Sonntag, 26. Januar 2014

Helen Simonson / Mrs. Alis unpassende Leidenschaft (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Obwohl ich eigentlich keine Liebesbücher mag, muss man manchmal eine Ausnahme machen, weil das Buch für mich eine Ausnahme ist, in der Form, wie die Autorin ihre Themen darin aufgezogen hat.

In dem Buch geht es eher um die reifere Liebe zweier Menschen im Alter zwischen Ende fünfzig und Ende sechzig.

Aber es ist keine reine Liebesstory. Hier geht es viel um Interkulturalität zwischen Pakistan und England, aber auch zwischen England und England. Simonson ist es wahnsinnig gut gelungen, ihre Herkunftskultur England kritisch zu beleuchten. Ich finde das nur fair, indem man nicht nur über die fremde Kultur sich kritisch auslässt, und die eigene Kultur nebeneinandergestellt als die perfektere idealisiert. Diese Herangehensweise über die Sichtweise zu anderen menschlichen und kulturellen Lebensarten können sich viele AutorInnen aus den nördlichen Länderregionen eine Scheibe von Simonson abschneiden. 

Es geht hier viel um den Rassismus in England. Auch um anders lebende Menschen, wie z. B. alleinerziehende Mütter sind ebenso der englischen Gesellschaft Diskriminierungen und Ablehnungen ausgesetzt. Auch vor Kindern wird kein Halt gemacht. Damit zeigt mir die Autorin, dass jedes Land seine eigenen Traditionen hegt und alles verurteilt, was anders zu leben versucht.

Eigentlich sollte die Protagonistin Mrs. Ali sein, deren Eltern aus Pakistan kamen, und sie in England aufgewachsen ist. Obwohl sie eine englische Identität hat und einen ausländischen Namen trägt, wird sie nie als Britin anerkannt. Schon allein ihre Hautfarbe erlebt sie wie ein Stigma. Mir ist sie sehr sympathisch, nicht nur, weil sie belesen ist, nein, weil sie in ihrer Art etwas Besonderes ist. Sie zeigt einfach Verständnis für menschliche Schwächen. Mrs. Ali ist Witwe. Sie war einst mit einem Pakistaner verheiratet. Sie ist ein Mensch, der mehrere Kulturen zu leben weiß und beide zu schätzen gelernt hat, auch wenn im Hintergrund noch die Familie im Spiel ist, die ein Auge auf sie wirft, trotz ihres reifen Alters. Es geht viel um die Ehre des Familienlebens. Trotzdem lebt Mrs. Ali ein selbstbewusstes Leben… . Sie besitzt einen Lebensmittelladen.

Aber für mich ist der Major die eigentliche Hauptfigur. Auch er ist Witwer, mit dem Namen nennt er sich Ernest Pettigrew. Er kämpft ganz schön mit Vorurteilen. Als er Mrs. Ali näher kennenlernt, zeigt er sich erstaunt über ihren Hang zu Büchern. Aus seiner Sicht passte das nicht zusammen; einen Laden zu führen und sich für Bücher zu interessieren… . Und den pakistanischen Hintergrund? Erst später im Buch muss er bekennen, dass es Zeiten gab, als der Orient von seiner Kultur her fortschrittlicher war als England. In dieser Zeit, so der Major, wären die Engländer noch den Schafen nachgelaufen. War ja bei den Griechen und den Römern nicht anders gewesen. Diese Kulturkreise, die heute abgeflacht sind, genossen eine Weltmacht zu unterschiedlichen Epochen. Nun sind es die Westeuropäer, die sich in der Weltmacht befinden. Alles scheint sich um den Erdball einmal zu drehen… .Und doch muss der Major die Erfahrung machen, dass zwischen ihm und Mrs. Ali viele Gemeinsamkeiten bestehen.

Simonson bricht auch Tabus, indem sie detailgetreu den Toten vor sich sieht, den Toten in seinem Verwesungsprozess. Es betrifft Ernests jüngeren Bruder Bertie. Der Major befindet sich in der Trauerphase und findet in der Gesellschaft kaum Verständnis, als er das Bedürfnis zeigte, über den verstorbenen Bruder zu reden. Alles recht oberflächliche und floskelhafte Reaktionen.
Wäre nicht Mrs. Ali vorbeigekommen - und wieder empfand er leichten Groll darüber, dass sie es nicht getan hätte; ihn mit oberflächlichen Redensarten zurückzuweisen, sie hätte ihn verstanden. Mrs. Ali, da war er sich ganz sicher, hätte ihn von Berti erzählen lassen. Nicht von der Leiche, die sich bereits in der Erde zu verflüssigen begann, sondern von Berti, wie er gewesen war.

Der Major trat in den leeren Garten hinaus, um die Sonne auf dem Gesicht zu spüren. Er schloss die Augen und atmete ganz langsam, um den Stoß abzudämpfen, den ihm das innere Bild von Berti versetzte, Berti in der Erde, kalte, grünliche Haut, die sich nach und nach in etwas Geleeartiges verwandelte. (51)
Auch der Major ist ein belesener Mensch und findet den Austausch über Literatur gerade in der Ladenbesitzerin Mrs. Ali.

Aufgefallen ist mir auch der Sohn des Majors, Roger heißt er und ist 28 Jahre alt und von Beruf Banker. Auch Roger ist geplagt von vielen Vorurteilen. Er diskriminiert nicht nur Menschen mit einem fremdländischen Namen (232), ausgenommen sind die AmerikanerInnen, nein, er diskriminiert auch alte Menschen, zu denen auch sein Vater zählt. Eigentlich ist Roger eine peinliche Kreatur, der nichts anders im Sinne hat, ausschließlich seinen eigenen Bedürfnissen und Zielen nachzugehen. Den Vater, der noch fit auf den Beinen ist, behandelt er wie ein Kind, das ständig Unterstützung bedarf. Auch hier behandelt die Autorin ein Thema, das zwischen den Generationen liegt. Alter konfrontiert mit Jung… . Gegensätze… . Roger behandelt Menschen nur nach Kosten-Nutzen-Faktor. Er ist total materiell eingestellt und sein Vater wundert sich über mangelnde ideelle – menschliche Werte und hadert mit sich, ob er seinen Sohn so emotionsarm erzogen habe… . Roger wundert sich über die vielen Bücher seines Vaters:
"Mein Sohn ist der Meinung, ich sollte das meiste davon wegwerfen. (…) Seiner Ansicht nach brauche ich eine freie Wand für ein Entertainment Center und einen großen Fernseher."
Roger war schon mehr als einmal mit dem Vorschlag angekommen, er solle seine Büchersammlung verkleinern, um das Zimmer moderner einzurichten, und hatte angeboten, ihm einen raumfüllenden Fernsehapparat zu schenken, damit er abends etwas zu tun habe."Wahrscheinlich ist es einfach so, dass die jüngere Generation versuchen muss, die Führung zu übernehmen und das Leben der älteren zu bestimmen", sagte Mrs. Ali."Seit mein Neffe bei mir wohnt, habe ich kein eigenes Leben mehr.
(…)"Mit dem Telefon stöbern sie einen sogar im eigenen Haus zu jeder Tages-und Nachtzeit auf", sagte der Major. "Ich glaube, mein Sohn will mein Leben organisieren, weil es einfacher ist, als sein eigenes. Es gibt ihm das Gefühl, etwas unter Kontrolle zu haben in einer Welt, die noch nicht bereit ist, ihm Verantwortung zu übertragen." (149f)
Und so ist es auch. Roger kommt mit seinem eigenen Leben nicht klar. Siehe Weiteres im Buch.

Interessant fand ich die politischen Aspekte, die die Autorin in ihrem Roman mit eingebaut hat. Eigentlich sind es die Engländer gewesen, die in der Geschichte nach Indien eingebrochen sind, und ihnen die Kultur raubten. Indien musste um seine verlorene Unabhängigkeit kämpfen, politisch, gesellschaftlich und kulturell. Ich denke hierbei an Gandhi, der gegen die zweihundertjährige koloniale Ausbeutung kämpfte. Für den arroganten Engländer ist er es gewesen, der den Inder die Unabhängigkeit schenkte… .

Weshalb mir der Major so interessant erscheint, wohl deshalb, weil er sich seiner Schwäche durch den Kontakt mit Mrs. Ali bewusst wurde.

Das Ende hat mir auch gut gefallen, da es zwischen den Figuren Entwicklungen gab, aber nicht in allem ein Happy End. Ich spreche auch von Figuren, die ich hier nicht erwähnt habe.

Um nicht zu viel vorwegzunehmen, lest einfach selbst, wenn ich eure Neugierde wecken konnte. Es ist kein Buch für nur Senioren, nein, es ist ein Buch für alle Menschen, Jung und Alt.

Nun habe ich über die Liebesbeziehung zwischen dem Major und Mrs. Ali so gar nichts geschrieben. Lest einfach selbst.


Mein Fazit:

Mir hat das Buch gezeigt, dass der Mensch in jedem Alter wichtige Lern- und Lebensphasen vollbringen kann. Das liegt an jedem selbst. Man kann aber auch sich als alternder Mensch auf die alten Tage ausruhen und warten, bis der Tod ihn erlöst. 

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten. Der literarische Stil hat mir gut gefallen. Auch der Schreibstil war recht fantasievoll und die Perspektiven der Figuren nicht in Schwarz – Weiß Facetten gekleidet.
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Außerdem braucht jeder ein paar Schwächen, sonst ist man kein richtiger Mensch. 
(Helen Simonson)

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