Es ist ein dünnes Büchelchen gewesen von gerade mal 130
Seiten und davon jede Menge schöne, bunte Illustrationen von dem 1932
geborenen, bekannten französischen Zeichner und Karikaturist Sempé, der mit
Süskind eine tiefe Freundschaft pflegt.
Es geht hier um eine recht skurrile männliche Figur namens Sommer.
Herr Sommer leidet unter Klaustrophobie und das aus dem Grund, weil er im
Ruhezustand permanent Zuckungen zu ertragen hat. Ein Mensch, von dem man den
Eindruck gewinnt, er renne vor sich selber davon, indem er den ganzen
Tag bei Wind und Wetter durch die Gegend hastet.
Da die Erzählung recht kurz ist, fokussiere ich den Inhalt
auf eine für mich sehr schöne, komische Szene, die natürlich ein wenig spaßig
ist, aber auch ein wenig ernst, wenn man sich in die Situation eines kleinen
Jungens und dessen Probleme mit der Welt hineinversetzt.
Die Geschichte wird aus der Ichperspektive dieses Jungen
erzählt, dessen Name den LeserInnen unbekannt bleibt. Da der Junge sehr
naturverbunden ist, verbringt er viel Zeit im Wald. Er liebt Bäume, klettert
viel und hat sich schon verschiedene Baumhäuser gebaut. Dadurch macht er auf
eine höchst distanzierte Art und Weise die Bekanntschaft mit Herrn Sommer, ohne
dass dieser sie bemerkt. Weil er mit seinem großen Stock und seinen mit
Butterbroten und Regenjacke gefüllten Rucksack durch die Gegend flitzt,
hauptsächlich auch durch die Wälder, erfährt der kleine Junge eine
ganze Menge über den sonderbaren Herrn Sommer …
Der Junge verbringt viel Zeit mit sich allein. Er wirkt sehr
zurückhaltend und schüchtern. In der Schule zählt er allerdings zu den
Klassenbesten. Er hat sich in seine Klassenkameradin Carolina Kückelmann
verguckt, als er eines Tages seine gesamte Schüchternheit über Bord wirft und
er sie fragt, ob sie nicht Lust habe, ihn am Montag nach der Schule nach Hause
zu begleiten. Er beabsichtigte, ihr sein Baumhaus zu zeigen und ihr seine
Kletterkünste vorzuführen. Zu seiner Überraschung sagte Carolina zu. Doch am
darauffolgenden Tag sagte sie der Einladung wieder ab …
Der Junge wird für den Klavierunterricht bei einer recht
alten Lehrerin angemeldet. Um dort hinzukommen benötigt er ein Fahrrad. Der Junge lernt
dadurch recht spät Fahrrad fahren. Als er es schließlich beherrscht, aber kein
eigenes Fahrrad bekommt, wird ihm das Fahrrad seiner Mutter gestellt, das
eigentlich für ihn viel zu groß ist. Er kann sich nicht auf das Fahrrad setzen,
nein, er kann es nur stehend bedienen. Dadurch fühlt er sich unsicher und kann
das Rad nicht so steuern, wie er es gerne möchte. Er muss oft vom Rad
absteigen, vor allem, wenn Passanten vor ihm herlaufen, da er dadurch die
Sicherheit verliert. Er kommt zu spät zum Musikunterricht und die Lehrerin
wirft ihm alle möglichen Laster vor. Für den wahren Grund seines Zuspätkommens zeigte
sie keinerlei Interesse ... Er wurde von einem Hund aufgehalten, der permanent
nach ihm bellte …
Während des Klavierunterrichts kommt es zwischen dem Jungen
und der Musikpädagogin zu einem heftigen Eklat. Die Lehrerin, die, nach der
Erzählung des Jungen, steinalt zu sein scheint, und die wenig Geduld mit
Kindern hat, obwohl sie über jede Menge Erfahrungen verfügt, wird mit dem
Jungen einfach nicht fertig. Eigentlich ist diese Musikpädagogin eine richtige
Furie, die wenig Verständnis für die Fehler ihres jungen Schülers aufzubringen
weiß. Sie schreit und schimpft und tobt, verliert völlig die Kontrolle mit dem
Kind. Der Junge macht immer wieder dieselben Fehler und die Lehrerin verliert nun
völlig die Nerven, fühlt sich von dem Schüler
auf den Arm genommen. Plötzlich fängt sie an heftig zu niesen und lässt ihren
Nasenschleim auf die Klaviatur fliegen, auf die Fis-Taste, sodass der Junge
psychisch in eine richtige Krise gerät, und er nach der Musikstunde
Suizidgedanken hegt, und macht viele Menschen dafür verantwortlich:
Ich zitterte am ganzen Körper. Meine Knie schlotterten so sehr, dass ich kaum gehen, geschweige denn Fahrrad fahren konnte. Mit bebenden Händen klemmte ich die Noten auf dem Gepäckträger fest und schob das Rad neben mir her. Und während ich schob, kochten die finsteren Gedanken in meiner Seele. Was mich in Aufruhr versetzte, was mich in diese bis zum Schüttelfrost gehende Erregung getrieben hatte, war nicht das Donnerwetter von Fräulein Funkel gewesen; nicht die Androhung von Prügel und Hausarrest; nicht Angst vor irgendetwas. Es war vielmehr die empörende Erkenntnis, dass die ganze Welt nichts anderes war als eine einzige, ungerechte, bösartige, niederträchtige Gemeinheit. Und schuld an dieser hohen Gemeinheit waren die anderen. Und zwar alle. Insgesamt und ohne Ausnahme alle anderen. Angefangen von meiner Mutter, die mir kein anständiges Fahrrad kaufte; meinem Vater, der ihr immer beipflichtete; meinem Bruder und meiner Schwester, die hämisch darüber lachten, dass ich im Stehen Rad fahren musste. Und dem widerlichen Köter von Frau Dr. Hartlaub, der mich immer belästigte; den Spaziergängern, die die Seestraße verstopften, sodass ich notwendigerweise zu spät in die Musikstunde kommen musste; dem Komponisten Häßler, der mich mit seinen Fugen anödete und quälte; dem Fräulein Funkel mit ihren verlogenen Beschuldigungen und ihrem ekelhaften Nasenpopel auf dem Fis… bis zum lieben Gott, ja auch dem sogenannten lieben Gott, der, wenn man ihn einmal braucht und flehentlich um Beistand bat, nichts Besseres zu tun hatte, als sich in ein feiges Schweigen zu hüllen und dem ungerechten Schicksal seinen Lauf zu lassen. Wozu brauche ich diese ganze Bagage, die sich gegen mich verschworen hatte? Was ging mich diese Welt noch an? In einer solchen Welt der Niedertracht, da hatte ich nichts verloren. Sollten doch die anderen an ihrer eigenen Gemeinheit ersticken! Sollten sie ihre Rotze doch hinschmieren, wo sie wollten! Ohne mich! Ich spiele da nicht länger mit. Ich würde dieser Welt Ade sagen. Ich würde mich umbringen. Und zwar sofort. (…)
Der Junge sucht sich einen Baum aus, klettert hinauf und…
… langsam ließ ich mich in die Knie, setzte mich auf den Ast, lehnte mich an den Stamm und verschnaufte. Bis zu diesem Moment war ich gar nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken, was ich eigentlich zu tun im Begriffe war, so sehr hatte mich die Ausführung der Tat selbst in Anspruch genommen. Nun aber, vor dem entscheidenden Augenblick, kamen die Gedanken wieder, sie drängten sich heran, und ich lenkte sie, nachdem ich nochmals die ganze böse Welt und alle ihre Bewohner in Bausch und Bogen verdammt und verflucht hatte, auf die sehr viel anheimelndere Vorstellung meiner eigenen Beerdigung. Oh, es würde eine prächtige Beerdigung werden! Die Kirchenglocken würden klingen, die Orgel würde brausen, der Friedhof (…) könne die Menge der Trauernden kaum fassen. Ich läge auf Blumen gebettet im gläsernen Sarg, ein schwarzes Rößlein würde mich ziehen, und um mich wäre nichts als ein großes Schluchzen zu hören. Es schluchzten meine Eltern und meine Geschwister, es schluchzten die Kinder aus meiner Klasse, es schluchzten Frau Dr. Hartlaub und Fräulein Funkel, von weit her waren Verwandte und Freunde zum Schluchzen gekommen, und alle schlugen sich, während sie schluchzten, vor die Brust und brachen in Wehklagen aus und riefen: >>Ach! Wir sind schuld, dass dieser liebe, einzigartige Mensch nicht mehr bei uns ist! Ach! Hätten wir ihn doch besser behandelt, wären wir doch nicht so böse und ungerecht zu ihm gewesen, dann würde er jetzt noch leben, dieser gute, dieser liebe, dieser einzigartige und freundliche Mensch!<< Und am Rande meines Kraters stand (meine große Liebe) Carolina Kückelmann und warf mir einen Strauß Blumen und den allerletzten Blick nach und rief unter Tränen mit schmerzgequälter heiserer Stimme: >>Ach, du Lieber! Du Einzigartiger! Wäre ich doch damals am Montag mit dir gegangen!<<
Herrlich, diese Fantasien! Ich schwelgte in ihnen, ich spielte die Beerdigungen in immer neuen Varianten durch, von der Aufbahrung bis zum Leichenschmaus, bei dem rühmende Nachreden auf mich gehalten wurden, und schließlich war ich selbst so gerührt davon, dass ich, wenn ich nicht schluchzte, so doch feuchte Augen bekam. Es war die schönste Beerdigung, die man je in unserer Gemeinde gesehen hatte, und noch Jahrzehnte später würde man in wehmütiger Erinnerung davon erzählen … Jammerschade nur, dass ich selbst nicht wirklich würde daran teilnehmen können, denn ich wäre ja dann tot. Daran war bedauerlicherweise nicht zu zweifeln. Ich musste tot sein bei meiner eigenen Beerdigung. Beides war nicht auf einmal zu haben: die Rache an der Welt und das Weiterleben in der Welt. Also die Rache!
Nun ist Herr Sommer während dieser Szenen
keineswegs aus meinen Augen geraten. Er wird hier, ohne dass er es selber weiß, noch eine recht
bedeutungsvolle Rolle spielen, die ich aber nicht verraten möchte.
Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.
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Auch nach der
schwärzesten Nacht geht immer wieder die Sonne auf.
(Agatha
Christie)
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