Montag, 5. August 2013

Erwin Strittmatter / Der Laden II (1)

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Eine Buchbesprechung der o. g. Lektüre


Ich fühle mich in dem Schreibstil des Autors zu Hause. Strittmatter schreibt einfach toll; fantasievoll, mit Witz und Humor, und er besitzt eine große Beobachtungsgabe.
Die Trilogie des Autors erinnert mich an Marcel Prousts Werke, nur dass Strittmatter eben über seine "Zunft" schreibt, die Zunft der Kleinbürger. Es passiert nicht viel, wer auf Action aus ist, wird sich langweilen, wer Pointen einer Kultur Anfang des 20. Jhrd. sucht, wird sich zufriedenstellen und neugierig sein. Ich gehöre der zweiten Kategorie an... .

Es geht um Esau Matt, der aus der Ich-Perspektive über seine Kindheit schreibt, darin mit eingeschlossen sein umgebendes Umfeld.

Es ist eine Autobiographie und die Eltern von Strittmatter gaben für die Veröffentlichung dieser nur ihr Verständnis, wenn er die autobiographischen Werke anders benennt, z.B. wurde abgemacht, dass der Autor den Literaturfiguren nur fiktiven Namen gibt. Und das tat er dann auch. Ich habe die Eltern als recht positiv und tolerant gegenüber ihren Sohn erlebt, die mir dadurch recht sympathisch wurden.

Was den Humor betrifft, so fand ich ihn getroffen, wie Strittmatter aus der Perspektive eines Kindes die Welt, von der er umgeben ist, zu verstehen versucht. Fast auf jeder Seite gab es etwas, worüber ich schmunzeln oder lachen musste, ohne aber dass die Figuren zu sehr ins Lächerliche gezogen werden. Betrachtet werden die Figuren mit der Logik eines Kindes.

In dem zweiten Band der Trilogie geht es um den größeren Schüler Esau Matt, der von der Grundschule auf die Sekundarstufe I und II wechselt. Bis zum Ende des Buches legt Esau seine Kindheit und Jugend ab.

Esau Matt beobachtet nicht nur die Welt seiner Mitmenschen, nein, sogar auch die der Tiere und geht recht kritisch mit seinen Beobachtungen um:
Ich habe gesehen, wie frisch geschlüpfte Küken nach einem roten Pünktchen auf der Zehenhaut eines Mitkükens pickte, bis dem ein Blutstropfen aus der Zehenhaut trat, und wie dies Küken danach erst recht bedrängt und gehackt wurde, bis er sich in eine Ecke hockte, matt wurde und umkam.Ich begriff nicht, wie das, was sie Rohheit nennen, schon in den Eintagsküken stecken konnte, auf die noch nicht ein Strählchen Sonne gefallen war. Da muss die Rohheit schon im Ei in ihnen gewesen sein oder noch früher, vielleicht schon im Hahnensamen, als er die Henne betrat. (24)
Auch zu den Schlachttieren bildet er sich schon recht früh eine kritische Meinung. Diesbezüglich war er seiner Zeit voraus. Während heute noch viele Menschen Wurst verzehren ohne darüber nachzudenken, geht Eau dazu einen anderen Weg.
In den Grasgarten der Lehnigks bauten die Dorfmaurer ein Schlachthaus, in dem wir als Kinder zusahen, wie Ochsen, Bullen, Kühe, Schweine, Schafe und Ziegen starben. Im Fleischerladen wurde das Fleisch der getöteten Tiere umbenannt: Rindfleisch verwandelte sich zu Rouladen, Schweinefleisch zu Karbonaden und Schinken. Wir Menschen, wir Tieresser, beruhigen unser Gewissen mit diesen Umbenennungen ein wenig. Wurst, zum Beispiel, lässt uns ganz und gar vergessen, dass sie aus Fleisch von getöteten Tieren besteht; Wurst ist eben Wurst."(319)
Esau Matt, so heißt der Protagonist des Romans, verlässt über der Woche sein Elternhaus, und zieht ein paar Ortschaften weiter weg in die Souterrainwohnung seiner Pensionseltern Juro und Mina Baltin, um den neuen Schulweg zu verkürzen. Die Baltins sind FreundInnen seiner Eltern. An den Wochenenden fährt er wieder zurück nach Hause... . Esau Matt lebt sich gut in seiner Gastfamilie ein. In der Schule zählt er zu den Besten in seiner Klasse.
Als ein Lehrer die Schüler befragt, welchen Beruf der Vater praktizieren würde, so lachten diese Esau aus, als er ihnen mitteilte, dass sein Vater Bäcker sei. Der Lehrer war klug und konnte einschreiten, in dem er passende und wertschätzende Worte zu dem Bäckerberuf von sich gab: "Seid nicht affig. Der Mensch muss essen. Gebacken muss werden." (208) Die Schüler hörten auf zu lachen.

Juro Baltin denkt über Esaus Zukunft nach:
In die Gewerkschaft müsste ich später auch rein, rät Juro. Später, später, immer dieses später! In der Schule sagen sie uns, später werden wir uns über alles freuen, was wir gelernt haben. Weshalb richten sie es nicht so ein, dass wir uns gleich darüber freuen können? (105)
In seinem zarten Kindesalter macht sich Esau auch Gedanken über die Politik. Es gibt nichts, worüber er sich keine Gedanken macht. Er scheint für alles ein gutes Feeling zu haben, eine recht gute Einschätzung der Sachlage aus seiner Umwelt:
Die Regierenden preisen als Fortschritt, was sie tun, und wecken bedenkenlos Bedürfnisse bei den kleinen Leuten, und wenn sie die Bedürfnisse nicht mehr erfüllen können, heißt es, es herrschen ungünstige Zeitverhältnisse. Als ob die Verhältnisse nicht von Menschen, von Stadtvätern und ähnlichen Leuten geschaffen werden. (…) Das Winterhalbjahr ist für die Kleinstädter die Zeit, sich kräftiger zu bilden als im Sommer. Wissen ist Macht, predigen die Studienräte. Aber noch immer gehört die Macht nicht denen, die wissen, sondern denen, die über die Mittel verfügen, den Wissenden ihr Wissen abzukaufen, um Machtinstrumente daraus zu fertigen. (108 / 118)
Esau Matt ist kein gewöhnliches Kind. Schon allein, dass die Mutter einen Laden führt, macht ihn besonders. Einerseits hat das positive Folgen, andererseits auch weniger positive. Damit die Kunden nicht wegbleiben, muss er immer ein tadelloses Verhalten an den Tag legen. Den Laden zu führen, in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, ist für die Familie eine hohe Herausforderung. Ich finde, dass die Eltern auch ganz besondere Menschen sind. Auch Esaus Großvater lässt in Esau prägenden Einfluss zurück. In der Schule wird das Nationallied gesungen, doch Esau weigert sich, es mitzusingen:
Am Schluss lässt der Lehrer das Deutschlandlied anstimmen: Deutschland, Deutschland über alles… ich singe nicht mit. Großvater hat mir das Deutschlandlied ausgeredet. Für ihn ist es Patschuli. Wenn die Deitschen über alles sind und überalle hinkriechen, sagt er, wohin sollen wir Wendnschen denn? (119)
Irgendwie ist Esaus Familie mit besonderer Begabung ausgestattet, wenn diese auch mehr auf das alltägliche Leben umgesetzt werden.

Esau bekommt von der Mutter immer wieder aufgetragen, ihre selbst geschriebenen Gedichte auswendig zu lernen. Doch Esau weigert sich mittlerweile:
Ich bin misstrauisch gegen die Gedichte meiner Mutter geworden, weil ich inzwischen viele Gedichte von wirklichen Dichtern hinter mir habe, ganze Gedichtsbücher. Theodor Storm ist mir zum Beispiel verwandter als meine Mutter: es ist so still; die Heide liegt/im warmen mittags Sonnenstrahlen…. (91)
Die Gedichte seiner Mutter behandeln oftmals Küchen und den Haushaltsbereich:
In dem Gedicht meiner Mutter wird erklärt, dass die Fausthandschuhe nicht gegen Kälte, sondern gegen Wärme schützen sollen; es sind Topflappen: dir nicht die Finger zu verbrühen, soll's dieser Handschuhe bemühen… nein, das sag ich nicht auf! (91)
Wieder zurück in die Tierwelt. Das folgende Zitat möchte ich unbedingt festhalten. Esau macht die Bekanntschaft mit einer Schildkröte, die er gefunden hat und wundert sich über die Beschaffung des Schildkrötenpanzers:
Ich bringe die Schildkröte bis zum Wochenende in einer der leeren Duschkabinen des Badekellers unter und füttere sie mit Apfel-und Birnenstücken. Wenn ich nach den Schularbeiten bin, sitze ich bei ihr und stelle mir vor, wie mir zumute sein würde, wenn mir mein Anzug auf dem Buckel festgewachsen wäre. (140)
Esaus Schulleistungen lassen nach, als er in die Pubertät gerät und anfängt sich für Mädchen zu interessieren. Weitere Details dazu sind dem Buch zu entnehmen.
In seine Klasse kommt ein neuer Schüler namens Wullo Kanin, der ein wenig älter als Esau ist, und in der Schule mit dem Stoff nicht zurechtkommt. Esau Matt wird von seinem Klassenlehrer gebeten, Wullo Nachhilfe zu geben. Aus der Nachhilfe wurde nix, da Wullo ganz andere Interessen hegte und Esau auch damit konfrontierte. Mädchen, Kunst, Lust auf freies Leben... . Diese Lebensweise färbte sich auch auf Esau ab, so dass auch seine Schulleistungen dermaßen nachließen, dass seine Versetzung gefährdet war. Wenn auch Wullo Kanins Auftreten für mich nicht wirklich als bewundernswert gilt, so hat mir doch eine Zitat gefallen, das von ihm stammt. Es geht um die kulturellen Errungenschaften verschiedener Länder:
Wullo Kanin ist mir wieder einmal voraus und weiß drauf zu laufen: Er schreibt wortschwällig über die Bedeutung nationaler Heldenlieder. Die Griechen haben ihren Ilias, schreibt er, die Finnen ihre Kalevala, die Nordländer ihre Edda, die Kaukasier ihren Recken im Tigerfell und die Juden das Alte Testament. Jedes Volk will nachweisen, wie zeitig und in welch nachtschwarzer Vorzeit es schon auf den Beinen war, seine Heldentaten zu verüben - und eben, wie wichtig diese Ur Epen den Völkern sind, ihre Daseinsberechtigung und ihr Recht auf Vorherrschaft nachzuweisen. (273)
Dieser Gedanke hat mir recht gut gefallen.

Ich mache hier nun Schluss und gebe dem Buch wegen seiner Differenziertheit an Welt- und Menschenbild zehn von zehn Punkten und freue mich schon auf den dritten Band der Trilogie. Bin neugierig, wie Esau Matt als Erwachsener durch die Welt zieht und wie er sein junges erwachsendes Leben gestalten wird.
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Wir lernen auf Erden eine Menge Menschen kennen, aber am wenigsten uns selber!
(Erwin Strittmatter)

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