Montag, 6. Juli 2015

Tracy Chevalier / Zwei bemerkenswerte Frauen (1)

Lesen mit Anne ...


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Die Autorin ist Jahrgang 1962 und trotzdem schreibt sie dieses Buch, das sich aus meiner Sicht wie ein Klassiker liest. Mich erinnert der Roman stark an Jane Austen. Ihre Themen und der Stil lassen sich wunderbar mit Jane Austen vergleichen ...
Keine Seite war langweilig oder sentimental. Nein, jede Buchseite habe ich mit großem Interesse verfolgt.

Als ich die Hälfte des Buches erreicht hatte, fragte ich mich, welche von den beiden bemerkenswerten Frauen mir näher standen? Das war eindeutig die junge Mary Anning, doch am Ende gewann auch Elizabeth Philpot meine Sympathie zurück  ...

Der Schluss ist vielversprechend …

Dem Anhang konnte entnommen werden, dass der Roman ein autobiografischer ist. Mary Anning hat es wohl tatsächlich gegeben …

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:

England, 1830: Elizabeth Philpot, eine junge Frau aus besseren Kreisen, deren Familienerbe nicht zu einem standesgemäßen Leben in London reicht, wird von ihrem Bruder in den kleinen südenglischen Küstenort Lyme Regis abgeschoben. Was ihr zunächst wie eine Verbannung vorkommt, erweist sich als glückliche Fügung, denn am Strand nehmen seltsame Steine sie völlig gefangen: Fossilien. Und hier in Lyme Regis begegnet sie Mary, einem Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, das die Familie mit dem Verkauf von Fossilien über Wasser hält und dabei spektakuläre Funde macht. Die beiden so unterschiedlichen Frauen widmen ihr Leben den rätselhaften Versteinerungen. Doch dann verlieben sich beide in denselben Mann.

Es existieren zwei Erzählperspektiven im Wechsel zwischen Mary und Elizabeth. Diese Form von Schreibstil liebe ich, weil man durch die unterschiedlichen Existenzen an unterschiedlichen Gedankengängen teilhaben darf.

Die junge Mary ist um viele Jahre jünger als Elizabeth. Doch nicht nur das Alter trennte diese beiden Frauen, sondern auch der Standesunterschied. Mary gehört der Arbeiterklasse an und Elizabeth zählt zwar nicht zu den Reichen, aber doch zu der gehobenen Klasse. Mich nervte es manchmal, wie sehr Elizabeth der kleinen Mary deutlich zu spüren gibt, dass sie ein armes mittelloses Arbeiterkind sei und sie auch bei der Partnerwahl dies nicht vergessen solle, als sich beide in denselben Mann verliebt hatten ... Doch eine Leidenschaft hatten sie gemeinsam: Beide Frauen waren Fossilienjägerinnen, wobei Mary darin die Erfahrenere und Wissende war:

Schon bald nach unserer Ankunft im Morley Cottage erkor ich Fossilien zu meiner neuen Leidenschaft. Irgendein Zeitvertreib brauchte ich schließlich: ich war fünfundzwanzig, würde wahrscheinlich niemals heiraten und suchte nach einer Liebhaberei, die meine Tage ausfüllen konnte. Das Leben einer Dame kann unendlich öde und langweilig sein.

Frauen waren zu der damaligen Zeit ab einem bestimmten Alter dazu verdammt, partnerlos zu bleiben. Eine Frau wurde erst dann als Frau angesehen, wenn sie verheiratet war und unter der Obhut ihres Mannes stand. Wenn jemand mit spätestens fünfundzwanzig Jahren noch nicht den Bund der Ehe eingegangen ist, galt sie als alt und blieb dann schließlich meist bis zu ihrem Lebensende ehelos.

Elizabeth stammt aus einer siebenköpfigen Familie. Verheiratet waren nur die Schwester Francis und der Bruder John, der nach dem Ableben der Eltern das Regiment seiner Schwestern übernahm … Und somit war Elizabeth nach dem Umzug von London nach Lyme mit ihrem neuen Hobby gut beschäftigt, auch wenn sie manchmal unter der Langeweile klagte, von der vermögende Damen hauptsächlich betroffen waren …

Elizabeth verzweifelt allerdings nicht an ihrer Partnerlosigkeit. Sie ist in der Lage, auch das Positive darin zu sehen, denn sie hat mehr Zeit zur Verfügung, von der verheiratete Frauen nur träumen können.

Marys Mutter Molly hegte anfangs Vorurteile gegenüber den drei Philpot-Schwestern, besonders weil sie nicht verheiratet waren. Sie sah es nicht gern, dass ihre Tochter Mary die Zeit mit Elizabeth verbrachte:

Aus der Sicht Elizabeths:

Ich wusste, dass Molly Anning nicht viel von mir hielt, denn ich verkörperte alles, was Mary nicht werden sollte: unverheiratet und von Fossilien besessen. Ich konnte Mollys Sorgen nachvollziehen.
Auch meine Mutter hätte mir ein anderes Leben gewünscht, und sogar ich selbst hatte vor ein paar Jahren noch andere Träume. Doch jetzt lebte ich eben, wie ich lebte, und es war gar nicht so schlecht. In mancherlei Hinsicht hatte ich mehr Freiheiten als verheiratete Frauen.

Mary hatte es schwer, in den Kreisen der Wissenschaftler aufgenommen zu werden. Ohne den Funden versteinerter Lebewesen wären die Wissenschaftler allerdings aufgeschmissen. Und Mary hatte es mit genügend Wissenschaftlern zu tun:

Aus Elizabeths Sicht:

William Buckland wusste Marys Talent zwar ehrlich zu schätzen, lebte aber so sehr in seiner eigenen Welt, dass er sie nicht als Frau wahrnahm. Wie sehr einen dies verletzen kann, hatte ich selbst kurz erfahren dürfen.

Interessant fand ich, dass mich Tracy Chevaliers Schreibstil an Jane Austen erinnerte, wie ich anfangs schon geschrieben habe. Tatsächlich wird die Autorin Jane Austen hier im Kontext auch noch erwähnt und zeigt doch, dass ich einen guten Riecher hatte. Elizabeth mochte die Autorin partout nicht, während ihre jüngste Schwester Margaret regelrecht für Austen schwärmte, da sie eine leidenschaftliche Belletristikleserin war, während Elizabeth ein Faible für Fachliteratur hegte: 

Während sich die Philpot-Schwestern über Marys Liebeskummer beratschlagten, Molly Anning hatte sie um Hilfe gebeten, da Mary vor Liebeskummer sich grämte, so war es Margaret, die das meiste Mitgefühl für Mary aufbringen konnte und nach einer außergewöhnlichen Idee verlangte, die bei den Schwestern auf Ablehnung stieß:

Wir warteten auf Margaret, um uns gemeinsam zu beraten. Als unsere Schwester abends heimkam, setzten wir uns ans Feuer und sprachen über Molly Annings Brief. Margaret war in ihrem Element. Dies war eine Situation wie aus einem der Romane, die sie so gerne las, zum Beispiel aus der Feder von Miss Jane Austen, die Margaret damals, bei unserem ersten Besuch in Lyme, im Ballsaal gesehen zu haben glaubte. In einem der Bücher von Miss Austen kam sogar Lyme vor, aber ich las keine Romane und wollte mich dazu auch nicht überreden lassen. Das wahre Leben war viel komplizierter, denn dort löste sich nicht alles in Wohlgefallen auf, weil die Heldin den richtigen Mann fand. Wir Philpot-Schwestern waren das beste Beispiel dafür, wie unerfreulich es in der Wirklichkeit ausgehen konnte. Ich brauchte keine Romane, um mich daran zu erinnern, was mir entgangen war.

 Eigentlich habe ich Jane Austen nicht so in Erinnerung, die Love-Storys mit einem schnulzigen Happy End schreibt, sie setzte sich eher gesellschaftskritisch mit der Stellung der Frau aus dem neunzehnten Jahrhundert auseinander. Nun, vielleicht liegt es an Elizabeth, die keine Ahnung von Austens Bücher hat …


 Nachdem es zwischen Mary und Elizabeth wegen einer Liebschaft und Eifersüchteleien zwischen den Frauen gekracht hat, trennten sich die Wege der beiden und Elizabeth nahm in sich durch die Trennung dieser Freundin eine gewisse innere Einsamkeit wahr. Elizabeth fühlte sich in der Gesellschaft nicht wohl, fühlt sich von ihren Mitmenschen als unverheiratete Frau nicht ausreichend beachtet:

Ich merkte, dass ich sowohl von Frauen als auch von Männern angestarrt wurde-ich war eine Außenseiterin. Plötzlich fühlte ich mich allein und schutzlos, die Luft um mich herum wirkte kalt, still und leer. Mir war, als irrte ich durch die Straßen, und ich befürchtete, im nächsten Moment gegen etwas zu prallen. Ich ging an einem Mann vorbei, der mich mit dunkel funkelnden Augen ansah, dann an einem anderen, der mir mit übertriebener Freundlichkeit einen guten Tag wünschte, bis er mein unattraktives, längst nicht mehr junges Gesicht sah und schnell weiterging.

Wie oberflächlich Menschen nur sein können, die andere Menschen nur nach dem äußeren Schein beurteilen. Viele Frauen haben innere Qualitäten …

Mary selbst wünscht sich auch ein Leben mit einem Mann und hat nicht die Absicht, sich auf Dauer mit toten Objekten zu befassen. Sie hoffte, dadurch aus der Armut ausbrechen zu können … Plötzlich tritt ein Mann namens Colonel Birch in ihr Leben, der mit Mary flirtet, sich aber mehr für die Fossilien zu interessieren scheint. Elizabeth versucht Mary den Mann auszureden, bis es erneut zu Wortkeilereien zwischen den beiden Frauen kommt. Aus Marys Sicht: 

Bei den Gefühlen überwogen Wut und Trauer, und zusammen ergaben die beiden Eifersucht. Genau, jetzt begriff ich es richtig, Elizabeth Philpot war eifersüchtig, weil ich so viel Aufmerksamkeit von Colonel Birch bekam. Wie konnte sie nur? Sie hatte nie ihre Möbel verkaufen oder verbrennen müssen, um ein Dach über den Kopf und es warm zu haben. Sie hatte mehrere Tische und nicht nur einen einzigen. Sie ging nicht bei jedem Wetter und Gesundheitszustand hinaus, um stundenlang und bis ihr der Kopf brummte, Fossilien zu suchen. Sie hatte keine Frostbeulen an Händen und Füßen, keine eingerissenen Fingerkuppen, die vom Lehm, der sich darin eingegraben hatte, grau waren. Und Nachbarn, die hinter ihrem Rücken über sie redeten, hatte sie auch nicht. Sie hätte Mitleid mit mir haben sollen, stattdessen beneidete sie mich.

Ich habe es Mary tatsächlich gegönnt, Colonel Birch für sich zu gewinnen. Das wäre es doch mal gewesen, dass sich ein Mann zu einer Frau bekennt, ohne die gesellschaftlichen Konventionen zu beachten. Wie viele Neider sich den Mund wund geredet hätten, das wäre nur zu köstlich.


Elizabeth war so eifersüchtig, dass sie sogar den Colonel warnte, und sie ihn auf den Standesunterschied aufmerksam machte. Das war auch der Grund, weshalb Elizabeth sich bei mir unbeliebt gemacht hat. Mary gab es ihr noch einmal ordentlich in verbaler Form, gebrauchte Schimpfwörter wie alte Jungfer und altes Fossil, als Elizabeth sie daran erinnerte, sie habe nach einer Gesteinslawine Marys Leben gerettet:

Aus Marys Sicht:
Der Wind nahm noch einmal Kraft auf und schwoll zum Orkan an. Ich brüllte so laut und wütend, dass Miss Elizabeth zurückwich. >>Ja, Sie haben mir das Leben gerettet! Und ich werde mein Leben lang die Last spüren, Ihnen dankbar sein zu müssen. Was ich auch mache, ich werde Ihnen immer unterlegen sein. Und wenn ich noch so viele Riesenbestien finde und Geld verdiene, niemals werde ich Ihre gesellschaftliche Stellung haben. Warum können Sie mir denn nicht wenigstens Colonel Birch lassen? Bitte?<< 
Auch Mary fühlt sich einsam, ihr ist bewusst, wie schwer es ist, in gewisse gesellschaftliche Kreise reinzukommen. 
Nie würde mich irgendjemand Miss Mary nennen, ich würde einfach immer nur Mary Anning sein. Und trotzdem war ich auch nicht wie die anderen Menschen aus der Arbeiterklasse. Ich steckte irgendwo dazwischen, und so wird es immer bleiben. Das machte mich zwar frei, aber auch einsam. 
Wie die Geschichte nun ausgehen wird, und was sich noch alles ereignet hat, möchte ich nicht weiter verraten.

Der Roman erhält von mir zehn von zehn Punkten …

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Nur Tote bleiben für immer siebzehn.
(Haruki Murakami)

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