Donnerstag, 13. Februar 2014

Marcel Proust / Die Flüchtige / Auf der Suche nach der verlorenen Zeit BD 6 (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


Band sechs ließ sich leichter lesen als die vorherigen Bände. Trotzdem, Marcel Proust wird mir immer unsympathischer. Ich wage mich an meine Interpretation heran. Ich belege meine Gedanken an Textauszügen... . 
Proust ist hier wieder der Ich-Erzähler, der von sich, seinem Leben und von seinen Mitmenschen spricht. Er ist fremdsprachenkundig und kunstinteressiert. Fiktiver Marcel und realer Marcel lässt sich für mich schwer auseinanderhalten.

Marcel steckt seine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute. Das hat mich ein wenig angewidert. Zudem kommt er mir ein wenig neurotisch vor, wie sehr er die Charaktere anderer Leute gedanklich zerlegt. Aus meiner Sicht eher negativ gefärbt.

Meist nimmt Marcel eher eine negative Haltung zu Menschen ein, Es fließen Reflexionen über Reflexionen, als schaffe er die Subjekte in seinem Geist neu:
Dinge und Personen begannen für mich erst zu existieren, wenn sie in meiner Einbildungskraft eine individuelle Existenz annahmen. Es mochte Tausende von anderen geben, die ihnen glichen, diese einzelnen vertraten für mich alle übrigen. (146)
Marcels Umgang mit seiner Geliebten stimmt mich besonders kritisch. Und das ist das Hauptthema dieses Buchbandes.

Seine Geliebte Albertine hat ihn verlassen. Da das Buch den Titel Die Flüchtige trägt, kam mir Albertine als eine Person vor, die vor Problemen flieht, weil sie zu heiß zu werden scheinen. Marcel zeigt sich geschockt über die Trennung und nimmt in seiner Verarbeitung eine ambivalente Haltung ein.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Frau, die dem Liebenden Leiden bereitet, stets lieb und umgänglich mit jemanden gewesen ist, der sich nichts aus ihr macht, (…). (38)

Als Marcel die traurige Depesche erhalten hatte, schickt er seinen Freund Saint-Loup, Albertine aufzusuchen, um die Gründe der Trennung ausfindig zu machen, aber auch, um Albertine zurückzuholen.
Warum schickte er seinen Freund? Warum geht er nicht selbst?, habe ich mich als Leserin gefragt. Und dasselbe hatte auch Albertine gedacht, die recht schnell das Spiel durchschaute und nicht zu ihm zurückkehrte, sondern ihm ein Telegramm hat zukommen lassen, die ihren Ärger über Saint-Loup und Marcel bekundet hatte.
Lieber Freund, Sie haben Ihren Freund Saint – Loup zu meiner Tante geschickt, was unsinnig war. Mein lieber Freund, wenn Sie mich brauchen, warum haben Sie nicht direkt an mich geschrieben? Ich wäre nur zu glücklich gewesen, zu Ihnen zurückzukehren. Bitte unterlassen Sie künftig solche absurden Schritte. (58)
Marcel ist enttäuscht und vor lauter Enttäuschung begibt er sich auf die Straße und wendet sich einem kleinen Mädchen aus der Nachbarschaft zu, nimmt zu ihr Kontakt auf und fragt, ob sie mit ihm nach Hause kommen möchte. Das kleine Mädchen nickt und geht mit ihm mit. Zu Hause nimmt er das kleine Kind auf seinen Schoß, wiegt es, doch recht schnell hat er genug von ihm, setzt es ab, drückt dem Kind einen hohen Geldschein in die Hand und schickte es wieder zurück nach Hause.

Das fand ich auch eine recht merkwürdige Szene, selbst wenn Marcel keine bösen Absichten hegte, außer, dass er das Mädchen für seine egoistischen Zwecke benutzte. Noch dazu, dass er das Kind dafür bezahlte. Zu Recht brachten die Eltern des Mädchens diesen Vorgang zur Anzeige wegen Verführung von Minderjährigen.
Von nun an würde es mir also für immer unmöglich sein, ein kleines Mädchen zu mir zu holen als Tröstung für meinen Kummer, wollte ich mich nicht vor ihren Augen der Schande aussetzen, dass ein Inspektor auftauchte und sie in mir einen Missetäter sehen mussten. Im gleichen Augenblick wurde mir klar, wie viel mehr man für gewisse Träume lebt, als man selber meint, denn diese Unmöglichkeit, jemals ein kleines Mädchen auf den Knien zu wiegen, schien meinem Leben für immer allen Wert zu nehmen; (48)
Eine weitere für mich sehr fragliche Szene: Marcel schreibt Albertine einen bitterbösen Brief, in dem er ihr ausdrückt, dass er froh sei, dass die Bindung nun gelöst sei und dass sie gar nicht zu ihm passen würde. Weitere Details habe ich schlicht vergessen, weil mir der Brief eine potenzielle Verlogenheit darstellte. Der Zweck dieses Briefes: Albertine durch die Ablehnung wieder an sich zu binden. Indirekt ist Marcel  scheinbar der Meinung, dass Frauen nur über Härte und Ablehnung zur Liebe fähig seien. Aus meiner Sicht hat Marcel es auch gut drauf, Menschen zu manipulieren.

Über die Reaktion von Albertine war ich erstaunt. Tatsächlich antwortete sie höflich und wohlwollend auf Marcels Brief.

Nun folgen noch andere Szenen, die ich abartig fand. Marcel beauftragte mehrere Personen, die Albertine beschatten sollten. Ich gehe auf eine dieser Personen ein. Eine Dame einer Badeanstalt: Und  von ihr erfuhr Marcel, dass Albertine sich von anderen Frauen hat sexuell betören und befriedigen lassen. Albertine wurde demnach als eine Frau beschrieben, die für andere Frauen sexuelles Interesse zeigte. Marcel betrachtete dies als Grund für die Auflösung der Bindung.
Monsieur,  
Monsieur wird mir bitte verzeihen, dass ich nicht eher an Monsieur geschrieben habe. Die Person, die ich im Auftrag von Monsieur aufsuchen sollte, hatte sich für zwei Tage von hier entfernt, und da ich bestrebt bin, das Vertrauen zu rechtfertigen, das Monsieur in mich gesetzt hat, wollte ich nicht mit leeren Händen wieder kommen. Ich habe nun soeben mit der Person gesprochen, die sich gut an (Mlle. A) erinnert. (…) Nachdem, was sie sagt, steht die Sache, die Monsieur vermutete, ohne jeden Zweifel fest. Zunächst einmal hat sie selbst sich jedes Mal um Mlle. A. gekümmert, wenn diese sich in die Bäder begab. Mlle. A kam sehr oft für ihre Dusche zusammen mit einer großen Frau, die älter war als sie, immer in Grau gekleidet ging, und der Badefrau, ohne dass diese ihren Namen wusste, gut bekannt war, weil sie sie oft dabei beobachtet hatte, wie sie nach jungen Mädchen Ausschau hielt. Die Frau kümmerte sich aber um andere gar nicht mehr, seitdem sie die Bekanntschaft von (Mlle. A.) gemacht hatte. Sie und Mlle. A schlossen sich immer in der Kabine ein, sie hielten sich sehr lange dort auf, und die Dame in Grau gab der Person, mit der ich gesprochen habe, mindestens zehn Francs Trinkgeld. Sie können sich ja denken, sagte diese Person zu mir, dass sie dort nicht den Rosenkranz gebetet haben, sonst hätten sie mir ja wohl keine zehn Francs gegeben. Mlle. A. kam manchmal auch mit einer Frau, die eine sehr dunkle Hautfarbe hatte und ein Lorgnon trug. Aber meist erschien (Mlle. A) mit anderen Mädchen, die jünger waren als sie selbst, besonders einer sehr Rothaarigen. (…) Weiter habe ich Monsieur nichts Interessantes zu melden. (149f)
Das Zitat geht meiner Meinung nach auf Vermutungen aus und beruht nicht auf Tatsachen … . Beweist null sexuellen Kontakt zu anderen Frauen.

Marcels Reaktion:
Da ich aus diesem wortlosen und berechneten Eintreffen Albertines mit der Frau in Grau das Rendezvous herauslas, das sie vereinbart hatten, jene Übereinkunft, in einem Duschkabinett es miteinander zu treiben, was Erfahrung in der Verderbtheit sowie die wohlverborgene Organisation eines ausgemachten Doppellebens voraussetzte, und da mir diese Bilder die schreckliche Kunde von Albertines Schuldhaftigkeit überbrachten, hatten sie mir zweifellos gerade deshalb unvermittelt einen physischen Schmerz zugefügt, mit dem sie untrennbar verbunden bleiben würden. (152f) 
Homosexualität ist schon im ersten Band Thema gewesen, hauptsächlich aber im vierten Band, Sodom und Gomorrha, wird das Thema anhand der Figuren noch eingehender behandelt.

Von Freundschaft hält Marcel auch nicht viel:
Die Bande zwischen einem anderen und uns existieren nur in unserem Denken. Wenn das Gedächtnis nachlässt, lockern sie sich, und ungeachtet der Illusion, der wir gern erliegen würden und mit der wir aus Liebe, aus Freundschaft, aus Höflichkeit, aus Achtung, aus Pflichtgefühl die anderen betrügen, sind wir im Leben allein. Der Mensch ist das Wesen, das nicht aus sich heraus kann, das die anderen nur in sich selbst kennt und das genügt, wenn er das Gegenteil behauptet. (54f.)
Ein wenig scheint ja etwas dran zu sein.

Eine letzte Szene soll nun noch folgen, bevor ich meine Buchbesprechung beende:

Marcel reist mit seiner Mutter und mit guten Bekannten nach Venedig. Sie kehren in ein nobles Hotel ein, und er  wird eines Tages Zeuge einer Konversation zwischen den italienischen Hotelbediensteten, die sich in ihrer Muttersprache über diese französischen Gäste ärgerten, da die Gäste zum einen nicht vornehm genug für ihr Hotel seien und zum anderen sie sich nicht an die Hausregeln halten könnten und diese das Personal immerfort mit Sonderwünschen konfrontieren würden. Sie ahnen nicht, dass Marcel der italienischen Sprache mächtig ist und sie verstand. Marcel ist zutiefst verletzt und enttäuscht und äußert sich am Ende der Reise schließlich abfällig zu Venedig und deren billigen Kunst- und Bauwerken. Venedig sei eine verlogene Stadt.

Mich hat diese Szene sehr betroffen gestimmt und ich großes Mitgefühl für Marcel empfunden habe. In der Tat eine peinliche und verletzende Begebenheit.


Mein Fazit:

Auch wenn ich keine Proustianerin mehr werde, bin ich trotzdem interessiert, die anderen drei Bände auch noch zu lesen, allerdings zeitversetzt, da ich nicht über so eine so große Ausdauer verfüge, wie Proust sie selbst hat. Man muss viel Zeit haben, man muss geistig und seelisch gut drauf sein, wenn man sich mit seinen Werken beschäftigen möchte. Seine subjektiven, psychologischen und introvertierten Gedanken zu seinem Welt- und Menschenbild sind mir nicht immer nachvollziehbar.

Wie es mit Marcel und Albertine weiter geht, lasse ich offen und verweise auf die Lektüre.

Mir fehlen noch die Bände vier, fünf und sieben. Den vierten Band hatte ich abgebrochen, den ich aber zu einer anderen Zeit erneut aufgreifen werde.
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Es gibt in unserer Seele Dinge, an denen wir mehr hängen, als wir selbst wissen.
(Marcel Proust)

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