Sonntag, 16. Oktober 2016

Harper Lee / Gehe hin, stelle einen Wächter (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch habe ich vor drei Tagen zu Ende gelesen, und nun komme ich endlich dazu, die Buchbesprechung darüber zu schreiben.

Mir hat das Buch recht gut gefallen, allerdings die Szenen auf den letzten 30 oder 40 Seite haben mich so gar nicht angesprochen.

Die Hauptthematik kommt eigentlich gut rüber. Die junge Protagonistin Jean Louise Finch, Spitzname Scout, versucht sich als Frau gegen gesellschaftliche Konventionen aufzulehnen. Sie entspricht partout nicht dem amerikanischen Frauenideal. Dadurch, dass die Mutter recht früh gestorben ist, fehlten ihr weibliche Vorbilder. Die damalige kleine Scout orientierte sich ganz nach ihrem älteren Bruder. Scout tat alles, was Jungen taten. Sie trug auch hauptsächlich Latzhosen.

Die Handlung spielt in der Mitte der 1950er Jahre ...

Richtig spannend fand ich auch, dass Jean Louise als Jugendliche sexuell nicht aufgeklärt war. Auf der Schule hatte sie ein Junge unaufgefordert geküsst und ihre Freundinnen, die auch nicht aufgeklärt waren, verbreiteten das Gerücht, man würde durch einen Kuss schwanger werden. Jean Louise gerät in Panik, eigentlich in ihre erste schwere Lebenskrise … Sie zählt ihre Schwangerschaftswochen, rechnet aus, wann das Kind geboren werden müsste …     
  
Die erwachsene Jean Louise lebt alleine in New York. Sie ist in der Lage, für sich zu sorgen, indem sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreitet. Unabhängig wie sie ist, wurde sie zu einem autonomen Leben von ihrem Vater erzogen.

Jean Louise fährt für einen längeren Urlaub in ihre Geburtsstadt Alabama, um den mittlerweile über siebzigjährigen Vater Atticus, der gesundheitlich nicht mehr auf der Höhe ist, zu besuchen.

Auch in diesem Buch findet man wieder die Auseinandersetzung mit den Rassenunruhen und den Rassenunterschieden. Jean Louises Vater ist Anwalt und hat sich in der Vergangenheit für die schwarze Population stark gemacht und plötzlich merkt Scout, dass ihr Vater politisch nicht mehr derselbe ist. Große Enttäuschungen machen sich in ihr breit … Ich möchte nicht zu viel verraten und halte mich hierzu bedeckt.

Als sie bei ihrem Vater diese Entdeckung macht, gerät sie in eine tiefe Identitätskrise. Sie hatte ihren Vater als Kind stark idealisiert, schaute immer stolz zu ihm auf, und fand in ihm ein großes Vorbild im Kampf um Menschenrechte für alle. Nicht nur sie bewunderte ihren Vater, der juristisch sehr gefragt war, auch der Bruder strebte nach dessen Vorbild. Doch leider lebt der Bruder Jem nicht mehr. Mit Anfang zwanzig schied er aus dem Leben. Während der Vater den Tod des Sohnes längst akzeptiert hat, trauert Jean Louise noch lange um den Bruder. Der Vater gibt ihr den Tipp, die Toten endlich zu begraben, und ich diese Haltung recht merkwürdig fand.

Man fragt sich selbst als Leserin, wie Jem diese politische Wesensveränderung des Vaters aufgefasst hätte? Wie wäre er selbst damit umgegangen?

Entidealisiert Jean Louise nun ihren Vater? Sie lebte nach der Maxime: Gleiche Rechte für alle, Sonderrechte für niemanden. Gelten nun diese Ideale für sie nicht mehr? Jean Louises Weltbild scheint vor ihren Augen zu zerbröseln, denn nicht nur im Vater sieht sie diese Veränderung, sondern auch in ihrem Freund, der von Atticus zu seinem Stammhalter auserkoren wurde, zieht in dieselbe politische Richtung. Auch mit ihm bricht sie die Beziehung. Jean Louise kann scheinbar ihre Ideale ohne die ihres Vaters schwer aufrechterhalten, dabei wird klar, dass der Ablösungsprozess zu ihrem mächtigen Vater trotz ihrer 26 Jahren nicht stattgefunden hat.

Atticus war kein schlechter Vater. Obwohl er beruflich viele Herausforderungen zu überwinden hatte, nahm er sich trotzdem viel Zeit für seine Kinder. Abends las er ihnen immer Geschichten vor, wobei Jean Louise schon im Kleinkindalter lesen lernte ... Es waren nicht immer Kindergeschichten, die Atticus vorlas. Aus Zeitmangel las er den Kindern auch aus der Zeitung vor, und schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe.
Er las seinen Kindern alles vor, was er selbst gerade las, und die Kinder wuchsen erfüllt von einer unorthodoxen Belesenheit heran. Früh sammelten sie Erfahrungen mit Militärgeschichte, Gesetzesentwürfen, den Abenteuern von Sherlock Holmes, dem Gesetzbuch von Alabama, der Bibel und mit Gedichten von Palgrave. (2015, 133)
Was ist passiert, dass der Vater politisch nicht mehr derselbe ist? Diese Frage lässt sich auf den letzten Seiten beantworten.
   
In dem Buch bekommt man noch recht viele interessante Szenen zu lesen. Allerdings die Streitgespräche auf den letzten Seiten haben mich nicht wirklich überzeugen können. Auch die Auseinandersetzung zwischen dem Onkel und Jean Louise fand ich merkwürdig. Als Jean Louise aus dem Streitgespräch mit ihrem Vater zu fliehen versucht, taucht dann plötzlich ihr Onkel, Bruder von Atticus, auf, und zwingt sie zur Besinnung, indem er sie mit einem Hieb ins Gesicht blutig boxt. Die Lippen schwellen an … Jean Louise ist dadurch wieder gesprächsbereit. Der Onkel liest ihr die Leviten und bringt seine Nichte dadurch zu mehr Verständnis dem Vater gegenüber. Daraufhin kommt es zu einem neuen versöhnlichen Kontakt zwischen Vater und Tochter …

Diese Szenen haben mich ja nun gar nicht überzeugen können. Der plötzliche Sinneswandel war mir nicht glaubwürdig genug, verlief mir zu schnell, zu abrupt, und schon allein diese Gewaltanwendung widerte mich an, war aus meiner Sicht zu dick aufgetragen.


Mein Fazit?

Auch wenn mir das Buch im Ganzen gefallen hat, ist es tatsächlich aus meiner Sicht nicht so gut gelungen wie Wer die Nachtigall stört. Natürlich können sich Menschen zu ihrem Nachteil verändern, aber in diesem Buch wirken viele Szenen/Dialoge auf mich nicht überzeugend genug. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken kann. Viele Szenen wirkten auf mich ein wenig entstellt, psychologisch zu künstlich dargestellt.
Die Autorin selber schien ja von diesem Buch auch nicht überzeugt gewesen zu sein, weshalb sie es nicht zur Veröffentlichung freigab. Oder doch?, siehe Feuilleton der Frankfurter Allgemeine, s. unten ... Ganz klar ist das leider auch nicht ...

Der Buchtitel, ein Zitat aus der Bibel, stimmt mich noch immer nachdenklich. Passt er oder passt er nicht zum Inhalt? Ja, er passt schon, ich muss aber für mich selbst noch die nähere Bedeutung herausfinden.

Aber ich finde, dass man das Buch sehr gut verfilmen könnte. Die Themen sind alle sehr menschlich und keineswegs abstrakt. Wer weiß, vielleicht erfährt dieses Buch ebenso eine Verfilmung? Ich selbst habe wieder Lust verspürt, Wer die Nachtigall stört ein weiteres Mal zu sehen.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Neun von zehn Punkten.

Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine gibt es zu dem Buch folgende interessante und kritische Besprechung. Und hier geht es per Mausklick zu dem Artikel.


Weitere Informationen zu dem Buch

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DVA-Verlag 
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-421-04719-9
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