die mehr mit sich und ihrem Leben beschäftigt war, ignoriert die tiefe Sehnsucht ihrer Tochter, ihren Vater kennenlernen zu wollen. Rachel war ein Kind, das sich mit dem Ausweichen der Mutter nicht abfinden konnte. Bis hierhin hatte das Buch starke psychologische Züge, als sich schließlich durch Brian Delacroix kriminalistische Szenen anschlossen.

Zu viel verraten? Keine Sorge, Rachels erste Ehe hatte in dem Roman nicht besonders viel Raum eingenommen. Alles andere habe ich nur kurz angerissen. Und vieles andere habe ich weggelassen. Es bleibt also noch genug Raum für eigene Fragen, eigene Entdeckungen und eigene Interpretationen.

Mein Fazit
Wie Eingangs schon geschrieben, ist es auf jeden Fall ein sehr lesenswerter Krimi für Leser*innen, die sich gerne mit diesem Genre befassen. 

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Auf der Buchmesse von 2019 habe ich es am Diogenes-Stand käuflich erworben. 

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Elf von zwölf Punkten.

________________
Jeder kann die Welt mit seinem
Leben ein kleinwenig besser machen.
(Charles Dickens)

Gelesene Bücher 2020: 14
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)

Montag, 20. April 2020

John Kaag / Das Bücherhaus

Klappentext 
Als der junge Philosophieprofessor John Kaag im Hinterland von New Hampshire die vergessene Bibliothek von William Ernest Hocking, einem der letzten großen amerikanischen Denker entdeckt, traut er seinen Augen kaum. Unter den halb verfallenen und vermoderten Bänden findet er zahlreiche Schätze: handgeschriebene Notizen von Walt Whitman, annotierte Bücher aus dem Besitz von Robert Frost, zahllose Briefe von Pearl S. Buck – und sogar dutzende Erstausgaben der Werke europäischer Geistesgrößen. Er beschließt, die Bücher zu restaurieren und begibt sich damit auf eine intellektuelle Reise durch die Geistesgeschichte Amerikas und seiner europäischen Grundlagen. Bald schon merkt er, dass die großen, lebensbejahenden Ideen in diesen Büchern auch ganz praktisch zu Werkzeugen für das Umkrempeln seines eigenen Lebens verwendet werden können. Ganz besonders, als sich ihm eine brillante Kollegin anschließt und ihm bei der Arbeit am Bücherhaus hilft...

Autorenporträt
John Kaag, Jahrgang 1981, ist Professor für Philosophie an der University of Massachusetts, Lowell. Er gilt als einer der spannendsten jungen Philosophen der USA und schreibt regelmäßig Artikel für Fachzeitschriften, aber auch für die »New York Times«, »Harper’s Magazine« und viele weitere Magazine und Zeitungen. »American Philosophy. A Love Story« wurde 2016 u.a. vom National Public Radio zum Besten Buch des Jahres gekürt. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Boston.

Weitere Informationen zu dem Buch

·         Taschenbuch: 352 Seiten
·         Verlag: btb Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (14. Oktober 2019)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 3442718899

Kurze Buchbesprechung
Leider bin ich mit diesem Buch überhaupt nicht zurande gekommen. Ich hatte es mehrmals versucht. Ich kann nicht sagen, woran es gelegen hat. In meinem Leben habe ich schon mehrere philosophische Bücher gelesen, die ich nicht abbrechen musste.
Vielleicht ist es gerade nicht die richtige Zeit oder auch nicht das richtige Buch. Vielleicht brauche ich mehr Ruhe, die ich gerade nicht habe.

Das Cover finde ich wunderschön.

Hier geht es zu der Verlagsseite von btb / Randomhaus.

Ein herzliches Dankeschön an den btb - Verlag für das Leseexemplar.


Samstag, 7. März 2020

John Okada / No - No Boy (1)

Foto: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Der Autor schreibt aus eigener Betroffenheit, das heißt, er kennt sich aus mit seinem Stoff, in dem es um multiple Identitäten gibt, aber hauptsächlich um die der Japaner*innen und die der Amerikaner*innen in vielfältiger Art. Für mich immer  eine spannende und brisante Thematik, da ich mich auch schon ähnlich wie die Protagonist*innen dieses Buches in meiner Kindheit angefangen habe, damit zu beschäftigen, und ich niemals ausgehört habe, mir weiter Gedanken zu machen, auch aus meiner eigenen Betroffenheit heraus. Erst an der Universität konnte ich in meinen Fächern vieles an eigener Theorie verglichen mit den wissenschaftlichen Studien bestätigt bekommen. Ich habe die Bücher damals geradezu verschlungen. Ein Wissen, das mir bis heute erhalten geblieben ist, und das ich auch heute noch erweitere ... Viele Menschen bekommen ihre Identität in die Wiege gelegt, viele andere dagegen müssen sie sich erarbeiten, da ihr heterogenes Leben, aus dem sie kommen, viel zu differenziert und viel zu facettenreich ist, und sie sich dadurch nicht so schnell auf eine Identität festlegen können. Doch was wir Menschen alle gemeinsam haben, ist, dass die Identitätsentwicklung bei keinem Menschen wirklich abgeschlossen ist. Bis zu dem Tod kann sie wandelbar sein. Nur, wissen das nicht sehr viele Menschen, vor allem die, die glauben, ihre Identität sei durch die Geburt in Stein gemeißelt und hinterfragen sie sie nur in den seltensten Fällen. Der Autor dieses Buches hat diese Thematik wunderbar in Worte fassen können.

Wir sind alles Individuen. Den Körper erben wir von unseren Eltern, der bei allen Menschen unterschiedlich ist. Alle Menschen sehen anders aus. Das haben wir schon damals in der Schulzeit in der Biologie gelernt. Nicht einmal Zwillinge sind hundertprozentig identisch. Aber alle sind wir Menschen. Doch was den Menschen ausmacht, um als Mensch in einer Gesellschaft auch leben zu können, ist die Aneignung von Kulturgütern durch eigene Anstrengung. Diesen Lernprozess nehmen uns die Gene nicht ab ... 
Wie viel Farbe man daher in einem Menschenleben einbringen möchte, kann nur jeder selber für sich bestimmen und zulassen. 

Warum also darf ein Kind mit japanischen Eltern, das in einem anderen Land aufwächst als das der Eltern, nicht die Identität eines Landes aufnehmen, in dem es geprägt und sozialisiert wird? Man kann diesen Gedanken beliebig mit Kindern anderer Ethnien weiterspinnen. Auch bei uns in Deutschland kann man beobachten, dass Kinder, die sich für die Identität ihrer Eltern entschieden haben, weil sie sich hier nicht anerkannt fühlen, und so wirft man ihnen mangelnde Bereitschaft an Integration vor. Andere dagegen, die die Identität eines Deutschen entwickelt haben, werden trotzdem nicht als Deutsche anerkannt, da sie eine dunkle Hautfarbe haben, einen ausländischen Namen tragen oder aus einer anderen Religion kommen. Diese sind in der Gesellschaft hineingewachsen, haben ihren Weg gemacht, gehören als Deutsche trotzdem nicht dazu. Nun kann man hier nicht mehr die Schuld bei den angeblich bösen lernunwilligen Migrant*innen suchen. Was es mit einem Menschen macht, der von der Gesellschaft verstoßen wird, zeigt der Autor John Okada sehr gekonnt in seinem Roman.

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Eigentlich ist die Handlung recht schnell erzählt. Die Hauptfigur namens Ishiro Yamada
ist 25 Jahre alt. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder ist er Amerikaner, da sie beide hier geboren wurden. Seine Eltern sind vor 35 Jahren von Japan nach Amerika ausgewandert, um in Amerika Geld zu machen, um später, als reiche stolze Japaner*nnen wieder zurück in die Heimat zu kehren. Die vierköpfige Familie lebt in Seattle. Ishiros Mutter führt zu Hause einen kleinen Lebensmittelladen, mit dem sie gerade so über die Runden kommt. Die häusliche Umgebung ist sehr einfach und ärmlich. In Ishiros Familie schwelen Konflikte. Hier hat die Mutter die Hosen an, während der verweichlichte Vater sich ihr fügt, da er die Probleme nicht verträgt, und so spült er sie mit Alkohol hinunter. Ishiros jüngerer Bruder Taro ist 16 Jahre alt und besucht die Highschool.

Während in Europa der Zweite Weltkrieg tobte, befand sich Amerika mit Japan im Pazifikkrieg. Ishiro, der für Amerika in den Krieg einziehen sollte, verweigerte, da er unter einem Loyalitätskonflikt geriet, und er dadurch nicht gegen die Landsleute seiner Eltern kämpfen wollte. Wie so viele andere Japanese Americans wurde er dadurch in ein Internierungslager gesteckt und verbüßte zwei Jahre seines Lebens in Haft. Sein Bruder Taro will es anders machen als er. Er will nach der Schule unbedingt in den Krieg und für Amerika kämpfen. Ishiro entwickelt starke Identitätskonflikte. Fühlt sich zwar Amerika näher, aber da ist seine Mutter, die vehement an Japan festhält. Als Japan den Krieg gegen Amerika verliert, verleugnet die Mutter die Realität und redet sich ein, dass ihr Land den Krieg gewonnen habe. Identitätskonflikte hat Ishiro aber nicht nur wegen seiner japanischen Mutter, sondern auch durch die Amerikaner*innen, die ihm sein asiatisches Aussehen übel nehmen, und sie ihn niemals als einen Amerikaner akzeptieren können. Und so sind diese Menschen vor den Weißen, wie sich die Amerikaner*innen selber bezeichnen, massiven rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Ich fand die Szenen sehr traurig, als Amerikaner*innen mit japanischem Hintergrund gut genug waren, um in den Wehrdienst und anschließend in den Krieg entsendet zu werden, aber als Bürger erster Klasse mit Amerikaner*innen ohne Migrationshintergrund sind sie noch weit entfernt gewesen. Rassistische Probleme gab es aber auch nicht in jedem aber in manch anderem japanischen Elternhaus. Während Ishiro seinen Kriegsdienst verweigert hat, weil er auf der Seite der Amerikaner keinen Japaner töten wollte, ist ihn sein Freund Kenji angetreten, um als Amerikaner für Amerika zu dienen und kam nach dem Krieg wieder als Kriegsinvalide zurück. In den Augen von Ishiros Mutter galt Kenji als Verräter und als Versager. Sie erwidert, als Ishiro ihr von ihm spricht:
>>Ah<<, sagte sie mit schriller Abscheu, >>der, der ein Bein verloren hat. Wie kannst du mit so jemand befreundet sein? Der taugt nichts.<< (…)>>Warum?<<, krächzte er. Sein Unbehagen schien ihr merkwürdigerweise Freude zu machen. Sie reckte das Kinn hoch und sagte: >>Er ist kein Japaner. Er hat gegen uns gekämpft. Er hat Schande gegen seinen Vater gebracht und Leid über sich selbst. Es wäre besser, er wäre getötet worden.<<>>Was ist am Japanischsein so gut?<< Sie schien ihn nicht zu hören. Ganz ruhig fuhr sie in mütterlichem Ton fort: >>Sei ein guter Junge, ein guter Sohn. Um meinet- und auch deinetwillen – triff dich nicht mehr mit ihm. Es ist besser so.<< (2018, 123f)

Diese Szene hat mich sehr betroffen gestimmt. Welche Vorstellung Menschen von anderen Menschen nur haben. Das ist nicht typisch Japanisch. In allen Ländern findet man Leute, die in ihrem Land an solchen kruden Vorstellungen zu anderen Ethnien oder zu anderen Lebensformen festhalten.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Ishiro hat seinen Freund Kenji verloren und die Art, wie er um seinen Freund getrauert hat, hat mir imponiert.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Das war für mich hauptsächlich Kenji, der es geschafft hat, für seine amerikanische Identität gerade zu stehen. Aber er hatte auch anders als Ishiro Eltern, die gelernt haben, Amerika als ihre neue Heimat zu begreifen. Obwohl Ishiro als Kriegsinvalide zurückgekehrt ist, trug er sein Schicksal gekonnt und meisterhaft, obwohl er durch seine Beinamputation eine tödliche Erkrankung mit sich trug.

Welche Figur war mir antipathisch?
Mir war keine Figur wirklich antipathisch. Ishiros Mutter war so gefangen in ihrer Welt, die total veraltet war, und sie Probleme hatte, die Realität anzuerkennen, hat mir eigentlich leidgetan. Vielleicht konnte sie nicht anders. Psychisch ist sie selbst an ihrem verlogenen Weltbild desillusionierend zerbrochen.

Meine Identifikationsfiguren
Ishiro und Kenji.

Cover und Buchtitel
Erst wusste ich das Cover und den Buchtitel überhaupt nicht einzuordnen. Aber mit dem Lesen des Romanstoffes erschloss sich mir der Sinn immer mehr. Die japanische Flagge und die amerikanische Kultfigur von Walt Disney sind zwei Kulturträger, die zu diesen Helden wie Ishiro, Kenji und viele andere ihrer Lage gehören. Der Buchtitel ist mir nach dem Lesen auch deutlich geworden. Ishiro war ein No - No Boy, da er den Kriegsdienst verweigert hatte, um nicht gegen das Land seiner Eltern zu kämpfen, und dadurch im Gefängnis gesessen hat. Er ist dadurch eigentlich ein Niemand. Weder ein Japaner, noch ein Amerikaner. 

Zum Schreibkonzept
Auf den 292 Seiten ist das Buch in elf Kapiteln gegliedert. Es beginnt mit einem Vorwort und endet mit einem Anhang, der ein paar Seiten zur Entstehung der japanisch-amerikanischen Literatur beschreibt. Auch historisch gibt es hier ein paar Fakten zu entnehmen, dass z. B. der amerikanische Präsident Reagen sich bei den zu Unrecht internierten Japanese Americans entschuldigt hatte. Leider kam diese Entschuldigung für viele zu spät. Ab 1990 wurde eine Wiedergutmachungsgebühr an jeden Überlebenden entrichtet.

Das Buch ist flüssig geschrieben. Den Schluss hätte ich gerne noch etwas in die Länge gezogen.

Meine Meinung
Das Buch hat mich nachdenklich gestimmt, da es mir zeigt, dass diese Probleme in jedem Land existieren. Überall auf der Welt gibt es Kinder, die mit mehreren Kulturen aufwachsen, und diese aber häufig auf die Herkunftskultur der Eltern herabgesetzt werden. Obwohl es eine Bereicherung ist, Expert*innen von Kulturgütern mehrerer Länder zu werden, dringt diese Bereicherung nicht wirklich in das Bewusstsein jener Menschen, die nur auf ihre und nur auf eine einzige Kultur beharren. Aber die Vielfalt bringt weltliche Vorzüge und man sollte diese stärker hervorheben, statt immer nur die Nachteile zu bestimmen, damit betroffene Kinder schon früh lernen, dass sie große Vorteile gegenüber ihren Kameraden haben, die aus einer Monokultur kommen. Wenn ihnen diese Wertschätzung nicht von der Gesellschaft entgegengebracht werden kann, müssen sie es selber lernen, sich diese zu geben. Aber im beruflichen Zweig sind Menschen, die z. B. mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind, in der Wirtschaft erwünscht, da sie mit vielen Ländern kooperieren und verhandeln können.

Mein Fazit
Mein Fazit möchte ich gerne an einem Zitat von Okada festhalten, weil es mir so gut gefallen hat und es auch Hoffnung macht, Bücher wie dieses zu lesen, in der Absicht, damit doch im geschriebenen Wort etwas bewegen zu können, um der Problematik entgegen wirken zu können, denn ... 
 ... Okada (hielt) selbst einmal fest, dass >einzig in der Literatur die Hoffnungen und Ängste, die Freuden und das Leid der Menschen angemessen Ausdruck finden.< (292)

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Im Mai letzten Jahres habe ich mich mit meinen beiden Lesepartnerinnen Tina und Sabine in Heidelberg getroffen und sind zufälligerweise an einem Buchladen der Büchergilde geraten, den wir auch betreten hatten. Mir fiel John Okadas Buch sofort auf. Ohne, dass ich von dem Inhalt etwas wusste, griff ich danach. Wahrscheinlich war es die Comicfigur, die mich inspirierte, da sie meine Kindheit mitgeprägt hatte.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.

_______________
Ich spreche zwei Sprachen.
In die eine flüchte ich,
wenn die andere unmenschlich wird.
(Autor unbekannt)

Gelesene Bücher 2020: 05
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)


Samstag, 14. Dezember 2019

Tracy Barone / Das wilde Leben der Cheri Matzner (1)

@ Canva / Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Gleich vorneweg gesagt; das Buch ist dermaßen interessant geschrieben, dass ich Mühe hatte, es für eine Lesepause mal wegzulegen. Jede Figur war faszinierend, so viel Facette, so viele Geschichten in einer einzigartigen Familie, die sich in keine Schublade pressen lässt. 

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die 16-jährige drogenabhängige Miriam bringt in einem Armenkrankenhaus ein Kind zur Welt. Gleich nach der Geburt befreit sich Miriam von ihrer Infusion, verlässt die Klinik und lässt aber ihr Kind zurück. Der gleichaltrige Billy Beal, der in der Klinik Sozialstunden ableistet, nimmt das Kind zu sich, um es nach Hause zu den Eltern zu bringen. Billys Mutter versorgt das Kind, bis eine neue Elternschaft gefunden werden konnte. Es ist das Jahr 1962, im August.

Die Uhr um ein paar Jahre zurückgedreht, Ende der 1959er Jahre, lernen wir die Italienerin Carlotta D´Ameri kennen, Kurzform Cici, die in Varese ausgewachsen ist. Auf einer Mailänder Messe lernt sie ihren zukünftigen 32- jährigen jüdischen Mann Solomon Matzner kennen, der von Beruf Doktor der Medizin ist. Es scheint Liebe auf den ersten Blick zu sein, beide fühlen sich wie magisch zueinander hingezogen. Cici ist erst 18 Jahre alt, als sie sich bereit erklärt, nach großen familiären Konflikten durch den Stiefvater ihre Familie und ihr Land zu verlassen, um mit Solomon nach Amerika auszuwandern, damit sie dort mit ihm ein neues und glücklicheres Leben beginnen kann. Innerlich klagt Cici ihre Mutter an, die nach dem Tod ihres geliebten Vaters mit einem anderen Mann eine Zweckehe eingegangen ist.

1962 wird die junge Cici schwanger und freut sich auf ihr Kind. Doch leider stellen sich ihr im August 1962 schwere Komplikationen ein und musste notoperiert werden. Das Kind wurde chirurgisch geholt, aber es starb wenige Stunden danach im Brutkasten. Dazu kommt, dass Cici die gesamte Gebärmutter entfernt bekommen hat, und sie keine eigenen Kinder mehr bekommen kann. Sie erleidet einen schweren psychischen Zusammenbruch, als ihr die schlechten Nachrichten übermittelt wurden.

Zuhause igelt sich Cici ein, und verweigert jeglichen Kontakt zur Außenwelt und zu ihrem Mann. Durch ihren tiefen seelischen Schmerz neigt sie zu Autoaggressionen. Solomon erträgt es nicht, und versucht seiner Frau zu helfen, indem er ihr ein Kind kauft.

Es ist das Kind von Miriam, an das er durch einen guten Anwalt kommt. Die Familie Beal erhält Geld für das Baby, und das nicht zu knapp. Solomon tut alles, um seine geliebte Frau wieder zurückzubekommen. Und tatsächlich, das Kind bringt eine Wende in Cicis Leben, doch aber nicht für Solomon. Durch den Verlust ihres eigenen Kindes erdrückt Cici das Adoptivkind mit all ihrer Liebe. Sie lebt nur noch für das Kind und vernachlässigt dabei ihren Ehemann. Neue Konflikte sind dadurch vorprogrammiert.  
Du bist nicht nur Mutter, du bist auch Ehefrau. Ich war zuerst da, und ich sollte an erster Stelle stehen. (231)

Das Mädchen bekommt den Namen Cheri, und es spürt recht früh, dass in ihrer Familie etwas nicht stimmt. Solomon baut eine recht kühle Beziehung zu Cheri auf. Unbewusst macht er sie für den Liebesverlust seiner Frau verantwortlich. Und von der Mutterliebe fühlt sich Cheri erdrückt ... Auf einem Italienausflug zu Cicis Familie erfährt Cheri im Alter von acht Jahren, dass sie ein Adoptivkind ist.

Im Laufe ihrer Jugend begibt sich Cheri durch die Konflikte ihrer Eltern immer wieder in die Rebellion. Sie lehnt das spießige Leben ihrer Eltern ab und flieht immer mehr in ihre eigene Welt. Sie fängt an, sich für Menschen zu interessieren, die keinen geraden Weg gehen, wie z. B. Junkies, Prostituierte, Kriminelle, etc., da Cheri dieses überpriviligierte Leben ihrer Eltern einfach nur satthat. Später ergreift sie den Beruf als Polizistin und glaubt, dies gegenüber ihren Eltern aus einer Protestreaktion heraus tun zu müssen. Später studiert sie Religionswissenschaften und altorientalische Philologien und bringt es mit Ende dreißig zu einer Professorenstelle, in der sie sich als Frau allerdings schwer durchschlagen muss …

Cheri führt eine Ehe mit Michael, der auch seine eigenen Wege zu gehen scheint. Kinder konnten sie trotz medizinischer Hilfen nicht bekommen, und so blieb der Kinderwunsch unerfüllt, wobei Cheri gar nicht weiß, ob sie wirklich Kinder haben wollte. Cheri führt einen lebenslangen Kampf mit ihrem Leben und begibt sich auf eine lange Suche nach einem Platz in dieser Welt. Sie glaubt, dass die Weichen dieses Kämpferlebens schon in der Kindheit durch ihre Adoptiveltern gelegt wurden.

In ihrer Kindheit, als sie erfuhr, dass sie ein Adoptivkind ist, fing sie an, ihre leiblichen Eltern zu idealisieren. Die Suche nach diesen fand aber erst sehr viel später statt …

Welche Szenen haben mir nicht gefallen?
Der Rassismus wurde in allen Breiten deutlich, mal eher latent und mal ganz offensichtlich. Cici, die als junges Mädchen sich im Nebensatz abfällig über Sizilianer*innen geäußert hat, erinnert nochmals an den Rassismus, den Italien mit seinen eigenen Landsleuten zwischen Nord und Süd begeht, der von der italienischen Regierung bis heute noch weiter forciert wird. Und dann sind in Amerika Solomos Eltern, die ihn aus der Familie verstoßen hatte, da er zum Katholizismus konvertiert ist und eine Schickse geheiratet hat. Nicht zu vergessen Cookie, eine schwarze Bedienstete der Matzners, die für wenig Geld in den Dienst dieser Familie getreten ist, wobei Cookie noch Glück hatte, da Solomon ihr im Alter eine Rente zugesichert hatte. Und auch der Rassismus gegen Juden musste Cheri in der Arbeit bei der Polizei immer wieder über sich ergehen lassen.
Cheri war es gewohnt, für eine Jüdin gehalten zu werden. In ihrem früheren Leben als Polizistin (…) hatte man sie als >Bagel-Schlampe< und Schlimmeres verhöhnt, doch sie hatte darauf verzichtet, sich damit zu wehren, dass sie keine Jüdin sei. Dies hätte impliziert, dass der Antisemitismus ihrer Kollegen nur deshalb verwerflich war, weil er auf falschen Annahmen über ihre Person beruhte. (125)

Des Weiteren fand ich die Szene mit Cicis Stiefvater dermaßen brutal, dass sie mich noch lange beschäftigt hat. Der Stiefvater, der mittlerweile ein alter Mann geworden ist, betritt ohne Begrüßung den Raum, in dem sich die achtjährige Cheri ohne ihre Mutter befand. Er ging auf das Kind zu, packt es an der Schulter, und ohne sich ihr vorzustellen, weist er ihr gestikulierend, mit ihm mitzukommen. Er händigt Cheri eine Kinderpistole aus. Er nahm Cheri mit auf die Jagd. Sie musste mit ihm ohne Pause einen langen Waldweg zurücklegen. Der Großvater schoss auf Vögeln und zeigte dem Kind die Technik, bis es die Anweisung erhielt, nun auch auf einen Vogel zu schießen.

Als Cici erfuhr, dass ihr verhasster Stiefvater das Kind mit auf die Jagd nahm, beschimpfte sie ihn, bis sie schließlich mit Cheri verärgert wieder abgereist ist.

Weil Cici wie ein Junge gewirkt hatte, und nicht so adrett wie ein Mädchen gekleidet war, behandelte der alte Mann das Kind auch wie einen Jungen. Er wirkte wortkarg, kalt und hartherzig, so wie damals, als ihre Mutter diesen Mann geheiratet hatte. Aber Cheri fand das ganz toll und war stolz, dass sie einen Vogel erlegen durfte und sie die harte Tortur hat über sich ergehen lassen können, ohne schlapp gemacht zu haben.

Aber Vorsicht, nun bitte nicht mit dem Zeigefinger auf Italien zeigen, das angeblich auf ihre traditionellen Rollenmuster bestehen würde. Wir befinden uns hier Anfang der 1970er Jahre. Ich selbst war auch in diesem Alter wie ein Junge gekleidet, und ich wurde deshalb an meiner deutschen Schule diskriminiert. Als wir in den Sommerferien für sechs Wochen nach Italien gereist sind, hat mich niemand meines Aussehens wegen beschimpft.

Welche Szenen haben mir besonders gut gefallen?
Darüber musste ich lange nachdenken. Beeindruckt haben mich Szenen der Selbsterkenntnis, die auch bei Cici erfolgt sind.
Sie hatte einen so großen Teil ihrer Liebe und Energie in die Mutterschaft investiert, weil sie es besser machen wollte als ihre Mama. Sie hatte nur ein Kind und glaubte, es sei genügend Platz in ihrem Herzen. Aber es war nicht genug für Sol übrig geblieben, das ist ihr inzwischen klargeworden. Wie jung sie damals noch war! Und wie ahnungslos. (407)

So wie Cheri innerlich gegen ihre Eltern rebelliert hat, so hatte auch Cici Groll gegen ihre Mutter gehegt.
Cicis Papa war gestorben, als sie noch klein war, aber sie erinnerte sich an den Gesichtsausdruck ihrer Mutter an dem Tag, als es geschah, ein Ausdruck, der sagte, dass die Welt niemals wieder dieselbe sein und sich nie wieder sicher anfühlen würde. Sol hatte Cicis Welt sicher gemacht. (410)

Cheri war wütend auf ihre Mutter, da sie sich wirtschaftlich von ihrem Vater abhängig gemacht hat. In diese Fußstapfen wollte Cheri niemals treten und so tut sie alles, um ihr Leben als eine emanzipierte Frau souverän zu meistern und sich niemals von dem Gehalt eines Mannes abhängig machen zu wollen. Sogar in ihrer Ehe gibt es einen Rollentausch, da ihr Mann Michael durch seinen Künstlerberuf sehr wenig verdient hatte.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Cookie. Ohne große Bildung ist sie eine so weise Persönlichkeit, die mir wirklich sehr imponiert hat. Sie half Cici und auch Cheri immer mal wieder aus ihren Krisen heraus. Als Cheri psychisch zusammenbricht und in ein tiefes Loch fällt, weil ihr Mann Michael an einem schweren Krebsleiden verstorben ist, konnte Cici, die weit weg von der Tochter wohnte, am Telefon keinen Zugang zu ihr finden, und so beschließt sie, zu ihr zu reisen. Cookie gibt Cici daraufhin folgenden Rat, weil sie Angst hatte, ihre Tochter seelisch nicht erreichen zu können:

Wenn sie nicht reden will, setzt du dich einfach zu ihr und bist still. Dein Kind bleibt immer dein Kind, egal, wie alt es ist. Du sollst da nicht hinfahren, um von dir zu reden, mit den Händen zu fuchteln und rumzujammern. Fahr einfach hin und sei ihre Mutter. (2019, 388)

Welche Figur war mir antipathisch?
Cicis Stiefvater.

Meine Identifikationsfigur
Ich habe mich episodenhaft fast in jede Figur widerspiegeln können. Das macht das Menschsein aus, so denke ich mir. Es ist schon möglich, sich in jedem Menschen zu finden, wenn man nur will.

Cover und Buchtitel
Wer ist die Person auf dem Cover? Eigentlich müsste das Cheri Matzner sein, aber nach meinem Gefühl ist das eher Cici. Den Buchtitel finde ich nicht wirklich passend. Ein wildes Leben hat Cheri keineswegs gehabt. Zusammen mit ihren Eltern eher ein sehr, sehr trauriges Leben.

Zum Schreibkonzept
Auf den fünfhundert Seiten befindet sich zu Beginn eine Widmung, auf der darauffolgenden Seite folgt ein Zitat von Leo Tolstoi aus der Anna Karerina. Danach gibt es einen recht kurzen Vorspann im Telegrafenstil zum Geburtstag von Cheri, was sich alles in der Welt an diesem Tag, 5.08.1962, ereignet hat.
Der Roman besteht insgesamt aus vier Teilen. Jeder Teil ist spannend konstruiert, und man wird immer wieder in verschiedene Welten geführt. Am Schluss wird man wieder im Telefegrafenstil daran erinnert, was sich neben Cheris Geburt an diesem Tag in der Welt ereignet hat. Es gibt einen kurzen Abschlussbericht, was sich für mich wie ein Epilog gelesen hat.

Meine Meinung
Als ich das Buch ausgelesen hatte, gab es sehr viele Eindrücke und Gedanken, die dieses Buch in mir ausgelöst hat, über die ich schreiben wollte. Und viele schöne Zitate wollte ich einbringen, und habe mich schließlich dagegen entschieden, um anderen Leser*innen nicht zu viel vorwegzunehmen. Einerseits finde ich es schade, weil ich sehr gerne über meine Eindrücke schreibe, weil es schön ist, später, nach ein paar Jahren, daran erinnert zu werden. Ich schreibe nicht gerne, was andere Rezensent*innen schreiben und ich mag auch nicht von anderen beeinflusst werden. Aus diesem Grund liebe ich persönliche Buchbesprechungen.

Mein Fazit
Mit diesem Buch wird man erinnert, dass jede Familie anders ist. Jede Familie hat ihre Facetten, ihre eigenen Tabus und Geheimnisse. Sie zu kategorisieren oder sie in eine Schublade pressen zu wollen, das hat auch Cheri irgendwann begriffen, dass man damit nicht weiterkommt, wenn man versuchen will, sie zu verstehen.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen,Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Elf von zwölf Punkten.

Eine ganz klare Leseempfehlung.

Vielen herzlichen Dank an den Diogenes-Verlag für das Leseexemplar.
________________
Es geht nicht um den Verstand,
es kommt alles aus dem Herzen.
(Tracy Barone)

Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, und dies nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.
Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)