Sonntag, 8. Dezember 2013

Maarten t´ Hart / Unter dem Deich (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich habe das Buch nun durch und es hat mir sehr gut gefallen, auch wenn ich anfangs Mühe hatte, reinzukommen. Ein wenig passt ja die Thematik zu meiner letzten Lektüre. Zur Erinnerung noch einmal der Klappentext:
In »Unter dem Deich« erinnert sich Maarten ’t Hart an sein Maassluis der 50er-Jahre, an ein Kindheitsparadies, wie es nicht mehr lange existieren sollte: Die alten Häuser unter dem Deich sollen abgerissen werden, viele Menschen drohen ihr Heim zu verlieren. In diesem Viertel wohnt auch die begabte junge Clazien, die aus ärmlichen Verhältnissen stammt und keine höhere Schule besuchen kann. Als Aushilfe in einem Lebensmittelladen lernt sie den stillen Piet kennen und beschließt, bei ihm zu bleiben. Die beiden heiraten, doch Claziens Sehnsucht nach gesellschaftlichem Aufstieg lässt sich nicht unterdrücken. Als sie Jan begegnet, einem Lehrer, der neu in die Stadt kommt, sieht sie in ihm einen Seelenverwandten. Sie verlässt Piet und glaubt, es endlich geschafft zu haben. »Unter dem Deich« entführt uns in eine untergegangene Welt und erzählt die tragische Geschichte der Irrungen und Wirrungen einer rastlosen Frau.
Für die Protagonistin Clazien hatte ich tiefes Verständnis. Ein hoch begabtes Kind, dem die höhere Schule vergönnt geblieben ist. Sie stammt aus einer einfachen Familie mit einem niedrigen Bildungsniveau. Dazu noch mittellos. Ein zu kleines und beengtes Haus, das voll mit Möbeln gestellt ist. In einem Schlafzimmer waren alle Familienmitglieder untergebracht. Zu viele kleine Geschwister. Clazien hatte keinen Raum für sich, in dem sie sich entfalten konnte, nicht die notwendige Ruhe, sich auf die Schule vorzubereiten. Sie schaffte es bis zur Fachoberschule. Die Eltern selbst sahen es nicht ein, das begabte Kind auf der höheren Schule zu begleiten und zu unterstützen. Teilweise auch aus versteckten Neidgefühlen, Angst, die eigene Tochter könne mal mehr wissen, als die Eltern. Auch dies hatte sich in letzter Zeit in vielen anderen Büchern wiederholt; neidende Eltern auf ihre begabten Kinder.

In dem Buch werden viele Geschichten aus dem Leben der Menschen erzählt. Manchmal auch mit absolut schwarzem Humor umrandet.

Im Folgenden geht es um eine männliche Figur, die zweimal verheiratet war:
"Er sprach immer von seiner ersten Frau." Sie war doch so eine prima Frau schon. Immer genau und sauber. Nie keine Probleme mit ihr gehabt. Was sie auch angepackt hat, die konnte alles. Ich wär wirklich zufrieden, wenn ich' nen Ableger von ihr hätte."
Einen Ableger von seiner Frau, *lol*. Auf so eine Idee muss man erst mal kommen. Prima Frau?, nie Probleme gehabt? *lol*.
Und dann fuhr er fort: "aber die, die ich jetzt hab, die is wie ein Knäuel Wolle voller Kletten. Steigt jeden Morgen mit griesgrämigem Gesicht aus dem Bett, während Janetje hier immer mit beiden Beinen zugleich losgesprungen ist. Womit ich sagen will: nie mit dem verkehrten Bein. Ach, ach, meine Janetje! Sie war wie ein Fahrrad, mit dem man spät zu Bett gehen und trotzdem morgens früh wieder bei der Arbeit sein kann. Sie kommt nie mehr zurück " (110f)
Fand ich ein originelles Zitat.

Die Mutter von Clazien ist Schneiderin. Aber sie nähte keine modischen, sondern eher alltagstaugliche Kleider. Der Vater Onderwater ist Arbeiter.
Die Familie bekommt Besuch und dieser zeigt sich erstaunt über das Auftreten der Familienmitglieder:
"Nachdem wir geklingelt hatten, erschien ein traurig dreinblickender Onderwater, der uns in die Wohnstube führte. Im Halbdunkel bemerkte ich eine Frau, die an einer Nähmaschine saß und sich nicht dazu herabließ, von ihrer Flickarbeit aufzuschauen. Offenbar benutzte sie ihren Mund als Nadelkissen; Dutzende von Nadeln ragten zwischen den Lippen hervor. Beim Ofen saß ein Mädchen in einem Lehnstuhl, das älter war als ich; ich hatte sie wiederholt auf dem Marktplatz mit einem Kreisel spielen sehen. Sie grüßte nicht, sondern guckte, als wollte sie uns für ihre Weihnachtstafel schlachten. Mein Vater schaute sie ebenfalls an, und Onderwater sagte:" Ja, ja, meine älteste Tochter! Wie kann sie so wachsen ohne Wurzeln!"
Auch eine starke Metapher, ohne Wurzeln zu wachsen. Drückt aber aus, dass Clazien keinen Platz in der Familie findet. Und beim weiteren Lesen auf den folgenden Seiten nimmt man als Leserin daran teil, wie Clazien nirgends wirklich in der Welt sich zugehörig fühlt. Ein ganz besonderer Mensch, der anders als andere Menschen ist. Andersartigkeit darf aber nicht sein, auch in der Familie Onderwater, die alles so belassen möchte, wie es ist. Als Arbeiter geboren? Als Näherin geboren? Dann finde dich damit ab. Clazien versucht immer wieder einen Weg für sich zu finden. Die Gesellschaft lässt es nicht zu, dass sie, ein Mitglied der niederen Gesellschaftschicht unten am Deich lebend, sie in die höhere aufzunehmen. Und so erfährt sie selbst mit ihrer engsten Freundin Maud und ihrem zweiten Mann eine Form von Diskriminierung und Ausschluss auf eine passive Art und Weise. Passiv deshalb, weil viel hintenrum passiert, Claczien auszuschließen.

Maud und Clazien befinden sich in einem Café:
"Claczien war sich bewusst, dass sie Messer und Gabel - Besteck, (…) nie so würde benutzen können, wie Maud es tat, die seit Kindesbeinen daran gewöhnt war. Alle ihre Bewegungen kamen ihr hölzern und plump vor, ohne die unübersehbare Grazie, die auf der anderen Seite des Tisches so beiläufig an den Tag gelegt wurde. Sie fühlte, die Ober wussten, sahen, erkannten, dass sie ein Mädchen aus dem einfachen Volk war und immer bleiben würde. Sie wandten sich an Maud, fragten Maud, ob es schmeckte, ließen Maud den Wein kosten, brachten Maud die Rechnung. Sie dachte an Goethes Zeilen. Auf der Fachoberschule hatte Clazien genug Deutsch gelernt, um die Verse mehr oder weniger verstehen zu können.
" Könnte man auch glauben, eine Perücke wurde etwas ändern."

Diese Szene fand ich recht traurig und nachdenkenswert zugleich. Man kann es nicht wirklich verstehen, warum Menschen so ticken.

Clazien bereist mit Maud Paris. Sie wollten die Pariser Mode kennen lernen und auch zu den feinen Damen zu gehören. Clazien ist entsetzt, als sie die vielen obdachlosen Menschen sieht, parallel existierend zu dem Glanz und Glamour:
"Wie feinfühlig die Pariser doch sind! So feinfühlig, dass sie es ganz normal finden, bedient zu werden."
Auch wieder ein Zitat gepackt in einem humoristischen Widerspruch... .

Originell fand ich auch eine andere Szene. Wenn die Feuerwehrleute zu wenig Brände zu löschen hatten, dann wurden aktiv Brände gelegt, damit sie Arbeit hatten und sich die Feuerwehr über Wasser halten konnte. Man nennt sie die "Anzündgruppe".
"Wozu braucht man die denn?"" Schau", sagte ein Feuerwehrmann," wir können doch nicht das ganze Jahr auf dem faulen Hintern sitzen. Es muss doch ab und zu ein Feuerchen geben. Sonst verdienen wir doch nichts." 
"Und die Männer legen dann einfach ein Feuer?"
" Wenn es nicht genug normale Brände gibt."
" Ich glaube dir kein Wort."" So, du glaubst also, das ganze ist ein netter Scherz? (…) Werden die Tage länger, werden die Fröste strenger. " (132)
Über diese Art von Logik musste ich arg lachen. Auch wenn sie ernst gemeint ist.

In dem Buch wird auch viel die katholische Kirche aufs Korn genommen. Ich gehe jetzt darauf nicht näher ein und verweise alles andere auf das Buch.

Die Lektüre beginnt mit einem Prolog und endet logischerweise mit einem Epilog.

Mein Fazit

Überaus positiv fand ich, dass der Autor Partei für die Frau ergriffen hat. Indirekt kritisiert er, dass sie in der Kirche und auch in der Gesellschaft stark benachteiligt ist. Das fand ich schön. Man muss im Leben auch mal für eine bestimmte Menschengruppe Partei ergreifen dürfen. Man kann nicht immer nur neutral sein, nur der Objektivität wegen. Man muss sich einmischen, wenn man ein bisschen die Welt verändern möchte.


Aus einer anderen Szene ging zum Beispiel hervor, wie ein Arbeiter seiner Frau die Lohntüte abgegeben hatte, und sie war es, die das Geld einteilte.

Wegen des literarischen Reichtums an poetischer und fantasievoller Ausdrucksweise erhält das Buch von mir zehn von zehn Punkten.
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