Sonntag, 23. Dezember 2012

Jerome David Salinger / Der Fänger im Roggen (2)

Zweite Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Holden Caulfield ist der Held dieser Geschichte. Er ist siebzehn Jahre alt, hat im seitlichen Nacken seit Kindesbeinen eine graue Haarsträhne, die ihm oft nützlich ist, wenn er als Minderjähiger Alkohol kaufen möchte... Das ist sein Erkennungsmal, dass er schon zu den älteren Leuten gehört.

Holden zeigt immense Probleme mit seinem sozialen Umfeld, generell mit der Gesellschaft. Er hat einen älteren Bruder mit den Initialien D.B., der ein erfolgreicher Schriftsteller ist und nicht mehr zu Hause wohnt. Desweiteren hat er zwei jüngere Geschwister, einen kleineren Bruder, der verstorben ist und hat noch eine jüngere Schwester Phoebe, gerade mal zehn Jahre alt und Musterschülerin ist. Auch der verstorbene Bruder war ein Musterschüler, nur Haldon ist das Sorgenkind der Familie. Der Vater ist Rechtsanwalt von Beruf.

Holden fliegt von der vierten Schule, da er durch fast alle Prüfungen gerasselt ist, zumindest war das auf der letzten Schule so. Nicht, weil er dumm ist, im Gegenteil, er ist sehr belesen, liebt die Literatur über alles, hauptsächlich auch die von seinem Bruders D. B. geschriebene. Bruder D. B. ist außerdem sein Lieblingsautor.

Am liebsten mag ich Bücher, die wenigstens ab und zu mal komisch sind. Ich lese eine Menge Klassiker wie "Die Rückkehr von Thomas Hardy" und so, die gefallen mir, und ich lese eine Menge Kriegsbücher und Kriminalromane, aber die hauen mich nicht besonders vom Hocker. Was mich richtig umhaut, sind Bücher, bei denen man sich wünscht, wenn man es ganz ausgelesen hat, der Autor, der es geschrieben hat, wäre irrsinnig mit einem befreundet und man könnte ihn jederzeit, wenn man Lust hat, anrufen.

Holden verarscht die Leute seines Umfelds, denkt sich Lügengeschichten aus, die mich amüsierten, solange ich ja nicht die jenige bin, die er beschummelt.
Holden sollte noch bis Mittwoch im Internat bleiben, da es erst dann Weihnachtsferien gab, aber er hält es dort nicht länger aus, und verläßt die Bildungseinrichtung drei Tage früher, ohne sich von den Kameraden oder den Lehrern verabschiedet zu haben.

Er setzt sich in den Zug, der nach New-York City fährt und dort macht er Bekanntschaft mit Mrs. Morrow, die Mutter seines Klassenkameraden, den er eigentlich verachtet. Aber Holden tut so, als habe er Achtung vor ihm und erzählte der Mutter allerhand tolle Dinge über ihren Sohn:

Die gute Mrs. Morrow sagte gar nichts, aber Mann, die hättet ihr sehen sollen. Die saß fest gewachsen auf ihrem Platz. Jede Mutter will doch bloß nur eins hören, nämlich, was für ein Spitzentyp ihr Sohn ist.

Als die Mutter schließlich ihn fragte, wie er hieß, gab Holdon hier einen falschen Namen an, und zwar den Namen eines ehemaligen Sportlehrers. Mrs. Morrow erkundigte sich, weshalb er so früh schon nach Hause fahre, ob jemand aus der Familie erkrankt sei? Holden verneinte die Frage, in der Familie seien sie alle gesund, aber er sei krank, er habe einen kleinen Tumor im Kopf, der so schnell wie möglich herausoperiert werden müsse. Mrs. Morrow erschrak, als sie schließlich ihre Hand an den Mund legte. Bei dieser Szene musste ich furchtbar lachen, aber auch nur, weil ich wusste, dass Holden log. Denn sonst hätte ich genauso reagiert wie Mrs. Morrow.

Mir stellte sich die Frage, was machen die Leute innerlich mit dem, was man ihnen mitteilt? Holden hat es mir gezeigt... .

Es folgt nun eine weitere Szene, die mir gut gefallen hat. Holden befindet sich mit einem Mädchen im Kino. Der Film schien recht traurig zu sein, zumindest machte er die Augen vieler Zuschauer nass. Das nervt Holden gewaltig:

Was mich aber dann erledigte, neben mir saß eine Dame, die den ganzen verfluchten Film durchheulte. Je verlogener er wurde, desto mehr heulte sie. Ihr hättet wahrscheinlich geglaubt, sie heult, weil sie ungeheuer gutherzig ist, aber ich saß direkt neben ihr, und das war sie nicht. Sie hatte einen kleinen Jungen dabei, der sich ungeheuer langweilte und auf die Toilette musste, aber sie ging nicht mit ihm raus. Ständig sagte sie zu ihm, er soll still sitzen und sich benehmen. Sie war ungefähr so gutherzig wie ein verfluchter Wolf. Da heulen sich wegen so einem verlogenen Kram in einem Film die verfluchten Augen aus, und in neun von zehn Fällen sind sie im Grunde gemeine Ärsche. Ganz im Ernst.

Der Buchtitel Der Fänger im Roggen, damit hat sich Holden identifiziert, indem er sich vorstellt, wie er kleine Kinder vor dem Abgrund auffängt. Aber er konnte ja nicht einmal sich selber auffangen…

Ich fand die Beziehung, die Holden mit seiner kleinen Schwester pflegte, recht schön und auch außergewöhnlich. Es besteht eine große Geschwisterliebe, oder vielmehr eine Liebe, die einer freundschaftlichen Liebe gleicht. Die Schwester, so jung wie sie ist, geigt ihm so richtig die Meinung, als sie ihn recht schnell zu durchschauen wusste, dass er erneut von der Schule geflogen sei. Die Geschichte, die er ihr auftischt, schien ihr nicht glaubwürdig genug und machte sich große Sorgen, dass der Vater ihn umbringen werde, jetzt, nach dem vierten Rausschmiss. Sie beschimpft ihn ein wenig, dass er an allem etwas auszusetzen habe und es nichts gäbe, was ihm gefallen würde... .

 Holden gehen unreife Fantasien durch den Kopf, was seine Zukunft betraf. Er wollte raus aus dem Elternhaus, verschwinden, und in einer ganz neuen Stadt neu anfangen, weit in den Westen, womöglich an einer Tankstelle einen Job bekommen, und sich am Waldrand ein Häuschen bauen:

Ich dachte, ich könnte irgendwo einen Job an einer Tankstelle kriegen und Benzin und Öl in Autos schütten. Mir war's egal, was für ein Job das sein würde. Bloß dass die Leute mich nicht kannten und ich keinen kannte. Ich dachte, dann könnte ich so tun, als wäre ich einer von diesen Taubstummen. Auf diese Weise brauchte ich mit keinem irgendwelche verfluchten dummen sinnlosen Gespräch zu führen. Wenn niemand mir was sagen wollte, müsste er es auf einen Zettel schreiben und mir hin schieben. Nach einer Weile fänden Sie das sicher ungeheuer langweilig, und dann wäre ich mit der Unterhaltung für den Rest meines Lebens durch. Alle würden glauben, ich wäre einfach ein armer taubstummer Arsch, und mich in Ruhe lassen. Sie würden mich Benzin und Öl in ihren dummen Autos schütten lassen und mir dafür einen Lohn bezahlen, und mit der Kohle, die ich dann machte, würde ich mir irgendwo eine kleine Hütte bauen und für den Rest meines Lebens dort wohnen. (...) ich würde immer selber kochen, und später würde ich dann gern heiraten oder so, was weiß ich, ich würde ein schönes Mädchen kennenlernen, das auch taubstumm wäre, und wir würden heiraten, sie würde zu mir in meine Hütte ziehen, und wenn sie was zu mir sagen wollte, müsste sie es auf einen verfluchten Zettel schreiben wie jeder andere auch. Wenn wir dann Kinder hätten, würden wir sie irgendwo verstecken. Wir könnten ein Haufen Bücher kaufen und ihnen Lesen und Schreiben selber beibringen.

Einerseits sehnt er sich nach Familie und nach geregeltem Leben, aber nur nicht so sein wie andere, und andererseits ist ihm alles schnell bieder.

Der Schluss hat mir besonders gut gefallen, indem Holden zu seinen Lesern spricht und sagt, dass er jetzt nicht verraten möchte, wie seine Geschichte weitergehen werde, und dennoch erfährt man doch eine ganze Menge über seine Zukunftspläne, die zusammen mit den Eltern wohl geschmiedet wurden, er sich in Therapie begeben hat, aber man erfährt es eher in einer indirekten Form:
Ich möchte euch nicht mehr erzählen. Ich könnte euch noch erzählen, was ich machte als ich nach Hause kam, und wie ich krank wurde :), und welche Schule ich im Herbst besuchen werde . Und viele fragen mich, vor allem der Psychoanalytiker, den sie hier haben, ob ich mich in der Schule anstrengen werde, die ich im Herbst besuchen werde... 
Für mich las es sich wie ein ausgesöhntes Ende... .

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„Musik ist eine Weltsprache“
         (Isabel Allende)

Gelesene Bücher 2012: 92
Gelesene Bücher 2011: 86


Jerome David Salinger / Der Fänger im Roggen (1)

Erste Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Mir hatte das Buch anfangs ganz gut gefallen, da es an vielen Stellen doch auch recht witzig geschrieben war und es mich arg zum Lachen gebracht hat.
Ab der Mitte des Buches allerdings entwickelte es sich ganz anders. Ich konnte das Buch eigentlich nicht mehr riechen, da alles so furchtbar negativ hinterfragt und kommentiert wurde, was das Verhalten der Mitmenschen der jungen Hauptfigur namens Holden Caulfield, siebzehn Jahre alt, betrifft, da vieles eigentlich doch von seinem Denkmuster her sich wiederholt... . Absolut pubertär, ein wenig arg übertrieben. . Aber vielleicht wirkt das nur so auf mich, da uns Holden an seinen Gedanken und seinen Gefühlen teilnehmen lässt, während der Außenstehende davon nichts mitbekommt und nur die Fassade sieht... .

Erst die letzten Kapitel fand ich wieder interessant und schön, da sich etwas in der Beziehungsdynamik geändert hat, die Beziehung zur kleinen zehnjährigen Schwester, die ihm ordentlich die Meinung geblasen hat, als er von der vierten Schule hinausgeworfen wurde... . Ein junger Mensch, der mich so richtig an Edgar Wibeau zurückerinnern lässt, geschrieben von Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W. , der irgendwie alles und jeden hinterfragt und nichts wirklich gut heißt . Edgar Wibeau hatte sich zwar hauptsächlich auf die unglückliche Liebe bezogen, aber gleichzeitig doch auch die spießige Gesellschaft der 1970er Jahre hinterfragt und abgelehnt hat. Plenzdorfs Geschichte allerdings endet tragisch, während beim Sänger sie positiv endet.

Die Jugendsprache fand ich bei Sänger aus meiner Sicht ein wenig gekünstelt dargestellt... . Da ich nun allgemein meine Eindrücke geschildert habe, schreibe ich die Buchbesprechung im nächsten Posting, s. oben.



Freitag, 21. Dezember 2012

Jerome David Salinger / Der Fänger im Roggen



Verlag: Rowohlt Tb.

2007, 8,99 €

7. Aufl.

Seitenzahl: 272

ISBN-13: 9783499235399
                      




Klappentext

Der sechzehnjährige durch New York irrende Holden Caulfield ist zu einer Kultfigur ganzer Generationen geworden. "Der Fänger im Roggen" war J. D. Salingers erster Roman, mit dem er weltweit berühmt wurde. Allein im Rowohlt Taschenbuch wurden anderthalb Millionen Exemplare verkauft. 


Autorenportrait 

Es gibt auch zu diesem Autor keinen Klappentext und deshalb zitiere ich Wikipdia:

Jerome David Salinger (* 1. Januar 1919 in New York; † 27. Januar 2010 in CornishNew Hampshire,[1] meist abgekürzt als J. D. Salinger,  war ein US-amerikanischer SchriftstellerSalinger wurde als Sohn des polnisch-jüdischen Vaters Solomon Salinger und einer Mutter schottisch-irischer Abstammung geboren. Die Familie des Vaters kam aus Litauen, der Großvater, der Rabbiner Simon F. Salinger, wurde 1860 in Tauroggen geboren. Die Mutter Marie Jillich war vor der Heirat als Miriam Jillich zum Judentum übergetreten.
 Der Autor Jerome David Salinger ist mir unbekannt. Auf das Buch bin gestoßen durch einen Bekannten meiner Dienststelle, der mein Gruppenangebot Literatur nutzt. Nun haben wir es uns beiden zur Aufgabe gemacht, das Buch über die Feiertage zu lesen.







Mohammed Hanif / Alices Bhattis Himmelfahrt (2)

Zweite Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Die Protagonistin des Buches nennt sich Alice Bhattis, Katholikin seit der Geburt, wurde als Jugendliche in eine Besserungsanstalt gesteckt wegen versuchten Totschlags. Dabei reagierte sie aus der Notwehr heraus, als man sie körperlich bedrohte. Aus der Anstalt entlassen, bewirbt sie sich als Krankenschwester im Krankenhaus Herz Jesu (hat eine symbolische Bedeutung). Die Ausbildung erfolgte in der Besserungsanstalt.

Das Krankenhaus tat sich schwer, Alice einzustellen aufgrund ihrer Herkunft..., doch sie hatte es geschafft, hat das Vorstellungsgespräch mit viel Mühe überwunden. Viele Fangfragen musste sie zudem beantworten. Die Klinik klagt unter einer chronischen personellen Unterbesetzung, so dass sie keine große Wahl hat, sich gegen die Bewerberin zu entscheiden. Das Krankenhaus beinhaltete alle möglichen Stationen, so wie auch die psychiatrische Station, "Zentrum für psychische und geistige Erkrankungen". Doch besonders auf der psychiatrischen Station gab es noch weniger Ärzte und Pflegepersonal, und so befinden sich diese kranken Menschen viel mehr in Verwahrung und erhalten alle die selbe medikamentöse Behandlung. Für mich kaum vorstellbar, da auch ich beruflich psychiatrisch tätig bin und die vielen unterschiedlichen Krankheitsbilder kenne. Die Menschen erhalten pro Tag alle eine Dosis von 600 mg Lithiumsulfat und sind auf sich selbst gestellt. Allice geht damit ein wenig humorvoll um und sagt sich, dass zumindest hier Gleichbehandlung bestehe. Die Ironie bezieht sich auf den Geschlechterkampf, wobei ich mir nicht sicher bin, ob der Begriff Geschlechterkampf  hier richtig platziert ist, da die Frauen kaum eine Chance haben, für die Gleichbehandlung der Geschlechter zu kämpfen... . Aber sie kämpften trotzdem auf ihre mögliche Art und Weise... .

Auf die psychiatrische Station werden meist Pflegekräfte geschickt, und hauptsächlich auch Frauen, obwohl sie oft von den Kranken körperlich bedroht werden... . Aber es gibt nicht genug männliche Pflegekräfte. Alice bekommt den Tipp von ihrer älteren Kollegin, sie solle, wenn sie angefasst werde, so tun, als sei alles normal... . Sie dürfen sich nicht beschweren und auch nicht klagen. Nicht nur hier, sondern überall in der Gesellschaft bekommt die Frau immer die Schuld zugewiesen, unabhängig davon, wie sie sich verhält. Da stellt sich mir die Frage, ob die Existenz einer Frau zu einer Schuldfrage wird? Auf den anderen Station übernehmen die Pflegekräfte oft Aufgaben, die hier bei uns nur ÄrztInnen durchführen dürfen. Im Kreißssaal dieses Herz Jesu Krankenhauses z.B. sind es die Pflegekräfte, die die Kinder zur Welt holen. Man kann sich leicht vorstellen, dass viele Säuglinge es lebend nicht schaffen, geboren zu werden.

In der Klinik ist auch Noor eingestellt, der zusammen mit Alice in der Besserungsanstalt war. Noor ist als einfache Schreibkraft eingestellt. Er war Analphabet und wurde in der Klinik von Dr. Pereira alphabetisiert.  Noor und Alice sind noch recht junge Leute. Noor gibt Alice den Tipp zu heiraten:

"Wahrscheinlich solltest du heiraten. Ich habe gehört, ein guter Ehemann sei das beste Heilmittel gegen Albträume. Und weißt du auch warum? Weil du dann mit einem Albtraum schläfst."

Fand ich schon recht ausdrucksstark, selbst von einem Mann gesprochen, und macht deutlich, wie schwer und bedrohlich es Frauen hier haben.

Korruption und Kriminalität dominieren den Arbeitsalltag. Auf der Inneren Station wird Alice ein weiteres Mal bedroht, als sie gezwungen wird, das männliche Geschlechtsteil eines Anwesenden mit ihrer bloßen Hand zu befriedigen, in der anderen Hand hielt der Besucher eine Pistole. Als sie sich wehrt, indem sie ihm mit einem Rasiermesser in den Penis schneidet, kommt es zu bösen Folgen. Ihre ältere und erfahrene Kollegin Hina Alvi rügt sie, indem sie sie für zwei Wochen aus dem Dienst suspendiert, damit der Peiniger sich vorerst an ihr nicht rächen kann:


"Du bist nicht die Erste und wirst auch nicht die Letzte sein, der man gelegentlich etwas unter die Nase hält (…). Es wäre deine Aufgabe gewesen, den Mann zu überreden, ihn wieder zurück in die Hose zu stecken und sie zu schließen. Darin besteht deine Ausbildung. Nicht darin, an jemandem herum zu schnippeln." (…).
" Meinen Sie, ich sollte zur Polizei gehen? Es war Notwehr, das wissen Sie." Alice weiß, dass sie nicht zur Polizei gehen wird - sie hat ihr halbes Erwachsenenleben versucht, der Polizei aus dem Weg zu gehen-, aber sie will wissen, was Schwester Hina Alvi dazu sagt: Diese schüttelt entnervt den Kopf, als wäre Alice Bhatti ein dummes Kind, das ständig fragt, warum die Leute auf der anderen Seite der Erde nicht in den Weltraum fallen, weil die Erde doch rund ist. "Im Krankenzimmer hattest du es nur mit einem Mann zu tun. Auf der Polizei wärst du mit einem ganzen Revier konfrontiert. Du würdest eine Kettensäge brauchen." (…).
" Eigentlich werde ich dafür bestraft, dass ich mich gegen einen bewaffneten Angriff gewehrt habe."

Hina Alvis Ratschläge sind aus ihrer eigenen Erfahrung gesprochen. Sie ist einundfünfzig Jahre alt und war dreimal verheiratet und ist dreimal geschieden worden. Auch sie führte den Geschlechterkampf, einmal mit den Ehen und einmal innerhalb ihres Berufes. Sie konnte nichts erreichen und was ihr blieb, war Resignation oder innere Methoden entwickeln, die ihr das Überleben in dieser patriarchalischen Gesellschaft sicherten.

Obwohl Alice als Frau recht selbstbewusst wirkt, und sie auch gelernt hat, dass Frauen, die sich ausschließlich um ihre Schönheit kümmern, oft zu Opfern werden:

"Alice Bhatti hat ihre eigenen Beobachtungen angestellt und glaubt erkannt zu haben, welcher Typ Frau es ist, der die falsche Art von Aufmerksamkeit auf sich zieht. Diese Frauen stolpern von einem Mann, der sie schlägt, zum nächsten, der ihnen die Nase abhackt, dann in die Arme des unvermeidlich letzten, der ihnen die Kehle durchschneiden wird."

Ein wenig makaber, aber es ist bekannt, dass in solchen patriarchalischen Systemen für den Mann jede Tat legal ist. Selbst die banalsten Dinge können für eine Frau gefährlich werden:

"Alice isst niemals in der Öffentlichkeit. Sich etwas in den Mund zu stecken, kann auf jeden Fall als Aufforderung gedeutet werden, dir irgendetwas Grauenhaftes in die Kehle zu rammen. Wer seinen Hunger zeigt, zeigt offensichtlich ein Verlangen."

Wenn junge Frauen zeigen, dass sie sexuell aufgeklärt sind, werden Männer recht misstrauisch und hegen den Verdacht, dass sie sexuell schon sehr erfahren sind und sie sexuellen Kontakt mit anderen Männern genossen haben. Alice wurde in ihrer Ausbildung zur Krankenschwester aufgeklärt und als sie mit ihrem Mann über Spermien sprach, weil er das Thema gewählt hatte, wäre es beinahe zum Verhängnis gekommen... .

Männer sind immer hungrig und Frauen immer traurig, das fragen sich einige Männer, woran das liegt, dass Frauen traurig sind, obwohl sie glücklich sein müssten:

"Hunger verstehe ich ja noch, weil der Mann jede Nacht schwer arbeiten muss, manchmal sogar mehr als einmal in einer Nacht, aber warum werden die Frauen traurig, wenn sie verheiratet sind? Sollten Sie nicht eigentlich froh sein? Sie haben Ihren Partner gefunden, den Vater ihrer zukünftigen Kinder, den Mann, den sie zwingen werden, so schwer zu arbeiten, dass sie nach seinem Tod begehrte Witwen sind." 

Konflikte gibt es auch oft, wenn Menschen ihre Religiosität zeigen und verbergen sie ganz oft, weil sie oft Nachteile erleiden müssen.

"Eine verheiratete Muslimkrankenschwester ist nicht viel besser als eine ledige christliche. Du wirst höchstens doppelt versklavt."

Alice hat geheiratet, was man eigentlich auch als Leserin nicht erwartet hat, da sie doch eine recht selbstbewusste Frau ist und in der Lage ist, die Welt der Männer zu durchschauen. Dennoch ging sie den Bund der Ehe ein, doch auch diese Ehe verlief nicht glücklich. Überhaupt das gesamte Schicksal Alices verlief nicht glücklich und nur der Chefarzt der Klinik, Dr. Pereiras, weiß um das schwere Schicksal dieser beiden jungen Leute, Alices und Noors:

"Dr. Pereiras Ärger über Alice Bhatti und Noor ist der eines privilegierten gegenüber weniger begünstigten, denen man eine Chance gegeben hat, die jedoch entschlossen sind, sie zu vergeuden. Die Menschen, die sich weigern, das Haus zu verlassen, selbst wenn das Wetter schön ist. Die sich in ihrem Unglück suhlen, wenn auf der Straße getanzt wird. Sich weigern teilzuhaben, wenn Geschichte gemacht wird. Dr. Pereira ist Mensch genug, um zu wissen, dass Alice und Noor ihr Unglück nicht verschuldet haben, aber er hat auch nicht genügend Fantasie, um zu erkennen, wie verzweifelt sie sich bemühen, ihr Schicksal umzuschreiben."

Der letzte Satz hat mich total berührt, das Schicksal umzuschreiben...

"Noor hat genug Zeit im Krankenhaus verbracht, um zu wissen, was man hier wirklich denkt: dass Schwester Alice in der Gosse aufgewachsen ist und noch immer ihren Gestank an sich trägt. Dass Noor im Gefängnis zur Welt gekommen und aufgewachsen ist und ihm der Geruch des Sklaven anhaftet."

Wenn man so etwas liest, kann man nur Mitleid für diese Menschen wie Alice und Noor haben. ich frage mich, wie eine  Feministin Alice Schwarzer in solch einer Gesellschaft überleben würde? Die Frauen hier haben keinerlei Chancen, sich zu emanzipieren. Der Kampf endet schließlich nach innen, um zu überleben und nicht ermordet zu werden. Bei vielen anderen endet er tatsächlich mit dem Tod... .

Zum Schluss geht es nochmal darum, herauszufinden, was gute Menschen sind und weniger gute nach der Definition der katholischen Kirche. Es wird die Frage gestellt, ob nicht Alice Bhattis jemand ist, die man als Heilige bezeichnen könne, die den ganzen Mut aufgebracht hat, im Krankenhaus sich für andere Menschen stark zu machen und sich einzusetzen und selbst ihr Leben zu riskieren? Alice ergreift zum Schluss ein sehr schweres Schicksal, das ich aber offen lassen möchte und schließe somit diese Buchbesprechung. Aber meine ganze Anerkennung zollt diesen Menschen wie Alice, Noor und vielen andere Menschen auch, die in schwere, fundamentalistische und kriminelle Verhältnisse geboren werden. Meine Anerkennung zollt auch dem Autor, auch wenn mir ein paar Szenen nicht wirklich glaubhaft erschienen sind.

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„Musik ist eine Weltsprache“
         (Isabel Allende)

Gelesene Bücher 2012: 91
Gelesene Bücher 2011: 86



Mohammed Hanif / Alice Batthis Himmelfahrt (1)

Erste Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Zu Beginn versuchte ich mir vorzustellen, was der Titel des Buches wohl bedeuten mag? Die Antwort erfährt man auf den letzten Seiten, im Epilog sozusagen. Um die Spannung nicht zu nehmen, werde ich mich darüber nicht auslassen. Wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, so werde ich mich nur angedeutet und kurz dazu äußern. Es gibt aber noch so viel anderes, das ich mir näher betrachten kann.

Das Buch hat mir insgesamt recht gut gefallen. Auch den Schreibstil fand ich als gekonnt dargestellt. Dass die Welt in dem Buch so furchtbar grausam dargestellt ist, ja, das ist sie, recht grausam, das scheint wohl, wie man das auch aus der Presse recht oft entnimmt, ein Abbild der Realität des südasiatischen Landes Pakistan, aus dem der Autor stammt, zu sein.

Viele, viele Religionen, Pakistan und Indien, von denen ich zuvor noch nie etwas gehört habe. Im Vergleich wahrscheinlich wie bei uns Christen es die Katholiken und die Protestanten gibt. Ich habe mir jetzt nicht alle Konfessionen gemerkt. Muss man auch nicht. Wichtig ist aber der Platz, den die Religionen in dieser patriarchalischen Gesellschaft erhält, und diese den Alltag der dort lebenden Menschen bestimmt. Ich frage mich nur, sind es die Religionen, die die Menschen zu Bestien machen? Oder wird die Religion als Vorwand benutzt? Oder werden Männer von klein auf erzogen, dass Frauen wertlose Geschöpfe seien und sie ihnen dienen müssen, weil der Mann, angeblich als das starke Geschlecht, die Welt regiert... . Aus meiner Sicht ist es die Lust nach Macht, sich bedienen, wonach er verlangt... . Und so werden Frauen oftmals als ein bloßes Objekt gesehen.

Richtig gut gefallen hat mir auch, dass der Autor viel über die Stellung der Frau in der Gesellschaft geschrieben hat. Er ist parteiisch und stellt sich auf die Seite der Frauen, die schlecht behandelt werden. Ein Mann, der sich in eine Frau hineinzuversetzen in der Lage ist, vor dem habe ich Respekt.

Ich habe mich des öfteren gefragt, wie ich mit dem gelesenen Buch umgehen soll, ich, die aus einer völlig anderen Welt komme, und möchte mich aber keineswegs über diese Menschen stellen, dass sie z.B. in rückständigen Systemen leben. Statt dessen möchte ich lieber mitfühlend sein, Menschen gegenüber, die in so eine Welt hineingeboren werden, und sie lernen müssen, dieses System mit ihrem Leben zu überwinden. Wir können oftmals nicht einmal Familienprobleme lösen, wie schwer muss es erst sein, die Probleme eines ganzen Landes zu lösen? Ich möchte nicht urteilen, hoffe, dass es mir gelingen wird. Stattdessen möchte ich mich mit den Opfern und den mutigen Menschen, die sich für eine bessere Welt einsetzen, solidarisieren. Mehr kann ich nicht tun, ein kleiner Beitrag zum Weltfrieden... .

Da ich nun so viel geschrieben habe, Gesamteindrücke, die ich nicht zur Seite schieben wollte, werde ich eine  zweite Buchbesprechung im nächsten Posting schreiben, in der Zitate eingefügt werden.




Mittwoch, 19. Dezember 2012

Mohammed Hanif / Alice Bhattis - Himmelfahrt



A1 - Verlag
272 Seiten 
gebunden 
€ 19,90 
ISBN 978-3-940666-22-2
2. Auflage



Klappentext


Im Zentrum des Romans steht das Herz Jesu Krankenhaus in Karachi. Alice Bhatti, eine junge Christin, bekommt eine Stelle als Assistenzkrankenschwester. Einige Zeit zuvor aus der Besserungsanstalt entlassen und in das Haus ihres Vaters im Christenghetto French Colony zurückgekehrt, gelingt es ihr mit ihrem unerschrockenen, zupackenden Auftreten schon bald, im chaotischen Alltag des vollkommen überfüllten und desolaten Krankenhauses Fuß zu fassen. Unterstützung erhält sie von dem 17-jährigen Jungen Noor, der dort als Schreiber angestellt ist und Alice vergöttert, sowie von der anfangs harschen, unzugänglichen Oberschwester Hina Alvi.


Autorenportrait

Mohammed Hanif, geboren 1965 in Okara/Pakistan, war Pilot der pakistanischen Luftwaffe, bevor er eine Karriere als Journalist einschlug. Ende der neunziger Jahre übersiedelte er mit seiner Familie nach London. Er schrieb Theaterstücke und Drehbücher und absolvierte das renommierte Creative Writing Programme der University of East Anglia. Im Herbst 2008 kehrte er nach Pakistan zurück und arbeitet dort als Korrespondent der BBC. Er lebt in Karachi.»Eine Kiste explodierender Mangos« ist sein erster Roman, der bereits kurz nach Erscheinen für den Man Booker Prize nominiert wurde.


Neu entdeckt habe ich den Autor auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Ich habe mir zwei Werke von dem Autor gekauft. Das obige Werk ist das der erste Band, den ich von ihm lese. Mich haben die Klappentexte angesprochen. Literatur aus Pakistan hatte ich bisher noch nicht gehabt. Ich betrete demnach Neuland, speziell aus dem asiatischen Raum. Allerdings habe ich mit islamischer Literatur schon mehrfach zutun gehabt.

Das zweite Buch Eine Kiste explodierender Mangos steht noch ungelesen in meinem Regal.







Dienstag, 18. Dezember 2012

Ernst Augustin / Robinsons blaues Haus (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Das Buch ist recht kompliziert zu lesen, aber ich schreibe trotzdem darüber, da ich neugierig bin, was sich mir bewusst und unbewusst für Gedanken und Ideen zu dem Inhalt auftun.

Es ist nicht so, dass es mir gut gefallen hat, aber es ist auch nicht so, dass es mir nicht gefallen hat. Der Roman ist voller Bilder und Ideen. Manchmal recht traurige und manchmal verpackt in Humor. Der Roman ist voller Räume, innen und außen... . Man darf nicht fragen, was wahr ist und was falsch ist. Viele, viele Welten treten hier zum Vorschein. Welt innen, Welt außen..., zerlegt in viele kleine andere Welten... , real, surreal und irreal ... . In diesem ganzen Komplex gibt es schließlich aus vielen Realitäten eine einzige Wirklichkeit. Ich selbst habe nicht den Anspruch, diese vielen Welten zu verstehen. Die Welten im Inland, die Welten im Ausland. Das Ausland im Inland (BRD / DDR)... . Alles Räume, die sich Robinson, wie auf einer einsamen Insel lebend, selbst kreiert, um psychisch und geistig überleben zu können. Gebäude und Gemäuer zum Selbstschutz. Aber einige Räume, Gebäude sind recht stilvoll gestaltet... . Man muss diese Welten finden und jeweils einen Namen geben, sollte man jene Orte wieder erkennen.

Auch wenn der Name im Buchtitel mit Robinson versehen ist, so ist dies eher ein Fantasiename des Protagonisten des Romans, ein Nickname für Chatrooms. Sein richtiger Name wurde nur einmal erwähnt, dann nie wieder. Man muss also sehr aufmerksam lesen, um gewisse Details nicht zu verpassen. Erst auf Seite dreiundfünfzig erfährt man den richtigen Namen von alias Robinson. Er heißt Thomas Hilprecht jr. und kommt aus Lübeck. Er ist das einzige Kind dieser dreiköpfigen Familie. Sein Vater ist Bankier und beruflich oft verreist. Von der Mutter erfährt man nicht sehr viel, außer dass sie Hausfrau und Mutter ist und recht früh verstarb.

Der Protagonist ist kein Kind mehr, lässt uns aber retrospektivisch an ein paar Ereignissen seiner Kindheit teilnehmen. Sein Vater z.B., der ihm prophezeite, dass er es im Leben mal schwer haben werde und er auch keine Freunde haben würde, machte es sich mit dieser Mentalität ein wenig einfach, denn er weiß nicht, was es mit dem
Jungen macht, der so eine Welt einsuggeriert bekommt...

Du wirst entdecken, dass du allein bist, dass du dich auf einer Insel befindest - merke dir, mein Sohn - inmitten eines Ozeans von Menschen über Menschen, die alle laut reden und alle etwas anderes meinen. Die Ihre Seele daransetzen werden, dich von dieser Insel - so selig sie immer sein mag - zu vertreiben. Es sind sechs Milliarden, alle miteinander  ... .

Der Vater war nicht autoritär, doch sehr pflichtbewusst und legte viel Wert auf die Durchschnittlichkeit in Form des nicht aus der Rolle fallen, und immer schön brav und anständig dem geregelten Leben nachgehen.  Statt den Sohn noch für andere Berufe neugierig zu machen, sorgte er dafür, dass Thomas nach der Schule auch Bankkaufmann wird und so tritt der Junge in die Fußstapfen seines Vaters. Der Vater wollte den Sohn in sichere Bahnen wissen.

Allerdings lässt dieser Wunsch nach Durchschnittlichkeit noch andere Schlüsse zu. Politische Motive könnten den Vater dazu bewegt haben, nicht aufzufallen, um sich nicht zu gefährden. Der Deutungen, so bin ich sicher, gibt es viele.

"Ich weiß", sagte mein Vater, "dass du in deiner Bank nicht übermäßig glücklich bist. Dass dir diese geordneten Verhältnisse, wie sie geboten werden, wenig erstrebenswert erscheinen, ich weiß. Das gute Ein- und Auskommen, mit Pensionsanspruch, selbst die vorhandenen Aufstiegsmöglichkeiten erscheinen dir wenig verlockend. Also mittelmäßig. Ich weiß. Deshalb lass dir sagen, mein Sohn, Mittelmäßigkeit ist eine Gnade! Das mag dir vielleicht noch nicht einsehen, aber lass dir sagen, sie ist die wahre Tugend, die den Menschen durchs Leben bringt."

Von den Problemen seines Sohnes dagegen wusste der Vater nichts, als dieser noch klein war und von Mitschülern gehänselt wurde, da er berufsbedingt zu selten zu Hause war.
Doch schon in der Schule machte der Junge die Erfahrung, von den Klassenkameraden ausgestoßen zu werden. Um aus dieser Außenseiterrolle zu kommen, hätte er eine schwere Bewährungsprobe bestehen müssen. Doch er konnte sich geschickt drücken, und erfand einen Raum auf dem Hof, wo ihn niemand finden konnte... . Das Versteckenspiel hörte auf, als die Familie schließlich kurze Zeit darauf durch glückliche Umstände den Wohnort wechselte... .

Als Erwachsener beschreibt sich Robinson folgendermaßen:

Er sei ein Mensch, der nichts mit sich herumträgt. Kein Gepäck, keine Taschen, nicht mal einen Schirm, wenn dann nur einen Mantel, den er sich über die Schultern wirft. Jedenfalls kann er jeder Zeit von seinem Platz aufstehen und verreisen, (...) sich in den Zug setzen und nach Kopenhagen zu fahren.

Ein wenig absurd diese Beschreibung. Aber sie gefällt mir. Die Vorstellung auf diese Weise von jetzt auf gleich sich in den Zug zu setzen und verreisen, ist unkompliziert und schön.

Robinson ist der Nickname, abgeleitet von Daniel Defoes Roman Robinson Cruso. Und ich nenne ihn jetzt auch Robinson. Robinson befindet sich im Chat-room und spricht mit Freitag. Es wird hier auch die Anonymität thematisiert, die Gesichterlosigkeit und was daraus folgt:

(…) das Gesicht, ohne Gesicht wird der Mensch waghalsig und schämt sich nicht. D.h. heute schäme ich mich, wenn auch nicht sehr, ich schäme mich virtuell, fast oder beinahe.

Freitag ist die anonyme (Fantasiefigur / aus Robinson Cruso), mit der Robinson sich austauscht. In seiner Vorstellung gibt es auch eine Frau Freitag, doch Herr Freitag negiert diese Figur, tut sie als nichtexistent ab. Frau Freitag, die es nur in seiner Vorstellung gäbe. Und in der Tat. Er verabredet sich mit Frau Freitag, doch Frau Freitag erscheint nicht.

Er geht Schwimmen, seine Mutter bittet ihn, wieder zu kommen. Wieso bittet sie ihn wieder zu kommen? Der Junge assoziiert es mit einem Seemann, der sein Bestes tut, und dass nicht jeder Seemann ein nasses Grab erhielt. Nasses Grab *lol*. Schöne Metapher, auf die ich später noch einmal zu sprechen komme.

In dem Buch tauchen auch zwei männliche Figuren auf, wo ich glaube, dass sie stellvertretend für die Stasi stehen. Sie suchten eines Tages den Vater auf, der Vater selbst befand sich auf der Flucht. Es sagte zu seinem Sohn, dass, wer ihn nicht kennen würde, so könne dieser ihn auch nicht verraten. Der Erwachsene junge Mann machte sich Sorgen um seinen Vater und glaubte, die väterliche Seele in einer Schreibtischschublade gefunden zu haben.

Skizzen und Pläne, einen ganzen Haufen, ich habe geweint. Pläne für Schlafsäcke, für Polsterstiefel, für warme Mützen, Körperhüllen zum Überleben in Eiswüsten. Man bedenke, Eiswüsten! Ausgemessen, berechnet, sorgfältig beschriftet, eine Arbeit zum Weinen. Da ist dieser Mensch, der sich anscheinend nichts sehnlicher wünscht, als dorthin zu gehen, wohin ihm niemand folgen kann. Im Eissack, in der Polarausstattung, man bedenke. Es war nicht so sehr die völlig unsinnige Vorstellungskraft, die mich weinen machte - Amundsen und Ericson hatten auch ihre Einfälle; es war die Sorgfalt, mit der hier ein eisiger Traum geplant worden war, die unbeirrbare väterliche Präzision.

Hier kommen die Nöte des Vaters richtig zur Geltung. Viele Überlegungen, wer es schaffen könnte, das Land zu verlassen, entstehen. Zu seinem Sohn sagt er:

"Sie können dir nicht folgen, weil ihnen Eiszapfen unter der Nase wachsen, bei sechzig Grad Minus. Als Beispiel. Du hast dir erfindungsreich einen Tropfenfänger gebaut, ein Tröpfchen in der Kopfhaube, so dass dir keine Eiszapfen wachsen. Du gehst, gehst immer weiter, fernab das Jaulen der Verfolger".

Eiszapfen unter der Nase wachsen, *lol*. Gefällt mir sehr.

Irgendwann, nachdem Robinson seine eigenen Erfahrungen gemacht hat erkennt er, dass der Mensch selbst sein eigenes Haus sei,

" (…) So kommt er rüber und so geht er raus,mächtig und prächtig,ärmlich erbärmlich,das ist der Mensch und so sieht er aus."

Wirkt auf mich ein wenig pessimistisch aber trotzdem schön.

Auf der Seite zweihundertfünfzig werden andere Häuser beschrieben. Und sie haben mir alle gefallen. Zumindest die Ideen, die Vorstellung solcher Häuser. Robinson verreist, er verreist in den Süden, in den Norden, zu den Afghanen usw..
Das Haus des Nordländers sei nach allen Seiten hin offen und zugänglich. Das Haus würde unter einer dicken Wetterhaube auf freiem Gelände sitzen.
Dagegen das Haus des Südländers sei genau das Gegenteil. Es sei geschlossen und eingemauert. Es besitze weder Fenster noch Türen. Irgendwo in einem Mauergang befände sich die Pforte.
Dagegen das Haus des Japaners bestehe nur aus Papier... . Usw.

Auch gibt es einen Vogel, oder vielmehr ein Adler, der schwarz-weiß gestreift ist, mit einer goldenen Brust, und der recht skeptische Blicke auf Robinson wirft. Ob damit die BRD gemeint ist, sozusagen nach dem Mauerfall, und er sich als Gast begreift und als Gast angenommen wurde?

Auf den letzten Seiten plant Robinson zum Schluss ein großes Haus zu bauen.

Es wird ein großes Haus werden. Mit vielen Korridoren und Ein-und Ausgängen, je nachdem, ob man hinein oder hinaus will, man ist ja nicht immer derselbe. Es geht hinauf und hinab, prächtig symmetrisch soll es werden und zugleich mächtig krumm und unübersichtlich, möglichst verbaut. Es soll genügend abgelegene Winkel haben, Scheintüren und Scheinwände, dass man nie ganz sicher sein kann, wo genau man sich befindet.

Das Haus stehe dafür, sich mit sich selbst dort einzurichten. Sich selbst Räume geben, sich selbst finden, sich selbst Schutz gewähren. Der Autor beschreibt es als ein Haus des Inneren, das ihm ermöglicht, in sich selbst hinein zu gehen. Und er spricht von Landschaften der Seele, auf die man durch die Fenster des Hauses blicken könne. In sich hinein blicken können und Welten entdecken.

Ich komme jetzt nochmal auf das Wasser zu sprechen, da Wasser auch recht symbolträchtig ist. Der Autor spricht von dunklem Wasser, das ganz tief unten fließt, im untersten Keller, im tiefsten Untergeschoss:

Aber es sind schwarze Wasser, die dort fließen, ein schwarzer Strom, schnell, klang und lautlos wie ein Schlangenleib. Sehr tief und sehr weit unten. Das Wasser schwillt, wird breit und bedrohlich und fängt an zu kurbeln. Das sind meine Ängste, die dort herumschwimmen, die verdrücken Gefühle, die Süchte und das ganze Leid. Aber irgendwann, das verspreche ich, werde ich hingehen und ein tiefes Loch in den Bimsstein graben, ich werde nachsehen, was dort unten ist. Luft ist leicht. Erde ist schwer. Wasser neigt zur Hysterie. Und Feuer, lieber Freund, Feuer ist ganz sicherlich hoch kriminell.

Irgendwann auf den ersten Seiten, so erinnere ich mich, als die Frage gestellt wurde, was wichtiger sei, Geld oder Liebe? Dann kam Leerlauf. Nach dem Leerlauf stand geschrieben beides.

Doch jetzt, zum Schluss, gehen wir wieder zurück in den Chat - Raum, zurück ins Internet, um alles, was dort an Leben abgerufen wurde, wieder zu löschen geht. Nur die Liebe, für die man kein Passwort benötige, bleibe für immer, und nur diese könne man überall mit hinnehmen ... .

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„Musik ist eine Weltsprache“ 
         (Isabel Allende)

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