Montag, 14. September 2015

Dörthe Binkert / Weit übers Meer (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir recht gut gefallen.

Ein historischer Roman aus den Anfängen des Zwanzigsten Jahrhunderts, in dem es um die Stellung der Frau der damaligen Zeit geht. Doch das Datum, 23.07., ist ein ganz spezielles Datum in doppelter Hinsicht …


Das Buch ist recht authentisch geschrieben. Man konnte sich gut in die Figuren hineinversetzen. Auch bekam man sehr leicht das Gefühl, mit dem Blick aufs Meer sich selbst auf dem Schiff zu befinden und unter sich das tiefe Wasser zu spüren. Der Passagier Henry drückt genau das aus, was ich selbst auf dem Meer empfinde. Nebenbei eine kleine Kostprobe:

>>Mir ist das Meer unheimlich. Wenn ich keinen festen Boden unter mir habe, fühle ich mich unbehaglich. Die Tiefe unter mir, diese Unmenge von Wasser … ich glaube, es ist ziemlich kalt und ungemütlich da unten.<<  


Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein: 
Antwerpen, am Abend des 23. Juli 1904. Eine Frau von nicht einmal dreißig Jahren geht - nur mit einem langen weißen Abendkleid und ein paar Diamant-Ohrringen bekleidet - an Bord eines Überseedampfers. Sie hat kein Gepäck, keinen Pass, kein Geld und keine Papiere. Am nächsten Morgen meldet sie sich als blinde Passagierin beim Kapitän. Wer ist diese Frau? Welches Geheimnis verbirgt sie? Neun Tage ist das Schiff unterwegs nach New York, und in dieser Zeit entfaltet sich unter den Passagieren der Ersten Klasse ein subtiles Drama, vom dem am Ende keiner ganz unberührt bleibt ...
Die Protagonistin dieser Geschichte ist die achtundzwanzigjährige Valentina Meyer, die ihren zweijährigen Sohn durch einen schweren Schicksalsschlag verloren hat, und den sie, selbst nach zwei Jahren Todesfolge, nicht richtig verwunden hat. Mit ihrem Mann Victor, der sie permanent mit anderen Frauen betrügt, ist sie auch nicht besonders glücklich, obwohl Victor sie auf seine Weise liebt. Zwei Jahre   den Tod des Kindes zu betrauern sei nun endlich genug, so Victors Sichtweise. Valentina habe schließlich als seine Ehefrau Pflichten zu erfüllen. Ein heftiger Disput zwischen Victor und Valentina, als sie sich weigert, sich für eine gesellschaftliche Veranstaltung, die Victor sehr wichtig ist, zurechtzumachen. Seine Forderung, sich das weiße Kleid und die Diamant-Ohrringe anzuziehen, damit sie die schönste Frau dieser Abendgesellschaft abgeben werde. Als sie sich stumm weigert, packte er …

(…) Valentinas Hals mit beiden Händen und schüttelte sie.
Du willst dich mir widersetzen? (…) Hast du vergessen, dass du meine Frau bist? Nur eine Frau bist? Dass du zu gehen hast, wohin ich gehe, dass du zu tun hast, was ich sage?<<
Er ließ ihren Hals los und trat einen Schritt zurück, als ob er ihr Gelegenheit zur Antwort geben wollte. Aber Valentina schwieg.
>>Warum sagst du nichts?<<, schrie er. >>Bin ich keine Antwort wert? Du willst mich nicht im Bett, du willst mich nicht am Tisch, du trägst diese schrecklichen schwarzen Kleider wie einen Vorwurf an mich. Jeden Tag aufs Neue sagen sie mir, dass ich schuld an deinem Unglück bin.<< 

Was Valentina gewagt hat, ist wirklich sehr mutig, wie man am Schluss der Geschichte entnehmen kann. Sie sorgte für einen Skandal, und man kann sich denken, dass sie damit Victors Ansehen ruinierte. Ich empfand eine gewisse Genugtuung diesem Typ Ehemann gegenüber.

Mutig war aber auch, sich als blinde Passagierin in ein Schiff zu verfrachten, das von Antwerpen nach New York fährt. Während Valentina, die sich selbst dem Schiffskapitän als blinde Passagierin angezeigt hat, auch hier das Gesprächsthema Nummer eins wird. Viele stellen sich die Frage, was eine so vornehme Frau wie diese bewegt, ohne Fahrkarte, ohne Geld und ohne Papiere sich auf ein Schiff zu begeben?
Ich wollte einfach nur fort aus meinem Leben. 
… fort aus meinem Leben, fand ich so schön ausgedrückt, als könne man vor sich selber fliehend in ein anderes, besseres Leben ziehen.

Trotzdem stieß Valentina auf Unverständnis, da die wenigsten auf dem Schiff Bescheid wussten, was der Anlass für Valentinas' Flucht gewesen sein könnte. Im Folgenden die Sicht eines Schiffsingenieurs:
Ich weiß nicht, was im Kopf dieser Frau vor sich geht. Ich will es auch gar nicht wissen. Wahrscheinlich ist sie krank, eine Hysterikerin. Vielleicht hat sie sogar ihren Mann und ihre Kinder verlassen. Sie ist ja kein junges Mädchen mehr.Überhaupt. Diese neue Mode, dass Frauen allein verreisen. Es gibt sicher Fälle, wo sich das nicht vermeiden lässt, nicht alle Witwen haben Verwandte, eine Gesellschafterin oder Dienstboten, die sie begleiten können. Aber so etwas sollte doch die Ausnahme bleiben. (…) Es soll schon Frauen geben, die studieren. Der Fortschritt ist eine Sache. Ich wäre nicht Ingenieur geworden, wenn ich nicht an den Fortschritt glaubte. Die Technik bringt die Welt voran. Das heißt aber noch lange nicht, dass man grundlegende gesellschaftliche Ordnungen aus den Angeln heben kann. Wir Männer wollen ja auch nicht plötzlich Kinder bekommen.Alles hat seine Ordnung, und das ist auch gut so.  
Aber es gibt auch Leute auf dem Schiff, die Valentina für ihren Mut bewundern. Eine vornehme Dame, die sämtliche Konventionen einer Gesellschaft für ein freies Leben zu brechen droht. Welche Frau aus der damaligen Zeit wünschte sich das nicht?

Aus der Sicht eines Künstlers namens Henry:
>>Liebe Madame Meyer (…), für die Menschen hier auf dem Schiff haben Sie etwas Ungeheuerliches gewagt. Sie haben sich über alle Konventionen hinweggesetzt. Ich weiß nicht, ob ich das zustande brächte. (…) Verzeihen Sie, wenn ich mir erlaube, das zu sagen, aber haben Sie sich schon einmal überlegt, ob Sie eine einzige Frau kennen, die etwas Vergleichbares täte? Mag sein, dass Männer dazu erzogen werden, unter bestimmten Umständen radikale Entscheidungen zu treffen. Aber Sie sind eine Frau. Auf Ihnen lastet, wie auf allen Frauen, eine Welt der Konvention und Beschränkung, der Unfreiheit und Missachtung. Sich davon freizumachen …<<Sie unterbrach Henry mit einer raschen, ungeduldigen Handbewegung: >>Ich habe mich nie als Teil dieser konventionellen Welt empfunden. Ich habe nie dazugehört. Man gewöhnt sich daran, anders zu sein.<< 
Valentinas Herkunft ist schon durch ihre Eltern außerhalb der Bahnen geraten. Ihre Mutter, die sich permanent auf Reisen befand und dadurch selbst schon gegen gesellschaftliche Regeln verstoßen hat, gab Valentina schon als kleines Kind in die Obhut der Großmutter …
Der Vater verließ die junge Familie und kam nie wieder zurück.

Aber auf dem Schiff sind nicht alle Leute so unaufgeklärt. Und wieder ist es Henry, der versucht, Valentina ein wenig Mut zu machen:
>>Das klingt vielleicht etwas ungewohnt, und Sie haben vermutlich eine andere Erziehung genossen. Ich bin aber der Meinung, dass jeder Mensch, ob Mann oder Frau, die Aufgabe hat, darüber nachzudenken und herauszufinden, was seine ganz eigenen Talente und Begabungen sind, und dass wir Menschen verpflichtet sind, uns den Träumen zu stellen, die wir tief in uns finden. Wir erfüllen unser Leben nur, wenn wir das, was wir tun, mit Liebe tun. Nur, was wir mit Liebe tun, gelingt auf die Dauer. Und wir müssen herausfinden, was das ist, was wir lieben können.<< 
Ja, eine sehr, sehr schöne und moderne Sichtweise, die nur ein Künstler haben kann, lol J.


Mein Fazit?

Mein Verdacht hat sich bestätigt. Die Geschichte dieses Buches lässt stark an die Geschichte der Titanic erinnern …

Aus dem Anhang ist zu entnehmen, dass es diese vornehme Dame im weißen Abendkleid und mit den Diamant-Ohrringen tatsächlich gegeben haben soll, allerdings wiesen die Zeitungsartikel recht viele Rätsel über diese Frau aus, sodass die Autorin sich beflügelt sah, der mysteriösen Dame eine Geschichte zu geben. Auch die Namen aller Figuren seien frei erfunden.

Ach, und noch etwas; natürlich gibt es auch hier Liebesgeschichten en masse. Sie zu lesen reicht mir schon. Ich muss nicht noch zusätzlich darüber sprechen.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.

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Auch nach der schwärzesten Nacht geht immer wieder die Sonne auf.
(Agatha Christie)

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