Mittwoch, 30. November 2016

Zelda la Grange / Good Morning, Mr. Mandela (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Am Anfang fand ich die Lektüre richtig spannend. Bis zur Mitte des Buches konnte ich mein Interesse noch gut aufrechterhalten, doch dann ebbte es immer weiter ab. Mittlerweile denke ich, es wäre besser, eine echte Biografie zu Nelson Mandela zu lesen. Einerseits. Andererseits hat mich die Autorin Zelda la Grange im Zusammenhang mit Rassismus tief beeindruckt.

Was mir sehr gut gefallen hat, ist die Wertschätzung, die die Autorin allen Menschen entgegengebracht hat, wobei sie diesen Respekt und diese Wertschätzung auch erst hat lernen müssen. Und sie hat es gelernt, nicht durch Erziehung, sondern durch Nelson Mandela, der ihr diese Menschlichkeit vorlebte.
Präsident Mandela hat es geschafft, all meine Vorurteile gegenüber Schwarzen zu beseitigen. Er lag mir so sehr am Herzen, wie einem die eigenen alten Großeltern am Herzen liegen. (220)
Zelda la Grange ist eine Weiße, die 1970 geboren und in Südafrika unter dem Apartheid-Regime aufgewachsen ist. Die Weißen in Südafrika bezeichnet man als AfrikaanerInnen. Zelda la Grange hatte zuvor noch nie ihr anerzogenes Weltbild hinterfragt und wuchs mit vielen rassistischen Vorurteilen auf. Es war sehr interessant zu lesen, wie sie es schaffen konnte, politisch, sozial und gesellschaftlich ein anderer Mensch zu werden. Hierzu habe ich vor dieser Frau große Hochachtung.
Man lebt dieses Leben, ohne dass einem klar wird, dass es jenseits davon auch noch Leben gibt: Themen, Politik Weltgeschehen und Trends, die Einfluss auf die eigene Welt haben. Wenn man behaglich lebt, stellt man keine Fragen, ich hatte keinen Grund, in Frage zu stellen, was außerhalb unserer vier Wände vor sich ging. Kein Mensch wird als Rassist geboren. Man wird erst durch die Einflüsse um einen herum zum Rassisten. Und ich war mit dreizehn Jahren zur Rassistin geworden. Dieser Rechnung zur Folge hätte ich niemals zu der Assistentin werden dürfen, die dann am längsten für Nelson Mandela tätig geworden ist. Doch genau das geschah. (29)
Die junge Zelda la Grange wollte ursprünglich Schauspielerin werden, doch ihr Vater war dagegen, da die Schauspielerei keine sichere berufliche Aussicht darstellen würde. Und so ging Zelda auf’s College, um Sekretärin zu werden. Nach ihrer Ausbildung fand sie recht schnell eine Stelle. Sie nahm eine Tätigkeit als erste ministerielle Schreibkraft im Präsidentenamt auf. Bis sie schließlich erfuhr, dass sie für Schwarze arbeitete. Erst war sie Assistentin für eine Schwarze namens Mary Mxadama. 
Da ich noch nie zuvor für eine Schwarze gearbeitet habe, widerstrebte es mir, meine Deckung schon zu bald aufzugeben. Zwischen Schwarzen und Weißen herrschte eine Art oberflächliches Vertrauen. Wir wussten noch immer nicht, was wir voneinander zu erwarten hatten. Ich war bereit, für Mary zu arbeiten, doch an meinen politischen Überzeugungen hielt ich fest. Dass ich in diesem Amt arbeitete, hatte für mich rein pragmatische und finanzielle Gründe. (49)
Zelda blieb nicht lange Marys Assistentin, bis sie schließlich recht bald im Amt Nelson Mandela kennenlernte, der sich sehr schnell zu Zelda hingezogen fühlte und er sie zu seiner persönliche Assistentin machte. Für die junge Angestellte war dies eine große Herausforderung. Zelda war erst Anfang zwanzig.
Nelson Mandela, der wegen der Weißen siebenundzwanzig Jahre im Gefängnis saß, verspürte keinerlei Hass den Weißen gegenüber. Er konnte vergeben.
Welche Fehler ein Mensch auch begeht, wenn man selbst nicht gewillt ist zu vergeben, kann man nicht erwarten, dass einem auch einmal vergeben wird. (238)
Anfangs war dies für Zelda befremdlich, auch, als sie ihn ihr gegenüber respektvoll erlebte. Er sprach mit ihr in ihrer Muttersprache. Zelda war dies sehr peinlich.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil dieser gütig sprechende Mann mit den sanften Augen und der großzügigen Denkweise mit mir in meiner eigenen Sprache redete, nachdem „mein Volk“ ihn so viele Jahre ins Gefängnis gesteckt hatte. In diesem Augenblick bereute ich, in dem Referendum mit „Nein“ abgestimmt zu haben. (Hier ging es um das Abstimmen für oder gegen das Wahlrecht für Schwarze, Anm. der Rezensentin). Wie korrigiert man all die Vorurteile innerhalb von fünf Minuten? Auf einmal wollte ich mich entschuldigen. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, wie es wäre, siebenundzwanzig Jahre im Gefängnis zu sitzen, schließlich war ich noch nicht einmal siebenundzwanzig Jahre alt. Ich war erst dreiundzwanzig, wurde demnächst vierundzwanzig … und ein ganzes Leben im Gefängnis war einfach unvorstellbar. (53)
Mandela war ein so weiser Mann, immerzu demutsvoll Menschen gegenüber, auch Zelda gegenüber, die seine Angestellte war.
Dass Nelson Mandela sich mit einem auf Afrikaans unterhielt, war das Letzte, womit ein Afrikaaner gerechnet hätte. Die Sache wurde klar, als er mir viel später einmal erklärte: >>Wenn man mit einem Menschen redet, spricht man seinen Kopf an, aber wenn man in seiner Sprache mit ihm redet, spricht man zu seinem Herzen.<< (54)
1994 wurde Mandela nach der Amtseinführung Präsident, aber die politische Lage hatte sich noch immer nicht verändert. Vor allem einfache, schwarze Menschen waren weiterhin benachteiligt.

Mandela setzte sich auch für Schulen und Kindergärten ein. Bildung für alle sei ein Menschenrecht, da man nur mit Bildung die Armut bekämpfen könne. In Südafrika war der Schulbesuch für Schwarze verboten. Und außerdem für sie noch unbezahlbar.

Zeldas Aufgabengebiet wuchs immer mehr. Die Beziehung zwischen Mandela und ihr wurde immer vertraulicher. Sie schaffte es, durch Mandelas Vorbild, nicht durch Belehrung, sich von dem Rassenhass zu befreien. Mandela war die Zusammenarbeit mit Zelda sehr wichtig, um der Öffentlichkeit zu zeigen, dass Schwarz und Weiß sehr gut harmonieren können, soweit gegenseitiger Respekt und Achtung mit im Spiel sind.

Zelda begleitete Mandela zu allen Auslandsreisen. Selbst in islamische Länder, wo Frauen nochmals anders behandelt werden. Sie musste sich der Kleiderordnung fügen und verhüllte sich aus Respekt vor der muslimischen Kultur, blieb ihnen gegenüber aber auf Distanz.

Die Reise führte auch nach Israel, und sowohl Zelda als auch Mandela setzten sich mit dem Konflikt zwischen Israel und dem Palästina aus dem Jordanland auseinander und entwickelten dabei eine ziemlich neutrale Haltung und sind in der Lage, die politischen Schwächen beider Staaten zu sehen, die von einem Frieden noch weit entfernt seien.
1.Israel musste Palästina als ein unabhängiges Land anerkennen. 2. Palästina musste Israel innerhalb seiner klar definierten Grenzen anerkennen. 3. Die Parteien mussten einen Vermittler finden, dem beide Seiten vertrauen konnten. (196)
Zudem besuchten sie in Israel das Museum zur Geschichte des Holocausts. Mandela wurde von Journalisten befragt, was er von dem Museum halten würde und welche Stellung er zu dem Genozid den Juden gegenüber habe? Mandela gab eine perfekte Antwort. Mir hat sie gefallen, weshalb ich sie unbedingt festhalten möchte:
Hierbei handelt es sich um eine Tragödie, die dem jüdischen Volk widerfahren ist, doch man sollte niemals aus den Augen verlieren, dass diese Bürde auch vom deutschen Volk mitgetragen wird. Die gegenwärtige Generation an Deutschen leidet, um sich von dem Stigma zu befreien, mit dem sie aufgrund dieser Ereignisse behaftet sind und für die sie heutzutage nicht mehr selbst verantwortlich gemacht werden können. (Ebd)
Dies schien den Israelis nicht zu gefallen. Aus Zeldas Sicht:
Die Israelis schätzten diese Bemerkung nicht. Ich spürte Feindseligkeit, mir wurde unbehaglich zumute. (ebd)
Mandela war häufig unerwünschten Interviews ausgesetzt, musste immerzu penetrante Fragen von Journalisten beantworten.
>>Was sind Ihrer Meinung nach die Eigenschaften eines guten politischen Führers?<< beantwortete er mit: >>Ein Mensch, der seinem Volk dient.<< Und dann ging er ins Detail. >>Verspüren Sie keine Verbitterung oder kein Bedauern, so viel Zeit im Gefängnis verbracht zu haben?<< beantwortete er mit: >>Bedauern ist ein völlig sinnloses Gefühl, denn man kann nichts ändern. Ich habe die Entscheidung getroffen, die ich getroffen habe, weil sie zu dem Zeitpunkt meiner Seele zusagten.<< (215)
Wie lebt es sich denn als Weiße in Südafrika, frei von Rassismus und Vorurteilen? Welche Erfahrung hat Zelda gemacht?
Es ist etwas, das mir unerträglich wurde. Und nicht nur die Verwendung dieses Wortes, sondern auch die Verallgemeinerungen von Urteilen der Leute, was Schwarze betraf. Diese Verallgemeinerungen entbehrten jeder Grundlage und waren nicht zu rechtfertigen. Oft geriet ich mit Weißen in hitzige Debatten zum Thema Respekt. Schwarze wies ich auf Social-Media-Seiten auf das Gleiche hin, wenn Sie ebenfalls abfällige Begriffe zu Weißen benutzten, doch das konnte leicht außer Kontrolle geraten, da ich als Weiße für Aufruhr sorgte, indem ich Schwarze zurechtweisen wollte, was vom ursprünglichen Streitpunkt ablenkte. (229)
Dies alles fand ich sehr spannend. Aber später ließ mein Interesse nach. Ich glaube, das lag daran, dass vieles, was die Autorin über Mandela weiterhin berichtete, nicht wirklich wichtig war. Zu sehr detailliert, was das Alltägliche betrifft. Ich fing an, mich zu langweilen. Deshalb wäre ich bestrebt, eine echte Mandela-Biografie lesen zu wollen.


Mein Fazit?

Insgesamt fühle ich mich von dem Buch sehr bereichert. Mandela ist ein sehr demütiger und weiser Mensch gewesen.

Und die Autorin? Vor ihr habe ich ebenso viel Respekt. Die Wandlung, die sie innerhalb der zwanzig Dienstjahre mit Präsident Mandela vollzogen hat, ist mehr als vorbildlich, weshalb ich dem Buch neun von zehn Punkten vergebe. So viel Weisheit hat sie widergeben können, die ich unbedingt aufschreiben musste. Zelda la Grange habe ich hier als eine sehr sympathische, engagierte Frau erlebt, der es gelungen ist, Menschen, ganz gleich welcher ethnischer und kultureller Herkunft, mit Achtung zu begegnen. Ihr ist bewusst, dass sie diese Wesensveränderung auch Mandela zu verdanken habe, aber, aus meiner Sicht, auch in erster Linie sich selbst, da sie dazu auch bereit war, ihr Leben ohne Rassenhass und Vorurteile fortzusetzen.
Anlässlich des Mugabe-Interviews fühlte ich mich für diese Wahrnehmung, Nelson Mandela habe Weiße gut behandelt, irgendwie verantwortlich. Er hat mich tatsächlich gut behandelt, doch ich möchte glauben, dass er stolz darauf war, wie er dieses unbedeutende Leben veränderte. Des Öfteren sagte er, wenn man nur einen Menschen zum Besseren bekehre, habe man bereits seine Pflicht getan. (9)
Ein Buch, das Menschlichkeit vorlebt, und ich hoffe, mir ist es gelungen, etwas davon in meiner Buchbesprechung festzuhalten, für mich, um sie immer wieder nachlesen zu können und für andere, die in Sachen Menschenrechte nach Vorbilder suchen, oder anderweit interessiert sind. Politische Schlagzeilen kann man tagtäglich aus der Presse entnehmen, die oftmals sehr einseitig sind, da die Welt darin meist auch nur in gut- und böse-Bilder dargestellt wird.

Weitere Informationen zu dem Buch

Ich möchte mich recht herzlich für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar beim btb-Verlag, Randomhouse München, bedanken.

Und hier geht es per Mausklick auf die Verlagsseite.


€ 22,99 [D] inkl. MwSt.
€ 23,70 [A] | CHF 30,90* 

(* empf. VK-Preis) 
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-442-75607-0
Erschienen: 27.04.2015 
____
Ein Heiliger ist ein Sünder, der sich weiter bemüht.
(Nelson Mandela)

Gelesene Bücher 2016: 65
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Sonntag, 27. November 2016

Zelda la Grange / Good Morning, Mr. Mandela

Nelson Mandelas persönliche 
Assistentin erzählt

Klappentext
Zelda la Grange war fast zwanzig Jahre lang die persönliche Assistentin von Nelson Mandela. Eine junge weiße Frau, geprägt von der rassistischen Politik des südafrikanischen Apartheidregime. Die zunächst als Sekretärin für Mandela arbeitete und schließlich zu einer der engsten Vertrauten jenes Mannes wurde, der ihr jahrzehntelang als Feindbild gegolten hatte. Aus der Schreibkraft wurde eine Frau, die mit Nelson Mandela um die Welt reiste, bei Treffen mit Bill Clinton, Johannes Paul II, Yassir Arafat, Morgan Freeman und Gaddafi dabei war und die ihn bis zu seinem Tod begleitete. Und die wie keine andere den wahren Nelson Mandela kennenlernte. Jene außergewöhnliche Persönlichkeit, die niemanden unbeeindruckt ließ und zugleich überraschend humorvoll war. Eine Hommage an Mandelas inspirierendes Vermächtnis und ein Aufruf, dass es nie zu spät ist, ein besserer Mensch zu werden.


Autorenporträt
Zelda la Grange, geboren 1970, wuchs während der Apartheid in Südafrika auf. Seit 1992 war sie zunächst in verschiedenen Bereichen als Sekretärin für die Regierung tätig. 1994 begann sie, als "Senior Ministerial Typist" im Office des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Südafrikas zu arbeiten. 1997 wurde sie zu einer von drei Privatsekretärinnen von Nelson Mandela befördert. 1999 bat Mandela sie, auch nach Ende seiner Amtszeit in seinen Diensten zu bleiben. Seit 2002 arbeitete sie festangestellt für die Nelson Mandela Stiftung. Über 19 Jahre war sie in verschiedenen Funktionen für Nelson Mandela tätig – als Schreibkraft, Privatsekretärin, Office-Managerin, als seine Pressesprecherin und stete Gehilfin. Als er im Dezember 2013 starb, war sie seine persönliche Assistentin. Zelda la Grange lebt in Pretoria.

Meine ersten Leseeindrücke?

Sehr interessant geschrieben. Ich befinde mich noch in den Anfangskapiteln, in denen die Autorin ein paar autobiografische Informationen hat einfließen lassen.


Weitere Informationen zu dem Buch

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Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-442-75607-0
Erschienen: 27.04.2015 


Samstag, 26. November 2016

James Matthew Barry / Peter Pan (1)


Lesen mit Tina

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Gestern Abend habe ich noch die letzten Seiten geschafft. Von dem ganzen Märchen hat mir der Schluss am besten gefallen. Der Rest? Ein wenig sonderbar. Ein wenig düster. Und recht gewaltvoll und blutrünstig in vielen Szenen. Nun habe ich aber nicht mit den Augen eines Kindes gelesen, weshalb es so sehr schwer für mich ist, eine Bewertung zu diesem Buch abzugeben. Manche Beschreibungen finde ich für achtjährige Kinder definitiv zu schwer. Aber zu einem endgültigen Urteil entschließe ich mich erst im Austausch mit meiner Lesepartnerin Tina. Unser Telefongespräch ist für Montagabend vorgesehen.


Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Mit Peter Pans Suche nach seinem Schatten im Kinderzimmer von Wendy, John und Michael Darling beginnt eine der bekanntesten klassischen Erzählungen, die seit nunmehr 100 Jahren die Fantasie von Jung und Alt beflügelt. Wendy und ihre beiden Brüder begleiten Peter ins Nimmerland. Auf der zauberhaften Insel haben sie zusammen mit den »verlorenen Jungen« und der spitzbübischen Fee Glöckchen eine Reihe spannender Abenteuer zu bestehen. Gemeinsam treffen sie auf Meerjungfrauen, tapfere Indianer und natürlich die Piraten der Jolly Roger und ihren berüchtigten Anführer Kapitän Hook, dessen Schicksal in den Händen eines krähenden Jungen und eines tickenden Krokodils liegt. 
Dass Nana, der Hund der Familie Darling, das Kindermädchen der drei Kinder Wendy, John und Michael ist, ist schon sehr originell. Weil die Familie eigentlich arm ist, wurde der Hund als Kindermädchen eingesetzt, um Kosten zu sparen. Der Vater der Kinder, von Beruf Angestellter bei einer Bank, legt sehr viel Wert auf seinen Ruf- und auf die Einhaltung gesellschaftlicher Konventionen. Er lässt nichts nach außen durchdringen, wie arm die Familie eigentlich ist. Und auch nicht, dass Nana das Kindermädchen ist.
Wendy, das älteste Kind, erfährt von Peter Pan über ihre Gedanken. Da die Mutter in die Köpfe ihrer Kinder schauen kann, bekommt sie mit, dass es einen Jungen namens Peter Pan gibt:
Frau Darling hörte zum ersten Mal von Peter, als sie in den Köpfen ihrer Kinder Ordnung machte. Es ist der abendliche Brauch jeder guten Mutter, die Köpfe ihrer schlafenden Kinder zu durchstöbern und die Dinge für den nächsten Morgen zu ordnen. Die vielen Sachen, die während des Tages verlegt wurden, kommen dann wieder an ihren richtigen Platz. (2010,12)
Wobei man später erfährt, dass Frau Darling als Mädchen selbst auch schon Kontakt mit Peter Pan hatte. Doch mit dem Eintreten ins erwachsene Alter verschwindet die Erinnerung, da Erwachsene nicht mehr heiter, unschuldig und herzlos sein können. 

In die Köpfe ihrer Kinder schauen zu können, fand ich gruselig. Hat mir persönlich nicht besonders gut gefallen. Gerade Kinder haben es gerne, Geheimnisse vor ihren Eltern zu haben.

Peter Pan lebt auf der Insel Nimmerland und führt alle Darling - Kinder dorthin, als der Vater ihnen das Kindermädchen Nana entzieht. Der Hund durfte nur noch angeleint in der Hundehütte leben. Zu außergewöhnlich für den Vater, einen Hund als Kindermädchen zu haben. Immerzu die Angst, die Nachbarn könnten dahinterkommen, und hinter seinem Rücken tuscheln.

Als Nana nicht mehr das Kindermädchen sein durfte, wurden die Kinder sehr traurig. Die Traurigkeit zog Peter Pan an, diese Kinder auszusuchen, um sie aus diesem traurigen Zuhause wegzuholen. Nachdem die Kinder im Kinderzimmer Bekanntschaft mit Peter Pan gemacht haben, entwickelten sie mit dessen Hilfe die Fähigkeit zu fliegen. Und so flogen sie auf die Insel Nimmerland.

Auf Wendys Frage, wer die Eltern von Peter Pan seien, so antwortete er, dass er am Tag seiner Geburt weggelaufen sei, und er nicht wissen könne, wer seine Eltern seien.

Peter Pan ist keinesfalls ein Junge wie jeder andere. Er ist ein Kind, das niemals erwachsen werden wollte, um ewig Spaß am Leben zu haben. Und so flüchtete er zu den Feen, bei denen er eine lange Zeit lebte.

Peter Pan genoss noch einen weiteren Vorteil. Er vertrug nur sehr schwer Ungerechtigkeiten, aber er besaß die Fähigkeit, die erlebte Ungerechtigkeit gleich wieder zu vergessen, sodass ihm jede erlebte Ungerechtigkeit vorkam, als wäre es die erste Ungerechtigkeit.

Peter Pan mag keine Erwachsenen, da diese oftmals alles verdarben, woran Kinder Freude hätten.

Wendy, John und Michael begeben sich auf ein Abenteuer. Es finden schwere Kämpfe mit Piraten, den Nixen und den Rothäuten statt.

Der Schluss hat mir am besten gefallen.


Mein Fazit?

So richtig gepackt hat mich das Märchen nicht. Ich habe mich immer wieder dabei ertappt, mit meinen Gedanken überall gewesen zu sein, nur nicht bei Peter Pan und den Kindern ...

Das Buch finde ich für achtjährige Kinder zu schwer zum Selberlesen, aber zum Vorlesen geeignet. Schöne Illustrationen untermalen dieses Märchen. Manche übertriebene Gewaltszenen würde ich auslassen. Peter Pan mordet gerne große Leute. Weiß nicht, wie Kinder diese Lust auffassen und verarbeiten werden. Spaß am Leben haben wollen, das verstehe ich schon, dass aber Morden mit zum Spaßhaben dazugehört, eher nicht, wobei hier das Morden an Menschen gerichtet ist, die als „böse“ dargestellt werden. Aber im wirklichen Leben kann man auch nicht einfach Menschen töten, mit denen man nicht klarkommt.


Nachtrag, 28.11.2016, 19:00 Uhr

Telefonat mit Tina

Tina und ich hatten dieselben Eindrücke. Uns hat beiden das Märchen nicht gefallen und für ein achtjähriges Kind schwer zu lesen. Die Figur Peter Pan haben wir beide als etwas zu grausam erlebt. Auch das Alter, ein Kind, das noch seine Milchzähne hatte, aber keineswegs wie ein Kleinkind wirkt, passte nicht wirklich zusammen.

Den letzten Satz im Buch hatte ich erst ignoriert, da ich erstmal Tinas Meinung hören wollte, aber ihr ist der Satz auch aufgestoßen;
Und so wird es weitergehen, solange Kinder heiter und unschuldig und herzlos sind.
Oder auf Seite 209; Es würden nur die Kinder fliegen lernen können, die heiter, unschuldig und herzlos seien. 

Keineswegs sind Kinder herzlos.

Eine falsche Übersetzung? Tina will sich die Mühe machen, den Schluss nochmals in der Originalsprache zu lesen. 

Für Tina kam ein weiteres Problem hinzu. Sie hatte mehrmals die Disneyverfilmung gesehen und hatte dadurch ein wenig Schwierigkeiten, in das Buch rein zukommen. Ich selbst kenne den Film nicht. Aber ich hatte mit dem Reinkommen auch meine Schwierigkeit.

Ich selbst habe vor, mir die Diogenesausgabe anzuschauen. Es gibt wohl mehrere ÜbersetzerInnen. 


Dienstag, 29.11.

Da meine Neugier mittlerweile so groß ist, habe ich beschlossen, mir die Diogenes-Ausgabe auch noch zuzulegen. Ich habe das Buch im Schuber nun in meiner Buchhandlung bestellt, und kann es morgen abholen. Es sind zwei Übersetzerinnen, die sich an das Märchen herangemacht haben ... Da bin ich mal auf den Vergleich gespannt. Auf dem Cover ist Peter Pan außerdem mit grüner Kleidung abgebildet, so wie ich ihn von meinem Jugenbuch her kenne. Spricht mich eher an. 

Ich gebe dem Buch sieben von zehn Punkten. 

Und hier geht es zu Tinas Buchbesprechung.


Weitere Informationen zu dem Buch

Gebundene Ausgabe: 216 Seiten
Verlag: Knesebeck Verlag (30. September 2010)
24,95 €
ISBN-10: 386873273X
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 8 - 10 Jahre

_______________
Man träume den Traum des Lebens immer noch am besten in einer Bibliothek.
 (Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2016: 64
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86





Montag, 21. November 2016

James Matthew Barry / Peter Pan

Mit Illustrationen 
von Robert Ingpen

Übersetzer
Martin Romitsch

Lesen mit Tina

Es ist wieder so weit. Tina und ich lesen zum Monatsende gemeinsam ein Buch. Diesmal war ich mit dem Aussuchen dran.



Klappentext
Mit Peter Pans Suche nach seinem Schatten im Kinderzimmer von Wendy, John und Michael Darling beginnt eine der bekanntesten klassischen Erzählungen, die seit nunmehr 100 Jahren die Fantasie von Jung und Alt beflügelt. Wendy und ihre beiden Brüder begleiten Peter ins Nimmerland. Auf der zauberhaften Insel haben sie zusammen mit den »verlorenen Jungen« und der spitzbübischen Fee Glöckchen eine Reihe spannender Abenteuer zu bestehen. Gemeinsam treffen sie auf Meerjungfrauen, tapfere Indianer und natürlich die Piraten der Jolly Roger und ihren berüchtigten Anführer Kapitän Hook, dessen Schicksal in den Händen eines krähenden Jungen und eines tickenden Krokodils liegt. 

Autorenporträt
Sir James Matthew „J. M.“ Barrie, Baronet war ein schottischer Schriftsteller und Dramatiker. Er schuf mit Peter Pan eine fantastische Figur, die weltbekannt wurde.
Robert Ingpen hat über 100 Erzähl- und Sachtexte illustriert und geschrieben. 1986 erhielt er die Hans-Christian-Andersen-Medaille für seine Verdienste um das Kinderbuch. 
Peter Pan kenne ich aus meiner Jugend und habe richtig Lust, ihn nochmals zu lesen. Ich kann mich kaum noch an dieses Märchen erinnern. Aber ich erinnere mich noch genau, als das Buch in Miniformat in meinem Osterkorb gelegen hat. Auf meinem Buch damals war Peter Pan mit grüner Kleidung abgebildet. 
Ich hatte damals die Bücher regelrecht verschlungen. Nun freue ich mich auf ein Neues und dass Tina bereit ist, mit zu lesen.


Nach Marcel Proust nun etwas Leichteres. 


Weitere Informationen zu dem Buch

Gebundene Ausgabe: 216 Seiten
Verlag: Knesebeck Verlag (30. September 2010)
24,95 €
ISBN-10: 386873273X
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 8 - 10 Jahre






Sonntag, 20. November 2016

Marcel Proust / Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1)

BD 5 Die Gefangene


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Bevor ich mit meiner eigentlichen Buchbesprechung beginne, hier erstmal ein paar Leseeindrücke:
Ich freue mich sehr darüber, dass ich es nun tatsächlich geschafft habe, den fünften Band nach dem zweiten Anlauf zu Ende zu lesen. Diesmal war ich ziemlich diszipliniert, habe mir jeden Abend nach Dienstschluss meine geplanten fünfzig Seiten vorgenommen und am Wochenende etwas mehr. Dies erfüllt mich schon etwas mit Stolz, dass ich nun alle sechs Bände durchhabe. Ich habe für den vorliegenden Band eine ganze Woche benötigt.

Zur Erinnerung: Beim ersten Mal, das liegt schon etwas länger zurück, musste ich diesen Band abbrechen. Dann habe ich vor lauter Enttäuschung im sechsten Band rumgeblättert, und der sechste Band schien mich mehr anzusprechen. Und bevor ich den Bezug zu Proust verlieren würde, dachte ich damals, zog ich den sechsten Band vor. Darüber habe ich viel geschrieben, sodass ich schnell wieder in die Thematik reinkommen werde, bevor ich letztendlich mir noch den letzten Band vornehme. Doch damit lasse ich mir noch etwas Zeit.

Dieses Buch auszulesen, gestaltete sich für mich schon als ein riesen Prozess. Am Freitagabend stand ich kurz vor dem erneuten Abbruch. Für ein paar Sekunden hatte ich das Buch schon zugeklappt und habe dabei eine gewisse Freiheit verspürt und mir ausgemalt, was ich nun alles mit dieser wiedergewonnenen Freiheit anfangen würde. Das meiste hatte ich schon hinter mir, die letzten 150 Seiten von satten 650 Seiten waren für mich nochmals eine große Herausforderung. Aber dann hat mich ziemlich rasch die Lust wieder gepackt, Proust weiterzulesen; sehr ambivalent mein Verhalten diesem Autor gegenüber. Er überträgt ungewollt etwas von sich auf mich. Einerseits verachte ich ihn, andererseits verspüre ich auch eine gewisse Liebe zu ihm. Da ich mit Proust noch einiges vorhabe, musste ich einfach durchhalten. Mein Leseprojekt ist selbst nach diesen sieben Bänden noch lange nicht fertig.

Ich muss schon sagen, das Durchhalten hat sich gelohnt, habe viele interessante Themen mitverfolgen können. Den fünften Band habe ich als den schwersten von allen sechs Bänden, aber auch als den interessantesten, erlebt.

Und das Schöne? Ich bin jetzt endlich mit Proust ausgesöhnt. So viel Weisheit, wie ich hier habe finden können, haben meine Sympathiepunkte in die Höhe schnellen lassen. Ich fühle mich ja schon zu ihm hingezogen. Wie hätte ich denn sonst diese sechs Bände aushalten können? Ja, man wird für die aufgebrachte Geduld und für die Ausdauer richtig entschädigt.

Was sich für mich als recht schwierig gestaltet hat, waren die vielen Themen, die Proust hier eingebracht hat, und ich mich ein wenig überfordert fühle, alle diese Themen in meine Buchbesprechung zu verfrachten, bis schließlich meine innere Stimme sagte, lies weiter, das wird sich schon geben. Und so war es auch, nun weiß ich, worin ich meinen Fokus setzen werde. Und zwar in die Beziehung zwischen Marcel und seiner Geliebten Albertine. Die Beziehung ist dermaßen facettenreich, dass ich echt Lust habe, darüber zu schreiben ...

Trotzdem möchte ich die anderen Themen nicht unbenannt belassen, sodass andere LeserInnen vorbereitet sind, was Proust hier so alles recht exzessiv beschäftigt hat:
Literatur
Musik
Architektur
Kunst
Die literarischen Gespräche zwischen Marcel und Albertine fand ich äußerst interessant, als es um Dostojewski ging, der in seinen Romanen oftmals kriminalistische Themen behandelt, und Albertine Marcel die naive Frage stellt, ob Dostojewski selber auch kriminell sei?, denn sonst hätte er nicht darüber schreiben können.

Im Weiteren schreibe ich die Leseeindrücke hier auf für alle ProustanfängerInnen. Ich möchte Mut machen … Ich bin allerdings keine Literaturwissenschaftlerin, deshalb kann ich keine Buchbesprechung in dieser Form verfassen und rate literaturwissenschaftlich interessierte LeserInnen auf entsprechende fachgerechtere Seiten, die es sicher zahlreich im Netz zu finden gibt.

Aber ich möchte auch sagen, habt Mut für eigene Interpretationen. Habt Mut für eigene Ideen, für eigene Beobachtungen, denn auch dies ist eine hohe, geistige Leistung, die viele unterschätzen. 


Es gibt viele Methoden, ein Buch anzupacken. Mich interessiert die menschliche Psyche. Ich lese gerne psychoanalytisch. Proust lädt außerdem regelrecht dazu ein. Außerdem ist die Psychoanalyse auch eine Fachrichtung. Sigmund Freud,*1856, gest. 1939, hätte hier seine Freude gehabt, wenn er Proust gelesen hätte.

Ich selbst habe mir im Netz auch Sekundärliteratur bestellt, so viele gibt es leider nicht, auf die ich allerdings noch warte. Aber im Anhang gibt es zahlreiche Hinweise. Wobei ich aber noch anmerken möchte, dass ich viel Wert darauf lege, mir meine eigene Meinung zu bilden.

Als begleitende Lektüre gebrauchte ich ein Proust-Lexikon. Aber es gibt noch eine Proust-Enzyklopädie, beides im Suhrkamp - Verlag erschienen.

Proust hat mich arg an Hans Fallada erinnert. Fallada hat über das Leben der kleinen Leute geschrieben, während Proust über die Angehörigen der Bourgeoisie geschrieben hat. Beide aus der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, wobei Proust, *1871, gest. 1922, etwas älter als Fallada ist, *1893, gest. 1947. Zufall, dass gerade für beide Autoren mein Interesse gilt. Ich habe auf meinem Blog von beiden Autoren Leseprojekte laufen.

Im Folgenden geht es zu meiner Buchbesprechung.

Da das Buch mit „Die Gefangene“ betitelt ist, wird für die LeserInnen recht schnell klar, dass damit Marcels Geliebte Albertine  gemeint ist. Auch lässt sich dies aus den vorangegangen Bänden schon ableiten. Marcel ist der Icherzähler, der alle seine Themen recht subjektiv behandelt. Warum es so schwer ist, dem Erzähler zu folgen, liegt eben daran, dass Marcel so ziemlich alles vermischt.  Innere Erfahrungen sind weit größer als Erfahrungen, die sich auf Tatsachen berufen. Im Umgang mit Albertine wird das sehr deutlich, aber auch in der Beurteilung von zwei Musikern wie Morel und Vinteuil. Aber dies geht auch aus den vorherigen Bänden hervor. Manche mentale Szenen habe ich sogar als recht wahnhaft erlebt. Marcel bezeichnet sich hin und wieder selbst  als wahnhaft. Er steigert sich oft in seine Wahnvorstellungen rein, die Albertine gegenüber so ziemlich negativ besetzt sind. Er lässt sie beschatten, und wirft ihr Homosexualität vor:
Ich hatte Albertine von ihren Komplizinnen trennen und dadurch meine Halluzinationen bannen können; (2004, 25).
 Albertine und Marcel leben in Balbec zusammen, wobei Albertine zu Marcel gezogen ist.

Sein großes Drama ist die Eifersucht. Er kritisiert zwar recht häufig Morels, der Geiger, cholerisches Verhalten, Marcel selbst ist allerdings auch nicht von Wutanfällen frei. Aber er hinterfragt sich manchmal auch selbst, personifiziert allerdings gewisse negative Eigenschaften:
Die Eifersucht ist auch ein Dämon, der nicht beschworen werden kann; immer wieder erscheint er uns in einer neuen Gestalt. Würde es uns gelingen, sie alle auszurotten und die Geliebte ewig für uns zu behalten, so würde der böse Geist eine andere Form annehmen, die noch weit tragischer wäre, die Gestalt der Verzweiflung nämlich, Treue nur mit Gewalt errungen zu haben, Verzweiflung darob, nicht geliebt zu werden. (143)
Häufig stellte ich mir die Frage, ob man Marcel als beziehungstauglich bezeichnen kann. Schon aus den letzten Bänden geht diese Frage hervor, und ich mich immer freue, wenn ich im Text eine hinweisende Antwort finde, indem er sich selbst diese Frage stellt,
(…) ob eine Heirat mit Albertine nicht mein Leben ruinieren würde, einerseits, weil ich damit die für mich zu schwere Aufgabe übernehmen müsste, mich einem anderen Wesen zu widmen, andererseits aber auch dadurch, dass sie mich zwänge, infolge der unaufhörlichen Gegenwart einer anderen Person abwesend von mir selbst zu leben, und mich für immer der Freuden der Einsamkeit beraubte. (33)
Immer wieder gehe ich in meinen Buchbesprechungen auf die Beziehungsproblematik ein, die aus Marcels Kindheit herrührt. Gewisse mütterliche Zärtlichkeiten, Liebkosungen, an denen Marcel bis ins erwachsene Alter hängengeblieben ist. Dazu  folgendes Zitat:
Wie früher in Combray, wenn meine Mutter mich verlassen hatte, ohne mich durch ihren Kuss beruhigt zu haben, wollte ich Albertine nacheilen, ich spürte, dass es keinen Frieden für mich gab, bevor ich sie wiedergesehen hatte, dass dieses Wiedersehen etwas Ungeheures sein würde, was es bislang noch nie gewesen war, und dass, wenn es mir nicht gelänge, mich allein von dieser Traurigkeit zu befreien, ich vielleicht die schmachvolle Gewohnheit annehmen würde, mich bettelnd bei Albertine einzufinden. (156)
Dieses Bettelnde findet man im ersten Band wieder, als Marcel noch ein kleiner Junge war, und er ohne den Gutenachtkuss seiner Mutter nicht einschlafen konnte. Der Vater, der nur ganz selten in den Büchern auftaucht, bezeichnet hierzu Marcels Verhalten als übertrieben verwöhnt.
An solchen Abenden empfand ich bei Albertine nicht mehr jene Befriedigung wie durch den Kuss meiner Mutter in Combray, sondern die Angst jener anderen, an denen mir Mama kaum gute Nacht gesagt hatte oder sogar nicht einmal in mein Schlafzimmer gekommen war, weil sie mir entweder zürnte oder durch Gäste abgehalten wurde. Diese Angst - nicht mehr ihre abgewandelte Form innerhalb der Liebe -, nein, diese Angst selbst, die sich eine Zeitlang auf die Liebe spezialisiert hatte, als sich die Teilung, die Aufteilung der Leidenschaften vollzog und sie nur noch der Liebe zugeordnet war, schien jetzt wieder, von neuem unteilbar geworden, auch über alle anderen gebreitet, als ob alle meine Gefühle , die davor zitterten, Albertine nicht an meinem Bett festhalten zu können – als eine Geliebte, als eine Schwester, als eine Tochter, als eine Mutter auch, nach deren täglichem Gutenachtkuss ich wieder ein kindliches Verlangen zu verspüren anfing-, (154f)
Wie ich mit Hilfe dieses Zitat belegen kann, dass Marcels kindliche Erfahrung, das Versagen mütterlicher Liebkosungen, sich wie ein seelisches Trauma anfühlt, und das sich in der Beziehung mit Albertine fortsetzt.

Und so bestätigt es meinen Eindruck, dass Marcel die notwendige Reife fehlt, sich auf Dauer auf einen anderen Menschen einzulassen. Diese Ambivalenz spiegelt sich im ganzen Roman wieder.

Er stellt Albertine oft zur Rede, ob sie mit bestimmten Frauen wie Andrée verkehre? Er bezeichnet sie als Lügnerin, als sie seine Frage negierte.
Ihre Lügen, ihre Geständnisse beließen mir die Aufgabe, die Wahrheit aufzuhellen: ihre Lügen, die so zahlreich waren, weil sie sich nicht damit begnügte, zu lügen wie jedes Wesen, das sich geliebt glaubt, sondern weil sie, abgesehen davon, eine Lügnerin von Natur war (und so sprunghaft im übrigen, dass sie, selbst wenn sie mir jedes Mal die Wahrheit über das gesagt hätte, was sie zum Beispiel von den Leuten dachte, jedes mal etwas anderes geäußert haben würde); (134f) 
Woher bezieht Marcel seine Theorie zu Albertine, die er oftmals verallgemeinernd auf andere Frauen überträgt? Ganz banal; er achtet auf die Mimik, auf die Wortwahl … Manchmal errötet Albertine auf Marcels peinliche Fragen und das Erröten interpretiert Marcel als ein Zeichen, dass Albertine lügt.

Hier seine Lügentheorien, die er auch auf andere Frauen überträgt:
Ist es überhaupt nötig, dass man eine Tatsache weiß? Kennt man nicht von vornherein schon auf eine ganz allgemeine Art die Lügen und die Verschwiegenheit der Frauen, die etwas zu verbergen haben? Kann ein Irrtum noch möglich sein? Sie machen aus ihrer Diskretion eine Tugend, wo man sie doch so gern zum Sprechen bringen würde. Wir spüren, dass sie  ihrem Komplizen gesagt haben: Ich bin verschwiegen. Von mir wird man nichts erfahren. Ich bin verschwiegen. (133)
Genau diese Szene bezeichne ich als eine Halluzination. Er malt sich etwas aus, das er als Wahrheit bezeichnet. Es bestehen keine handfesten Beweise, dass seine Geliebte sich mehr zu Frauen hingezogen fühlt. Weil sie ihm dieses Geständnis nicht abringen kann, bezeichnet er sie als >>die arme Gefangene, die Frauen liebt<<, dabei ist es Marcel selbst, der der Gefangene ist, und sich in seinem Gedankenkonstrukt immer weiter verstrickt, und Probleme hat, emotional da wieder herauszukommen. Marcel projiziert auf Albertine seine innere Beziehungsproblematik, seine für mich innere Unausgeglichenheit, die ich schon arg als symptomatisch bezeichne.

Eine weitere Lügentheorie, die sich auf Frauen bezieht:

Was ist schon die Lüge: Wir leben mitten in ihr und lächeln nur darüber, wir bedienen uns ihrer und glauben, niemandem weh zu tun, doch die Eifersucht leidet unter ihr und sieht mehr, als sie verbirgt, (oft weigert sich unsere Freundin, den Abend mit uns zu verbringen, und geht ins Theater, nur damit wir nicht sehen, dass sie schlecht aussieht), genauso wie sie oft blind ist, was die Wahrheit verbirgt. Doch sie kann nichts erreichen, denn die Frauen, die schwören, nicht zu lügen, würden sich auch unter dem Messer weigern, ihre Natur einzugestehen. (137f)
Immer wieder kommen ihm Verlustängste auf, Albertine könne ihn wegen einer  Frau verlassen, oder auch, weil ihr die Beziehung mit Marcel zu langweilig sei. Doch auch hier projiziert er seine Ängste auf Albertine, wie sich später herausstellte. Es war seine Angst, die Beziehung könnte ihn langweilen. Tief in seinem Inneren wünschte er sich einen Beziehungsbruch.
Die Anwesenheit Albertine bedrückte mich, ich schaute sie an, wie ergeben und verdrossen sie war, und empfand es als Unglück, dass es zwischen uns nicht zum Bruch gekommen war. (579)
Ich möchte ja nicht allzu viel verraten, aber eine wichtige Szene möchte ich unbedingt noch festhalten.

Proust hält diese vielen „Lügen“ nicht aus. Er will sich von Albertine trennen. Beide befinden sich gerade in Marcels Zimmer, als er Albertine die Trennung ausspricht, allerdings erst zum morgigen Tag. So eine Trennung, die schizoide Formen annimmt, habe ich auch noch nicht erlebt. Albertine wundert sich:
>>Wieso morgen? Ist das wirklich Ihr Wille?<< Trotz des Kummers, den ich empfand, wenn ich von unserer Trennung sprach, als sei sie bereits vollzogen – vielleicht zum Teil auch wegen dieses Kummers-, begann ich, Albertine ganz präzise Ratschläge wegen gewisser Dinge zu erteilen, die sie nach ihrem Fortgang aus dem Haus tun sollte. (489) 
Ich habe mich gefragt, wie so eine innere Zerrissenheit, diese innere Spaltung auszuhalten ist.
>>Wir sind glücklich gewesen, und jetzt fühlen wir, dass wir unglücklich werden würden.<<
>>Sagen Sie nicht, wir fühlen, dass wir unglücklich werden<<,  fiel mir Albertine ins Wort,  >>sagen Sie nicht >wir<, denn nur Sie allein finden das.<< (ebd)
Langsam wirft Albertine Marcel böse Verleumdungen vor, wo sie sonst recht geduldig mit Marcels Vorwürfen umgegangen ist.
>>Darf man vielleicht wissen, wer Ihnen solche schönen Dinge erzählt? Könnte ich vielleicht einmal selbst mit diesen Leuten reden? Und vielleicht auch erfahren, worauf sie sich stützen bei ihren Verleumdungen<< –
Daraufhin Marcels Reaktion: 
>>Meine liebe Albertine, ich weiß es nicht, es handelt sich um anonyme Briefe, aber von Leuten, die Sie vielleicht ziemlich leicht auffinden würden (…), denn offenbar kennen sie Sie gut. Der letzte, muss ich gestehen, (ich zitiere gerade ihn, weil es sich da nur um eine Kleinigkeit handelt und weiter nichts  Arges darinsteht) hat mir gleichwohl den Rest gegeben. Es hieß dort, Sie hätten damals, als wir Balbec verließen, zuerst bleiben und hinterher doch abreisen wollen, weil sie inzwischen einen Brief von Andrée bekommen hätten des Inhalts, sie komme nicht.<< (569)
Es zeigt sich, dass  Marcel derjenige ist, der lügt. Dies wird ihm selbst auch mal bewusst,
>>indem ich log, verlieh ich meinen Worten vielleicht mehr Wahrheit, als ich dachte<<. (508)
Wobei Marcel seine Lügen eher philosophisch aufwertet.

Ich mache nun hier Schluss, da man ja nicht allzu viel verraten darf. Aber im Buch gibt es noch jede Menge interessante Textstellen zu finden. So viele Zettelchen kleben mir noch zwischen den Seiten, die ich leider nicht alle bearbeiten kann.

Der Schluss hat mir sehr gut gefallen, denn hier erhält Marcel von Albertine genau das, was er eigentlich verdient hat. Aber auch, was er sich insgeheim erhofft hat.


Mein Fazit?

Dieser frauenverachtende und besitzergreifende Umgang  hat mich angewidert, der sich in allen Bänden wie ein roter Faden durch die Seiten zieht. Doch mittlerweile sehe ich es etwas gelassener, ebenso  Marcels Überheblichkeit betrachte ich zusammen als nichts Anderes mehr als menschliche Schwächen, von denen wir alle nicht frei sind.

Trotzdem habe ich mich immer wieder gefragt, wie eine um Emanzipation bemühte Frau wie Virginia Woolf Proust so sehr lieben konnte? Diese Frauen- und Beziehungsproblematik sind keine Nebensächlichkeiten. Sie ziehen sich durch das ganze Buch hindurch. Man kann sogar sagen, dass der fünfte Band ein reiner Liebesroman gehobener Art ist, da die Liebesthematik hier den meisten Raum einnimmt, weshalb ich unbedingt darüberschreiben wollte.
Man gibt sein Vermögen, sein Leben für ein Wesen hin, und dennoch weiß man genau, dass man zehn Jahre früher oder später ihm dieses Vermögen verweigern und sein Leben lieber für sich behalten würde. Dann nämlich wäre das Wesen von uns gelöst, allein, das heißt gegenstandslos. (133)
Vielleicht hat Virginia Woolf ähnlich gedacht, auch ein Marcel Proust ist nur ein Mensch, der jede Menge Ideen und gute Gedanken hat. Manchmal leider zu wenig selbstkritisch, vielleicht war er dafür noch zu jung. Das wird sich im siebten Band hoffentlich zeigen. Und hoffentlich hat er seinen inneren Frieden noch finden können. Sein Ausgang, die innere Zerrissenheit, nicht nur den Frauen und allen Homosexuellen gegenüber, auch sich selbst gegenüber, erhoffe ich im siebten und letzten Band mit allen seinen Themen eine Befriedung. 

Wobei sich heute noch viele Menschen schwertun, Menschen, die anders geartet sind, zu akzeptieren und zu tolerieren. Und dies nicht nur auf sexueller Ebene.


2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Neun von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Taschenbuch: 695 Seiten, 18,00 €
Verlag: Suhrkamp Verlag; Auflage: 1 (29. November 2004)
ISBN-10: 3518456458
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Man träume den Traum des Lebens immer noch am besten in einer Bibliothek.
 (Marcel Proust)


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