Samstag, 16. Juni 2012

Erich Maria Remarque / Der schwarze Obelisk (1)


Erste Buchbesprechung der o. g. Lektüre



Ich bin von dem Buch total angetan. Man hört ja viel über die Inflation, aber Remarque bringt das richtig lebendig rüber. Sich die Zigarette mit einem Hundertmarkschein anzuzünden, das ist schon grotesk. Oder ein Laib Brot, das 1000 Mark kostet ... . Was ich an Remarque besonders schätze und liebe, ist, er ergreift Partei für Menschen, denen es an Gerechtigkeit mangelt, denen es an materiellen Gütern fehlt. Menschen, die durch eine Regierung in existentielle Nöte geraten sind. Menschen, die politisch und gesellschaftlich benachteiligt sind. Ich mag Menschen, die parteiisch sind. ... . Ziemlich schlecht schneidet in dem Buch die katholische Kirche ab. Während die Menschen hungern und nicht wissen, wie sie um den nächsten Tag kommen, sieht bei ihr die Tafel recht prunkvoll aus, wie reichlich deren Tisch gedeckt ist... . Die Rede ist von einer Klinik, die von Ordensschwestern geleitet wird, und der Protagonist, Orgelspieler, dort an der Tafel gemeinsam mit dem Vikar teilnehmen darf als Ausgleich für das geringe Gehalt für sein musisches Engagement.
Remarque schreibt allgemein recht gesellschaftskritisch und nimmt auch das kleine Volk unter seine Lupe... .

Der Protagonist ist der Ich-Erzähler und heißt Ludwig Bodmer, und macht es dem Leser möglich, in Institutionen hinter die Kulissen zu schauen. 
 Ludwig Bodmer ist fünfundzwanzig Jahre jung und hat schon allerhand erlebt aber er bezeichnet sich für zu jung auf manchem Gebiet. Seine Freunde widersprechen ihm, und betrachten ihn als ein Kriegsprodukt - emotional zu unreif, aber erfahren im Morden ... :D. 

Eine Straßenbahnfahrt, hin und zurück, kostet 1000 Mark. Der Eintritt ins Museum 250 Mark, die Tapeten an den Wänden kann man mit Geldscheinen zukleistern... .
Die wirklichen Verlierer sind die kleinen Leute, die Sparer, die durch die Inflation von heute auf morgen ihre gesamten Ersparnisse verloren haben. Gewinner sind die Aktionäre und die Börsianer... . Also, die Reichen, die wussten, wie man Geld anlegt... . 
Folgende Szene hat mich besonders betroffen gemacht. Es geht um einen Suizidanten, der aufgrund seiner Tat auf dem Kirchhof nicht begraben werden darf. Bodmer kann das gar nicht verstehen und nimmt sich mitfühlend der verzweifelnden, trauernden, hinterbliebenen Ehefrau an:

" Sie meinen, dass er deshalb nicht auf dem Kirchhof beerdigt werden darf?", fragte ich.
" Ja. Nicht auf dem katholischen. Nicht in geweihter Erde."
" Aber das ist doch Unsinn!", sagte ich  ärgerlich." er sollte in doppelter geweihter Erde begraben werden. Niemand nimmt sich ohne Not das Leben. Sind Sie ganz sicher, dass das stimmt?"
" Ja. Der Pastor hat es gesagt."
" Pastoren reden viel, das ist ihr Geschäft. Wo soll er denn sonst beerdigt werden?"
"Außerhalb des Friedhofs. Auf der anderen Seite der Mauer. Nicht auf der geweihten Erde. (…) Und das geht nicht. Er war fromm. Er muss-", Ihre Augen sind plötzlich voll Tränen."Er hat es sicher nicht überlegt, dass er nicht in geweihter Erde liegen darf."
" Er hat wahrscheinlich überhaupt nicht daran gedacht. Aber grämen Sie sich nicht wegen Ihres Pastors. Ich kenne Tausende von sehr frommen Katholiken, die nicht in geweihter Erde liegen."
Sie wendet sich mir rasch zu. "Wo?"
" Auf den Schlachtfeldern in Russland und Frankreich. Sie liegen da beieinander in Massengräbern, Katholiken, Juden und Protestanten, und ich glaube nicht, dass das Gott etwas ausmacht." :D
" Das ist etwas anderes. Sie sind gefallen. Aber mein Mann-" (…) der Pastor behauptet, die Todsünde-".
" Liebe Frau", unterbreche ich sie. Gott ist viel barmherziger als die Priester, das können Sie mir glauben."

Er sollte in doppelter geweihter Erde begraben werden, damit will der Autor zu verstehen geben, dass diese Menschen, die so viel Leid erfahren, es besonders verdienen, geachtet und respektiert zu werden.

Und der letzte Satz könnte von mir sein. Denn auch ich bin der Meinung, dass Menschen viel härter im Urteil sind, was die menschliche Schwäche betrifft, sollte es einen Gott geben. Es ist der Mensch, der sich nach Rache und nach Sühne sehnt, nach einer Hölle für seine Feinde. Es ist der Mensch, der sich nach einem strafenden Gott sich sehnt, aber mein Gottesbild ist davon geprägt, dass Gott nur vergeben will. Es ist ja schließlich nicht so einfach, verglichen mit anderen Lebewesen.

Weiter geht es im Dialog. Die Frau geniert sich, dass sie ihre Trauer einem wildfremden Menschen anvertraut. Doch Bodmer versucht sie zu trösten, dass es für diese kritische Zeiten normal sei, so viel mit Toten zu tun zu haben:

"Ja -aber nicht so-"
" doch", erkläre ich. Das passiert in dieser traurigen Zeit viel häufiger als Sie denken. Sieben allein im letzten Monat. Es sind immer Menschen, die nicht mehr ein noch aus wissen. Anständige Menschen also. Die unanständigen kommen durch." 

Es folgt noch ein anderes Zitat, das mir sehr imponiert hat und mir auch aus der Seele spricht. Es geht um die Grabreden, um Todesanzeigen, die immer so positiv und menschenliebend ausfallen. Dieses Zitat möchte ich gerne festhalten, weil es so schön und treffend ausgedrückt ist und auch heute noch aktuell ist:

"Wenn es nach den Todesanzeigen ginge, wäre der Mensch absolut vollkommen. Es gibt nur perfekte Väter, makellose Ehemänner, vorbildliche Kinder, uneigennützige, sich aufopfernde Mütter, allerseits bedauerte Eltern, Geschäftsleute, gegen die Franziskus von Assisi ein hemmungsloser Egoist gewesen sein muss :D, gütetriefende Generäle, menschliche Staatsanwälte, fast heilige Munitionsfabriken :D - kurz, die Erde scheint, wenn man den Todesanzeigen glaubt, von einer Horde Engel ohne Flügel bewohnt
gewesen sein, von denen man nichts gewusst hat. Liebe, die im Leben wahrhaftig nur selten rein kommt, leuchtet im Tode von allen Seiten und ist das häufigste, was es gibt. Es wimmelt nur so von erstklassigen Tugenden, von treuer Sorge, von tiefer Frömmigkeit, von selbstloser Hingabe, und auch die Hinterbliebenen wissen, was sich gehört - sie sind von Kummer gebeugt, der Verlust ist unersetzlich, sie werden den Verstorbenen nie vergessen - es ist erhebend, das zu lesen, und man könnte stolz sein, zu einer Rasse zu gehören, die so noble Gefühle hat.

Szenenwechsel:


Bodmer befindet sich wieder bei einem seiner Freund, als sie zum gemeinsamen Essen verabredet sind:

" Was gibt es heute bei Eduard?"
" Deutsches Beefsteak." 
" Gehacktes Fleisch also. Warum ist gehacktes Fleisch deutsch?"
" Weil wir ein kriegerisches Volk sind und sogar im Frieden unsere Gesichter in Duellen zerhacken." 

zu dem Fettdruck, von mir erhoben, muss ich nichts mehr sagen, die Textstelle versteht sich von selbst.
_________________________
„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)

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Dickens: Schwere Zeiten
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Lenz: Die Masken
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Gelesene Bücher 2012: 42
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Donnerstag, 14. Juni 2012

Erich Maria Remarque / Der schwarze Obelisk




Verlag: Kiepenheuer & Witsch
2009, 8. Aufl.
Seitenzahl: 414
KiWi Taschenbücher Nr.488
ISBN-13: 9783462027259

 Klappentext
Das Inflationsjahr 1923. Die Zeit der Spekulanten und Schieber, der verarmten Rentner und Kriegsversehrten, einer Gesellschaft in moralischer Auflösung. Eine ganze Generation hat gelernt zu überleben - aber nicht sich im Leben zurechtzufinden. Wie Ludwig, der nicht weiß, wohin er gehört. Als Grabsteinverkäufer ist der Tod auch nach dem Krieg sein trauriges Geschäft...
Der Roman einer Generation zwischen den Kriegen: Das Inflationsjahr 1923. Es ist die Zeit der Spekulanten und Schieber, der kleinen Beamten und gro0ßen Kaufleute, der verarmten Rentner und Kriegsversehrten, einer Gesellschaft in moralischer Auflösung. Eine ganze Generation hat auf bittere Weise gelernt zu überleben - aber nicht, sich im Leben zurechtzufinden. Wie Ludwig, der im Krieg wie so viele andere seine Jugend verlor und nicht weiß, wo er hingehört. Auf der Suche nach Liebe in einem Platz im Leben begegnet er der schönen aber schizophrenen Isabelle.

Autorenportrait im Klappentext
Erich Maria Remarque, 1898 in Osnabrück geboren, besuchte das katholische Lehrerseminar. 1916 als Soldat eingezogen, wurde er nach dem Krieg zunächst Aushilfslehrer, später Gelegenheitsarbeiter, schließlich Redakteur in Hannover und Berlin. 1932 verließ Remarque Deutschland und lebte zunächst im Tessin/Schweiz. Seine Bücher “Im Westen nichts Neues” und “Der Weg zurück” wurden 1933 von den Nazis verbrannt, er selber wurde 1938 ausgebürgert. Ab 1941 lebte Remarque offiziell in den Usa und erlangte 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1970 starb er in seiner Wahlheimat Tessin. 

Remarque zählt auch zu meinen LieblingsautorInnen. Gelesen habe ich bisher von ihm:

1. Arrque de Triomph
2. Im Westen nichts Neues

Und beide Bücher haben mich wahnsinnig gefesselt!
Bin jetzt neugierig auf den Folgeband!
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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)


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Erzählungen von Thomas Mann BD 1

  Der Bajazzo, eine Erzählung von 54 Seiten


ISBN-10: 3596512255
Nach allem zum Schluss und als würdiger Ausgang, in der Tat, alles dessen ist es nun der Ekel, den mir das Leben - mein Leben -den mir >alles das< und  >das Ganze< einflößte. 

So beginnt die Erzählung von Thomas Mann, ob es nun Zufall ist oder nicht, aber irgendwie passt der Anfang, überhaupt das gesamte Thema, ein wenig zu meiner letzten Lektüre. Auch hier habe ich es mit einem Erzähler zu tun, der über sein Leben voll Abscheu und Ekel spricht.


Die Novelle handelt von einem Ich - Erzähler, zu einer Lebenszeit, als er dreißig Jahre alt war. Man erfährt auf den ersten Seiten ein wenig von dessen Familie. Zwei ältere Schwestern, die aber nach meinem Empfinden als Nebenfiguren keine außergewöhnliche Rolle spielen, bleiben in meiner Buchbesprechung unerwähnt. Der Vater ist in der Öffentlichkeit ein recht angesehener und geachteter Kaufmann, während die Mutter klein, zierlich und recht mädchenhaft wirkt und sie als nicht besonders hübsch beschrieben wird. Sie ist auf dem Gebiet der Literatur und dem Theater sehr bewandert. Das große Interesse für Literatur und Theater machte sich auch recht bald in dem Jungen, dem Erzähler, bemerkbar. Zu Weihnachten bekommt er ein Spieltheater geschenkt, mit dem er leidenschaftlich seine Fantasien auslebt und darin sogar auch Opern erfand… . Er beherrschte recht früh die Fabulierkunst.
In der Schule zeigt er sich dadurch eher verträumt und desinteressiert, und er brachte nicht die Leistungen zustande, die der Vater von ihm erwartete. Mit siebzehn Jahren wurde er somit in die Kaufmannslehre geschickt, und die Schule wurde vorzeitig beendet.

Der Vater zeigt sich nicht gerade entzückt über seine Entwicklung und das Interesse und der Liebe zu den literarischen Künsten. Er bezeichnet seinen Sohn als einen Bajazzo.

Bajazzo, eine Spaßfigur, mit nicht ernstzunehmenden Chraktereigenschaften und Vorlieben, entlehnt aus dem italienischen Volkstheater. Wobei mir der Protagonist gar nicht so erscheint. Auf mich wirkt er, nachdem ich die Novelle durch hatte, ein wenig ernst und nachdenklich, ein Bajazzo würde gar nicht so sehr sein Leben reflektieren. Er wäre durch und durch ein Lebemensch.

Der Junge wirkte außerhalb der Literatur und dem Theater nicht besonders ehrgeizig, aber er begab sich brav und widerstandslos in die Lehre bei dem Holzhändler Schlievogt. Es gelang ihm, sich dort gut anpassen und machte sich bei seinem Meister auch recht beliebt. Mit der Zeit lernte er ein geregeltes und sicheres Leben zu führen, das sich in feste Bahnen bewegt. Diese Lebensform würde aus meiner Sicht partout nicht zu einem Bajazzo passen… . Doch als der Vater verstarb und kurze Zeit darauf auch seine Mutter, erbte er eine fünfstellige Summe, so dass er gut damit seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, ohne weiter seinen Beruf als Kaufmann nachgehen zu müssen.
Er zog in eine andere Stadt, und begann dort ein neues Leben.


Meine Tage vergingen fortab in Wirklichkeit dem Ideale gemäß, das von mir mein Ziel gewesen war. Ich erhob mich von etwa um 10:00 Uhr, frühstückte und verbrachte die Zeit bis zum Mittag am Klavier und mit der Lektüre einer literarischen Zeitschrift oder eines Buches. Dann schlenderte ich die Straße hinauf zu dem kleinen Restaurant, in dem ich mit Regelmäßigkeit verkehrte, speiste und machte darauf einen längeren Spaziergang durch die Straßen, durch eine Galerie, in die Umgegend, auf den Lerchenberg. Ich kehrte nach Hause zurück und nahm die Beschäftigungen des Vormittags wieder auf: Ich las, musizierte, unterhielt mich manchmal sogar mit einer Art von Zeichenkunst oder schrieb mit Sorgfalt einen Brief. Wenn ich mich nach dem Abendessen nicht in ein Theater oder ein Konzert begab, so hielt ich mich im Caffée auf und las bis zum Schlafengehen die Zeitung.


Welche Literaturinteressierten träumen nicht von solch einem Luxusleben?, selbst wenn dieses Leben durch den Erzähler letztendlich doch infrage gestellt wird... . Je mehr er sich der Kunst zuwandte, desto mehr kehrte er der Welt und den Menschen den Rücken. Er hob sich auch von den anderen Menschen deutlich ab:


Die Tage aber verstrichen, und es wurden Wochen und Monate daraus- Langeweile? Ich gebe zu: Es ist nicht immer ein Buch zur Hand, das eine Reihe von Stunden den Inhalt verschaffen könnte; übrigens hast du ohne jedes Glück versucht, auf dem Klavier zu fantasieren, du sitzest am Fenster, rauchst Cigaretten, und unwiderstehlich beschleicht dich ein Gefühl der Abneigung von aller Welt und dir selbst; die Ängstlichkeit befällt dich wieder, die übelbekannte Ängstlichkeit, und du springst auf, machst dich davon, um die auf der Straße mit dem heiteren Achselzucken des Glücklichen die Berufs-und Arbeitsleute zu betrachten, die geistig und materiell zu unbegabt sind für Muße und Genuss.


Eigentlich nimmt der Erzähler schon recht deutlich wahr, dass sein Leben trotz der  vielseitigen Kunst recht einsam verläuft, doch er wagt sich nicht sich dem zu stellen, und wertet sich auf, indem er die arbeitende Bevölkerung, verglichen zu ihm und seinen Möglichkeiten, als unbegabt hinstellt. Letztendlich ist dieses Urteil eher ein Selbstschutz, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass ihm im Leben doch auch etwas ganz Wesentliches fehlt.

Auf den folgenden Seiten erfährt man schließlich doch, dass er hin und wieder ein wenig müde von der Einsamkeit ist. Seine Unzufriedenheit nimmt immer mehr zu, so dass er schließlich sich doch eingestehen muss, dass er keinem bestimmten Gesellschaftskreis angehört, indem er Bekanntschaften hätte knüpfen können.


 Übrigens hatte ich hier wohl mit der Gesellschaft gebrochen und auf sie verzichtet, als ich mir die Freiheit nahm, ohne ihr in irgendeiner Weise zu dienen, meine eigenen Wege zu gehen, und wenn ich, um glücklich zu sein, der Leute bedurft hätte, so muss ich mir erlauben, mich zu fragen, ob ich in diesem Falle nicht zur Stunde damit beschäftigt gewesen wäre, mich als Geschäftsmann größeren Stils gemein nützlich zu bereichern und mir den allgemeinen Neid und Respekt zu verschaffen.


Als Geschäftsmann? Wen muss er neidisch machen... ?. Hat er es nötig? Vielleicht hätte er sich im Elternhaus besser durchsetzen müssen, um seine Begabungen in der Kunst weiter zu entfalten. Aber auf einem professionellen Gebiet, auf dem sich noch andere Künstler tummeln, und mit ihnen im Austausch bleiben würde. Aber er besänftigt sich immer wieder mit nicht ganz aufrichtigen Gedanken:


Ah, ich habe aber mein Leben zu meinem Wohlgefallen eingerichtet! Bin ich vielleicht nicht glücklich? Eine Lächerlichkeit, diese Frage, und weiter nichts. (…) Es ist wahr, dass ich allerhand vermag! Ich kann (…) mich am Flügel niederlassen, um mir im stillen Kämmerlein meine schönen Gefühle voll auf zum Besten zu geben, und das sollte mir billig genügen; denn wenn ich, um glücklich zu sein, der Leute bedürfte - dies alles! Allein gesetzt, dass ich auch auf den Erfolg ein wenig Wert legte, auf den Ruhm, die Anerkennung, das Lob, den Neid, die Liebe?
 
Schließlich versucht er >Glück< zu definieren, wobei ich den Eindruck bekomme, dass er >Glück< auch erzwingen will, um sein Leben damit als geglückt rechtfertigen zu können:


 Ich will und muss glücklich sein! Die Auffassung des "Glückes" als eine Art von Verdienst, Genie, Vornehmheit, Liebenswürdigkeit, die Auffassung des "Unglücks" als etwas Hässliches, Lichtscheues, Verächtliches und mit einem Worte lächerliches ist mir zu tief eigentlich, als dass ich mich selbst noch zu achten vermöchte, wenn ich unglücklich wäre. 

Ich denke, dass es nicht so einfach ist zu verkraften, wenn man plötzlich die Erkenntnis machen muss, dass man im Leben etwas ganz Wesentliches versäumt hat, obwohl der Protagonist noch sehr jung ist, und sein Leben durchaus noch umlenken könnte:
 
Was dürfte ich mir gestatten, um glücklich zu sein? Welche Rolle müsste ich vor mir spielen? Müsste ich nicht als eine Art von Fledermaus oder Eule im Dunkeln hocken und neidisch ich zu den Lichtmenschen hinüberblinzeln, den liebenswürdigen Glücklichen? Ich müsste sie hassen, mit jenem Hass, denn nichts ist als eine vergiftete Liebe, - und mich verachten!


Ja, er hat sich auch in eine Frau verliebt, eine hübsche junge Dame, eine Theaterbesucherin, die aber leider einem anderen Bewerber versprochen ist, wie er enttäuscht feststellen musste. Aber zumindest lernt er das Gefühl der Liebe kennen..., selbst wenn er nach dieser Enttäuschung auch die Liebe letztendlich in sich völlig verwirft und sie als eine bloße, lästige Eitelkeit abtut:


Liebte ich, wenn endlich einmal diese Frage erlaubt ist, liebte ich dieses Mädchen denn eigentlich? Vielleicht… aber wie und warum? Weil diese Liebe nicht eine Ausgeburt meiner längst schon gereizten kranken Eitelkeit, die beim ersten Anblick dieser unerreichbaren Kostbarkeit reinigend aufbegehrt war und Gefühle von Neid, Hass und Verachtung hervorgebracht hatte, für die dann die Liebe Vorwand, Ausweg und Rettung war?
Ja, das alles ist Eitelkeit! Und hat mich nicht mein Vater schon einst einen Bajazzo genannt?
 
Sicherlich haben ihn die väterlichen Urteile geprägt, von denen er sich nicht hat lösen können, vielleicht, weil er diese nicht ausreichend genug hinterfragt hat. Ein kleiner Dialog zwischen den Eltern über den Sohn. Der Vater:


Seine Begabung, von der du sprichst, ist eine Art von Bayazzobegabung, wobei ich mich beeile, hinzuzufügen, dass ich dergleichen durchaus nicht unterschätze. Er kann liebenswürdig sein, wenn er Lust hat, er versteht es, mit den Leuten umzugehen, sie zu amüsieren, ihnen zu schmeicheln, er hat das Bedürfnis, Ihnen zu gefallen und Erfolge zu erzielen; mit derartiger Veranlagung hat bereits mancher sein Glück gemacht, und mit ihr ist er angesichts seiner sonstigen Indifferenz im Handelsmann größeren Stils relativ geeignet."
 
Ich denke, dass es genau das ist, was den Jungen beeinflusst hat, weshalb aus ihm nicht mehr geworden ist. Er genießt seine Kunst im Stillen, obwohl er die Fähigkeiten hätte, unter Menschen zu gehen, und im Austausch mit anderen Künstlern diese dort weiter zu entfalten und die Welt mit seinen künstlerischen Fähigkeiten zu bereichern.


Wohlüberlegt, ich kann nicht umhin, mir diese so friedliche und lächerliche Begriffsunterscheidung zugestehen: Die Unterscheidung zwischen >innerem und äußerem Glück< ! >Das äußere Glück<, was ist das eigentlich?- Es gibt eine Art von Menschen, Lieblingskinder Gottes, wie es scheint, deren >Glück< das Genie und deren Genie das >Glück< ist, nicht Menschen, die mit dem Widerspiel und Abglanz der Sonne in ihren Augen auf eine leichte, anmutige und liebenswürdige Weise durchleben, pendeln, während alle Welt sie umringt, während alle Welt sie bewundert, belobt, beneidet wird und liebt, weil auch der Neid unfähig ist, sie zu hassen. :-). 


Zu diesem Zitat muss man gar nichts mehr hinzufügen, ich schreibe gewisse Textstellen eigentlich nur heraus, weil sie mir so gut gefallen. Eigentlich hätte ich in vier Sätzen sagen können, worum die Erzählung handelt, und was die Quintessenz von ihr ist.

Aber was den Erzähler für mich so sympathisch macht, ist die Auseinandersetzungen mit seinem Leben, das Abwägen von Für und Wider, auch wenn die Erzählung nicht gerade optimistisch endet, aber sie keineswegs unrealistisch macht. Er setzt sich auseinander, denkt kritisch über sein Leben nach, aber als Ekel habe ich sein Leben gewiss nicht empfunden.

Mit einem Zitat begonnen, schließe ich mit einem Zitat ab:

Scheint es nicht, dass sich die inneren Erlebnisse eines Menschen desto stärker und angreifender sind, je dégagierter, weltfremder, und ruhiger er äußerlich lebt? Es hilft nichts: Man muss leben; und wenn du dich wehrst, ein Mensch der Aktion zu sein, und dich in die friedlichste Einöde zurückziehst, so werden die Wechselfälle des Daseins dich innerlich überfallen, und du wirst deinen Charakter in ihnen zu bewähren haben, seist du nun ein Held oder ein Narr.
                                                                          ENDE !

Nachgedanke:

Es gibt einsame Menschen, die nach ihren Möglichkeiten nichts unversucht gelassen haben, sich in das gesellschaftliche Leben zu mischen, und brachten Projekte auf die Beine, die jedoch allesamt gescheitert sind. Auch in der Gesellschaft fühlen sich diese Menschen recht einsam, einsamer als die Kunst hinter ihren vier Wänden… .

Mir hat die Novelle gut gefallen und gebe ihr sieben von zehn Punkten. Sieben Punkte und nichtzehn aus dem Grund, da das Thema nicht wirklich authentisch ausgearbeitet war. Den Bajazzo habe ich in dem Protagonisten keinesfalls erkennen können. Dafür war er zu ernst und zu reflektiert. Am Anfang der Novelle wird man auf ein Leben vorbereitet, das von dem Erzähler als recht ekelhaft empfunden wird. Auch das kommt nicht wirklich gut zur Geltung. Ich finde das Leben, das der Erzähler uns mitteilt, alles andere als ekelhaft und abstoßend. 

Ich gebe der Novelle sieben von zehn Punkten. Sieben und nicht mehr, weil mir der Ich-Erzähler als Bajazzo nicht wirklich authentisch wirkte. Sieben und nicht weniger, weil man sich gut in die Erzählung einfinden kann und der sprachliche Ausdruck recht gehoben ist.

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Montag, 11. Juni 2012

Elias Canetti / Die Blendung (6)

Sechste Buchbesprechung zu o. g. Werk


Ich habe das Buch nun durch und bearbeite jetzt noch die für mich wichtigsten letzten Seiten. 

Ich habe es recht gerne gelesen, zwischendurch wollte ich es allerdings wegen des so einseitigem negativ geprägtem Menschenbild abbrechen, aber dadurch, dass ich geduldig durchgehalten habe, bin ich doch für meine Geduld belohnt worden. Wenn man sich von den überaus pessimistischen Szenen nicht runterziehen lässt, kann man dem Buch viel Weisheit abgewinnen... .
So, dann komme ich nun zu meiner letzten Buchbesprechung des o.g. Werkes. 

Das Buch ist recht menschenverachtend und nochmal ganz besonders potenziert Frauen gegenüber geschrieben. Ich halte Canetti für einen schwer, pessimistischen Autor... . Besonders Frauen schneiden hier recht schlecht ab.

Ich frage mich, ob das, lt. biographischer Recherchen meinerseits, mit der komplizierten Beziehung zwischen Mutter und Sohn zu tun hat, die der Autor in dem Buch bewusst und unbewusst verarbeitet? Oder aber es ist ein Plädoyer an die Menschheit, in der diese Anklagen geäußert werden. Ich kann mich noch nicht ganz entscheiden, da ich jetzt ein wenig beeinflusst bin von dem biographischen Material, das ich hinzugezogen habe, um das Buch besser einordnen zu können. Eine gewisse Verachtung den Menschen gegenüber geht schon aus den Daten hervor... . Dieser Ekel zur Masse, die Blödheit (die Deppen, wie der Erzähler sie bezeichnet) und die Verdummung kann ich schon eher nachvollziehen, und gerade jetzt noch ganz besonders, wo wieder mal Fußballzeit ist. Wenn der Massenmensch selbst nicht mehr nachdenkt, und nur das tut und denkt, was andere tun und denken, was die Medien dem Menschen vorgeben, und Meinungen übernehmen, ohne sie zu relativieren oder sie auf die Richtigkeit hin zu überprüfen, dann kann ich Canetti nur zustimmen. Davor empfinde ich selbst auch eine tiefe Verachtung. Dabei denke ich auch an die vielen Vorurteile, Klischees ... , die so blind übernommen und auf andere Menschen übertragen werden. ... . Was kann man da schon erwarten? 

Aber diese Verhöhnung den Frauen gegenüber, in der Form, wie sie in dem Buch auftaucht? Finde ich arg übertrieben... . Gäbe es die Frauen nicht, so der Protagonist, so gäbe es mehr Bibliotheken, mehr Wissenschaftler, denn was, so fragt er sich, haben Frauen schon Großartiges geleistet in der Geschichte?  Antwort: Sie haben bisher nur Kinder gekriegt und Intrigen gesponnen :D. Man liest es so, als wäre Frau die Schuldige für jene Volksverdummung. Belege dazu sind auch in der Natur gefunden worden:
Dass die Spinnenweiber den Menschen ihren Kopf abbeißen, nachdem sie die Schwächlinge missbraucht haben, dass nur weibliche Mückenblut saugen, (…) und die Drohnenschlacht bei den Bienen ist eine Barbarei. (…) In der Spinne, dem grausamsten und hässlichsten aller Tiere, sehe ich die verkörperte Weiblichkeit.
 Ein paar Seiten weiter zitiert der Professor einen Auszug aus Buddhas Schriften:
Hart wie ein Baum, 
wie Flüsse so krumm,
Bös wie ein Weib,
So böse und dumm.
So, dabei möchte ich jetzt erst mal belassen, was die Frauenfeindlichkeit betrifft, wobei das Buch arg davon  belastet ist.

Ich möchte mich gerne noch etwas über den Bruder des Professors auslassen, der doch ein paar Aussagen gemacht hat, die mir imponiert haben, und die ich festhalten möchte. Aber nicht, weil mir dieser Mensch so viel sympathischer ist als Prof. Peter Kien... . 

Der Bruder, Dr. Georg Kien, Pariser Chefarzt einer Psychiatrie, (in dem Buch wird der Begriff Psychiatrie mit Irrenanstalt ersetzt),  hat seinen Bruder Peter Kien zwölf Jahre nicht mehr gesehen, ist allerdings über ihn gut im Bilde durch seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Der Doktor hat sich einen Namen in der Medizin (Gynäkologie, Psychiatrie) errungen, und der Bruder in der Sinologie.
Ich nehme an einer Diskussion der beiden Brüder teil, der ich mit großem Interesse folge und ich kleine Teile dieses Dialoges hier gerne wiedergeben möchte... .  Nachdem sich nun beide Brüder einig darin waren, dass Frauen gar nichts taugen :D, werden die beide Berufe miteinander verglichen. Während Professor Peter Kien seinen Bruder als Vielredner, als Schwätzer ansieht, da er beruflich mit den Menschen, mit den Irren den ganzen Tag zu tun hat, erkennt allerdings Georg, dass er durch seine menschliche Erfahrung eine Charakterbildung durchlaufen ist, die sein Bruder hinter seinen trockenen Theorien versäumt hat, und sich von seinen Theorien, von seiner Wissenschaft als Gelehrter sogar hat blenden lassen. Dies geht ja schon aus den ersten  Kapiteln deutlich hervor, und man ja schon da eine gewisse Menschlichkeit im Buch deutlich vermisst hat...
  
Du hast die heiligen Bücher aller Völker im Kopf, nicht nur die Länder. Allerdings zahlst du für dein wissenschaftliches Gedächtnis mit einem gefährlichen Mangel. Du übersiehst, was um dich vorgeht. Für deine eigenen Erlebnisse hast du keine Erinnerung. Wenn ich dich bitten wollte, (...) erzähle mir, wie du an diese Frau geraten bist, wie sie dich belogen und betrogen, behandelt und umgewandelt hat, erzählt mir die Bosheiten und Dummheiten, aus denen sie nach deinem indischen Spruch besteht, im einzelnen, damit ich mir ein eigenes Urteil bilden und nicht kritiklos das deine annehme - du wärst dazu nicht im Stande. (Dass es hier wieder um Frauen geht, war nicht zu vermeiden... , es geht mir eher um die Weisheit, die sehr wohl in dem Zitat enthalten ist.)
Weiter geht es im Text:
Du würdest wohl mir zuliebe deine Erinnerung anstrengen, aber ganz vergeblich. Siehst du, diese Art von Gedächtnis, die dir fehlt, besitze ich, darin bin ich dir hochüberlegen. Was mir ein Mensch einmal gesagt hat, der mich  treffen oder streicheln wollte, vergesse ich nicht.
Bloße Aussagen, einfache Feststellungen, die ebenso gut einem anderen wie mir gelten könnten, entgleiten mir mit der Zeit. Gefühlsgedächtnis, wie ich es nennen möchte, besitzt ein Künstler. Beides zusammen, Gefühlsgedächtnis und Verstandesgedächtnis, denn das ist das deine, ermöglichen erst den universalen Menschen. Ich habe dich vielleicht überschätzt. Wenn wir zu einem Menschen verschmelzen könnten, du und ich, entstünde ein geistig vollkommenes Wesen aus uns." 
Diese Textpassage beglückt mich wieder und es ist tatsächlich so, dass der Mensch eben beides kultivieren müsste, Herz und Verstand, um ein vollkommenes Wesen zu werden. 
Weiter geht´s:
Wenn ich an einer Wahnvorstellungen litte, wäre ich stolz auf sie.Was zeugt mehr von Charakter und Stärke? Versuche es mit einem Verfolgungswahn! Ich schenke dir meine Bibliothek, wenn du dich dazu aufschwingst. Du bist ein getriebener Aal, jedem starken Gedanken entschlüpfst du. Du bringst keinen Wahn zustande. Ich auch nicht, aber ich hätte Begabung dafür: Den Charakter.
Diese Textstellen stimmen mich richtig froh, doch dadurch, dass es in dem Romangeschehen nicht eine Person gegeben hat, die eine völlig andere Meinung pflegte, ein anderes Auftreten mitbrachte und eine weniger abfällige Meinung zum Menschenbild geäußert hat, fand ich das Thema ein wenig einseitig. Selbst der klugsprechende Georg Kien, der deshalb nur Chefarzt geworden ist, weil seine Nochnichtehefrau seinen Chef vergiftet hat und er dadurch die Nachfolge angetreten ist. Seine Nochnichtehefrau belohnte er damit, indem er sie zur Frau nahm...  . Ich sage nichts zum Mord, denn diese Untat spricht für sich selbst... . Aber diese Heirat... Es war auch hier keine Liebesheirat. Liebe gibt es in dem Buch kein wenig. Menschliche Liebe, partnerschaftliche Liebe; die Welt würde aussterben, wären alle Menschen in der Tat so verdorben.

 
Amüsiert haben mich auch die psychisch kranken Menschen in seiner Klinik: PatientInnen, die durch ihre Erkrankung große Potenziale entwickelt haben, die sie aber wieder verloren haben, als sie von ihrer Erkrankung geheilt wurden, und somit auch nur einfache Leute, die nur die Bezeichnung Kulturaffen verdienten. Der Geheilte wurde unglücklich, als plötzlich seine Potenziale wegtherapiert wurden. Dazu folgende Reaktion eines Patienten:

 Geistesgesundheit ist Stumpfsinn. Man müsste ihnen das Handwerk legen! Sie haben meinen kostbaren Besitz geraubt. (…) Ihr Beruf ist ein Verbrechen an der Menschheit. Schämen Sie sich. Sie Seelenschuster! Geben Sie mir meine Krankheit wieder! (…) Gesund reimt sich auf zugrund!"
Das sind so schöne Textstellen... . Ich fühle mich dadurch so bereichert... .
Letztendlich ist die Quintessenz eigentlich schon im ersten Teil deutlich geworden, und in den letzten Kapiteln wurde diese nochmals pointiert. Sich zu sehr in Theorien verlieren und die Lebenspraxis ignorieren, kann aus einem denkenden Menschen einen Theoretiker machen aber keineswegs einen besseren Menschen hervorbringen. Die Förderung von Gefühl und Verstand bringt erst den vollkommenen Menschen hervor.

                                             ENDE !

Dem Buch gebe ich sieben von zehn Punkten. Deshalb sieben und nicht zehn, weil es einseitig negativ ist . Deshalb sieben und nicht weniger, weil das Buch einen großen Tiefgang von Ideen und Weisheit mitbringt. Und das macht es so wertvoll und gleicht den Pessimismus wieder aus... .

Übrigens passt mein Fontane Zitat, s. u.,  doch wirklich zu dem Buch.


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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)


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Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

Gelesene Bücher 2012: 41

Gelesene Bücher 2011: 86

Sonntag, 10. Juni 2012

Elias Canetti / Die Blendung (5)

Fünfte Buchbesprechung zur o. g. Lektüre



ISBN-10: 3596512255

In den folgenden Kapiteln passiert recht viel, und wo sich sämtliche Romanfiguren vermischen, trifft sich alles gleichzeitig auf einer Bühne.

Der Autor geht auf sehr viele Themen ein, die ich des Umfanges wegen nicht alle aufgreifen kann, auch ist mir vieles recht rätselhaft noch geblieben. Ich habe etwas recherchiert zu seiner Biografie und konnte herausfinden, dass der Autor recht viele Studien über das Massenvolk betrieben hat, und über deren Verhalten. Die Masse als Institution, wie z.B. Kirche, Politik, Schulen... , und die Massen als Volk. Seinen Studienergebnissen zufolge ist wahrscheinlich dieses und andere seiner Bücher zu verdanken. Die Studienergebnissen waren wohl Anlass dazu, sich der Gesellschaft gegenüber abfällig und verachtend zu äußern, und den Protagonisten in eine gewisse Flucht von der Gesellschaft in sich selbst und in den Theorien trieb. 

Des weiteren konnte ich herausfinden, dass er seinen Vater recht früh verlor, im Alter von etwa acht Jahren, und der Vaterverlust dazu führte, dass er zu seiner Mutter eine recht enge und eifersüchtige Beziehung aufbaute. Die Mutter war sehr stark dem Theater und der Literatur zugewandt und galt aber als recht eitel und arrogant. Doch auch dies, so finde ich, drückt sich in seinem Werk aus... . Die Mutter als die erste Frau in seinem Leben prägt wohl alle weiteren Beziehungen zu Frauen. Das Frauenbild in dem Buch ist recht verachtend und niederschmetternd. Des Weiteren setzte er sich auch mit der Arbeiterklasse auseinander, was sich hier ebenso deutlich widerspiegelt.

Folgende Themen werden in dem Buch behandelt:

  1. Gesellschaftliches Verhalten / Massenverhalten / Volksverdummung, angelehnt an psychologischen Studien
  2. Abwertendes Frauenbild, (Eitelkeit, Naivität, Einfachheit, Abhängigkeit, Eifersucht, Stolz, geltungsbedürftig, Hurerei, Dummheit, Analphabetismus symbolisch, Intrigantin, Selbstsucht…) 
  3. Klassische Männerprobleme aus der Sicht des Autors (Männer, die sich ausschließlich mit der Wissenschaft beschäftigen, Sinologie, Schach, Distanz, Diplomatie.)
  4. Christentum und Judentum, Antisemitismus
  5. Götter aus der griechischen Mythologie
  6. Themen aus der Psychiatrie ( Wahn, Halluzinationen, Selbstsucht, Nähe- Distanzproblematik, Autoaggressionen - (der Prof. ritzt sich in einer Szene selbst)... .

Weiter geht's mit der Buchbesprechung, angelehnt an verschiedenen Stationen in dem Buch. Über die unterschiedlichen Figuren habe ich mir gestern Abend noch einmal Gedanken gemacht und ich glaube, dass diese nichts anderes als innere Stimmen sind, die der Autor personifiziert wiedergibt. Diese inneren  Stimmen, so empfinde ich das, rühren aus dem Bereich des Gewissens. Für mich tritt hier das Gewissen als eine innere, höhere Instanz auf, in dem alle Gedanken, Widersprüche, Widrigkeiten, Nöte, u.v.m. sich in verschiedenen Gesichtern und Fassaden zeigen. Die höhere Instanz stellt  für mich auch das innere Gericht dar, in dem alles Gute und alles Schlechte gegeneinander aufgewogen wird.

Fischerle, der Zwerg, ist eine Figur, wenn man sie mit dem Professor vergleicht, recht lebenserfahren, was bei dem Professor völlig zu kurz gekommen ist. Und dadurch, dass der Zwerg eine kleine Figur ist, und ein Abbild des Professors, soll verdeutlichen, dass er im praktischen Leben eher mickrig  und ein kleiner Zwerg geblieben ist, ein Kobold, eine Witzfigur.. . 
Kien sah ein, dass Fischerle just das besaß, was ihm fehlte, Kenntnis des praktischen Lebens bis in seine letzten Verzweigungen.
Die Bekanntschaft mit diesem Zwerg ist notwendig, damit sich der Professor mit ihm  widerspiegeln kann, um dadurch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, die wiederum bewirken sollen, sein Leben in diesem Bereich zu verändern. Der Zwerg ist letztendlich nichts anderes als ein Teil in ihm, das klein und bucklig geblieben ist, weil dieser Teil nicht ausgelebt wurde.
Der Buckel steht für die Last unbewältigter Probleme, die der Zwerg als letzte Konsequenz auf seinem Rücken tragen muss, und ihn beutelt.
Dadurch gilt der Zwerg als ein Krüppel. Er  sehnt sich danach, den Buckel wieder loszuwerden, und erfährt dabei, dass Kiens Bruder als ein hoch angesehener Psychiater in Paris praktiziert, doch Kien nimmt ihm die Hoffnung, und weist ihn noch einmal darauf hin, dass sein Bruder kein Chirurg sei, der ihm den Buckel wegschneiden könnte. Der Zwerg möchte trotzdem zu seinem Bruder in die Behandlung. Bleibt spannend, welche Heilung der Zwerg erfahren wird.

Weiter geht's mit dem Professor, der plötzlich erfahren hat, dass seine Frau Therese  verstorben sei. Ein merkwürdiger Tod, ein merkwürdiges Hinraffen:
Jeden Tod zog er einem unwürdigen Leben vor. Sie, von ihrer Gier nach einem Testament in den Wahnsinn getrieben, fraß sich selbst Stück für Stück auf. Bis zu ihrem letzten Augenblick sah sie das Testament vor sich. In Fetzen riss sie das Fleisch von ihrem Leib herunter, diese Hyäne, sie lebte von ihrem Leib in den Mund, sie aß das blutige Fleisch, bevor es gar war, wie hätte sie es zubereiten  sollen, dann starb sie als Skelett, der Rock lag steif  auf die leeren Knochen, er sah aus, als hätte ihn ein Sturm gebläht.
Therese zeigte Ähnlichkeit im Verhalten mit der Frau des Fischerles. So gierig wie sie nach dem Testament war, so gierig war Fischerles Frau nach einem Buch. Ich komme später noch einmal darauf zu sprechen. Es gibt es ja auch einen Staat, der Theresianum genannt wird. Auch kein Zufall, so denke ich, mir aber noch zu früh erscheint, über diesen Staat zu sprechen.

Fischerle zeigt sich noch immer recht wohlwollend und besorgt um Kiens Bücher. Gerade jetzt, wo seine Frau Therese gestorben ist, könne man unmöglich seine Bibliothek in seiner Wohnung sich selbst überlassen:
Kien selbst fühlt sich auch nicht mehr so glücklich, seit seine Frau gestorben ist, obwohl er nun das bekommen hat, was er schon immer wollte, Therese ist für alle Zeiten aus seinem Leben verschwunden. Das glaubt man erst, aber so wirklich ist das noch nicht, symbolisch gedacht und komme zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal darauf zu sprechen.
Fischerles Worte mahnten ihn an die Gefahr, in der seine Bibliothek schwebte. Alles zog ihn dorthin zurück, ihre Not, seine Pflicht, seine Arbeit. (…) Doch zu Hause stand ihm die sichere Verhaftung bevor. Es galt den Tatsachen klar ins Gesicht zu sehen. Er war an  Thereses Tod mitschuldig. Sie trug die Hauptschuld, aber er hatte sie eingesperrt. Gesetzlich war er verpflichtet, sie in eine Irrenanstalt zu geben. Er dankte Gott, dass er den Gesetzen nicht gefolgt war. In einer Irrenanstalt wäre sie heute noch am Leben. Er hatte sie zum Tod verurteilt, der Hunger und die Gier hatten dieses Urteil an ihr vollstreckt.
An dieser Stelle taucht nun das Gericht auf, von dem ich oben berichtet habe. Erst fühlt er sich schuldig, dass er sie in den Tod getrieben hat, aber ist das so? Und andererseits ist er wiederum froh, dass er den Gesetzen nicht gefolgt ist, denn sonst wäre sie ja noch am Leben. Diese innere Zerrissenheit und Widersprüche, mit denen sich nicht nur Kien zu plagen hat, sondern gar zu jeder Mensch, kommen auch in den späteren Kapiteln immer wieder deutlicher herüber.

Ich kürze nun etwas ab: Es kommt tatsächlich zu einem Gerichtsprozess und der Prozessgegenstand jener ist, ob der Professor Schuld an Thereses Tod hat. Als Zeugen treten alle Romanfiguren auf, ebenso seine verstorbene Frau. Es stellte sich heraus, dass die Frau einsam und verlassen war, und es die Einsamkeit war, die sie in die Gier trieb, in den Wahn, und von ihr letztendlich aufgefressen und getötet wurde. Doch wer war schuld an dieser Einsamkeit? Es werden noch mehrere Fragen gestellt, es gibt (noch) keine eindeutige Antwort von seiten der Richter.
Doch Kien fühlt sich von seiner Frau verfolgt, fängt an zu halluzinieren, glaubt nicht mehr, dass sie tot ist, sucht Hilfe, die beweisen soll, dass Therese tatsächlich tot ist. Vor Gericht äußerte er sich folgendermaßen:
Das offene Fleisch, wie sie es in Fetzen vom Körper riss, stank bis zum Himmel. Die Verwesung begann bei lebendigem Leibe. Das geschah in meiner Bibliothek, in Gegenwart von Büchern. Ich werde die Wohnung reinigen lassen. Sie kürzte diesen Prozess durch keinen Selbstmord ab. Nichts Heiliges war an ihr, sie war sehr grausam. Für Bücher heuchelte sie Liebe, solange sie ein Testament von mir erwartete. Tag und Nacht sprach sie von einem Testament. Sie pflegte mich krank und ließ mich nur am Leben, weil sie des Testaments noch nicht sicher war.
Ich möchte nun keine Partei mehr ergreifen für oder gegen Kien, denn ich bin mittlerweile überzeugt davon, dass auch Therese, seine Frau, ein Teil von ihm ist, und dass alle diese Teile, diese vielen inneren Ichs wieder zusammengeführt werden müssten, und der Protagonist wieder eins mit sich selbst wird.

So, ich mache jetzt hier erst mal Schluss. Ich habe noch einhundertfünfzig Seiten vor mir.
Aber es werden sicher noch ein oder zwei Buchbesprechungen bis zum Ende folgen.
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"Die rechte Vernunft liegt im Herzen" (Theodor Fontane)

SuB:

Dickens: Schwere Zeiten
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Remarque: Der schwarze Obelisk
Rahom: Stein der Geduld
Senger
: Kaiserhofstr. 12
Thackeray
: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

 

Gelesene Bücher 2012: 40

Samstag, 9. Juni 2012

Elias Canetti / Die Blendung (4)

Vierte Buchbesprechung zu o. g. Werk


ISBN-10: 3596512255
Weiter geht's mit der Buchbesprechung, und ich befinde mich auf der 450. Seite. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil, ein Kopf ohne Welt, ist längst abgeschlossen. Bis dahin bin ich noch gut mitgekommen, es war noch gut nachvollziehbar. 

Im zweiten Teil, kopflose Welt, da stehe ich ja selbst Kopf :D. Erst recht bin ich sehr neugierig auf den dritten Teil, Welt im Kopf. Ob sich mein Kopf bis dorthin wieder in die richtige Lage gedreht hat????

Der Erzähler hat mich getäuscht. In der letzten Buchbesprechung ging es ja darum, dass Kien von seiner Ehefrau Therese aus der Wohnung verwiesen wurde. Das klang alles recht authentisch, auch wenn es mir ein wenig unglaubwürdig erschienen, dass der  Professor mit solch einer hohen Intelligenz sich von seiner Frau hinaus werfen lässt. Aber im Leben ist alles möglich, bei den Menschen können sich sämtliche Charaktere erschließen lassen.

Der Rauswurf aus seiner Wohnung war nur inszeniert. Eigentlich wollte Kien nicht nur seine Leserin auf den Arm nehmen, sondern auch seine Frau, in erster Linie seine Frau. Er wollte sie eigentlich nur los werden, weg von ihr, und so sicher wie nur möglich. Indem er ihr die Macht übertrug, über die Wohnung und über seine Bibliothek zu verfügen, wurde er sie schließlich endgültig los. Sein Plan war es, von ihr hinausgeworfen zu werden, und hat alles so in Szene gesetzt, dass es soweit kommen musste... .

Nun beginnt eine fiktive Welt, für mich oder für den Professor, eine recht surreale Welt... . Befinde ich mich im Märchenland?, in dem ich mich schwer zurechtfinde, wobei mir die Bilder sehr gut tun, sie amüsieren mich der Kunst wegen, auch wenn das Thema im Hintergrund ein recht ernstes ist.

Der Professor speichert die neuen Bücher, die ihm in den Buchhandlungen ins Auge fassen, in seinem Hirn ab und es ist so, als würde er die Bücher kaufen, sie ins Hotelzimmer tragen, um sich eine neue Bibliothek anzulegen, und das alles im Kopf.
In den Hotels benutzt er nur Aufzüge, damit die Bücher beim Treppensteigen nicht aus den Regalen fallen, nein, nicht aus dem Kopf fallen :D. Doch als er sich in sein Hotelzimmer begibt, um die einzige Mahlzeit des Tages einzunehmen, versucht er seine Bücher surreal abzulegen, jedoch nicht auf den für ihn zu schmutzigen Teppichboden, sondern auf Packpapier, das er sich von dem Zimmermädchen bringen lässt:
So wurde es für eine zeitlang zu seiner Gewohnheit, jeden Abend neben dem Essen Packpapier zu bestellen; das alte ließ er des Morgens liegen. Die Bücher türmten sich höher und höher, aber auch wenn sie fielen, schmutzig wurden sie nicht, da alles mit Packpapier belegt war. Wenn er manchmal nachts voller Unruhe erwachte, so hatte er bestimmt ein Geräusch wie von fallenden Büchern gehört.
Eines Abends waren die Türme selbst ihm zu hoch; er besaß schon erstaunlich viele neue Bücher. Er verlangte eine Leiter. Auf die Frage, wofür er sie brauche, erwiderte er schneidend streng: " Das geht Sie nichts an!" 
Tja, selbst wenn das das Dienstmädchen wüsste, wofür Kien die Leiter braucht, sie würde ihn für verrückt halten. Ich stelle mir das Bild vor, *lach*, als der Professor die Leiter besteigt, um an die höheren Regale zu gelangen.

Seine Frau Therese beschäftigt ihn schon noch, und er ist der Meinung, dass sich ihre Habgier auf ihn, die Büchergier, übertragen hat.
Nun kommt das Märchenland; der Professor befindet sich im Idealen Himmel und lernt dort, von der Größe her, einen tückischen und buckligen Zwerg namens Fischerle kennen. Dieser Zwerg ist Schachmeister, und so wie der Professor Bücher und die Wissenschaften dazu liebt, so liebt der bucklige Zwerg das Schachspiel und auch hier die dazugehörige, komplizierte Theorie. Somit haben beide etwas Gemeinsames, während für den Professor die meisten Menschen untauglich sind, um Bücher zu lesen und um sie zu halten, so sind für den buckligen Zwerg Menschen, die kein Schach spielen, keine wirklichen Menschen, sondern alles nur Deppen... .
Fischerle wendet sich mit folgenden Fragen an den  Professor: "Spielen Sie  Schach?" Kien bedauerte sehr. 
"Ein Mensch, was ka Schach spielt, ist ka Mensch. Im Schach sitzt die Intelligenz, sag ich. Da kann einer vier Meter lang groß sein (eine Anspielung auf Kien, der recht groß ist, Anm. d.  Verf.), Schach muss er spielen, sonst ist er ein Tepp, (Tepp, statt Depp, ka statt kein..., Anm. d. Verf.). Ich kann Schach. Ich bin auch kein Tepp. Jetzt frage ich Sie; wenn Sie wollen, antworten Sie mir. Wenn Sie nicht wollen, antworten Sie nicht. Wozu hat ein Mensch den Kopf? Ich sag's Ihnen selbst, sonst  zerbrechenS` Ihnen noch den Kopf, und er wär´schad drum. Zum Schach hat er den Kopf.  
Kien erkennt sich in dem Zwerg erstaunt wieder und macht nun selbst die Erfahrung als Nichtschachspieler von einem anderen abgewertet zu werden...
Und beide haben eine Frau, und beide haben ihre Frauen nicht gut behandelt. Der Professor sieht in dem Zwerg auch hierin  einen Spiegel. 

Hier fängt es nun an, richtig kompliziert zu werden. Ich höre auf, mir viele Gedanken zu machen, ich ziehe jetzt einfach mit den Figuren nur mit.

Zwerg Fischerle beherrscht den Umgang nur mit den hölzernen Figuren, mit Menschen aus Holz, sowie der Professor nur die Menschen beherrscht, die aus Buchstaben bestehen. Dem Professor wird es bewusst, indem er gewisse kontroverse Szenen beobachtete, die zwischen den beiden Zwergen - Eheleuten mitbekommt. Auch der falsche Ton zwischen den Eheleuten, vorallem Fischerles gegenüber der  Frau, wird von Kien wahrgenommen. Fischerle, der seine Frau verbal völlig herunter macht und abwertet. Dies versetzt den Professor in Erstaunen und denkt an seine Frau zurück:
Noch nie hatte sich Kien so tief in einen Menschen eingefülht. Ihm war´s geglückt, sich von Therese zu befreien. Er hatte sie mit ihren Waffen geschlagen, sie überlistet und eingesperrt. Da saß sie nun auf einmal an seinem Tisch, forderte wie früher, geifte wie früher und hatte es, das einzige, was neu an ihr war, zu einem passenden Beruf gebracht. Doch ihr zerstörendes Treiben galt nicht ihm, ihn beachtete sie wenig, es galt dem Mann gegenüber, den die Natur durch eine traurige Etymologie ohnehin schon zum Krüppel geschlagen hatte. Kien stand tief in der Schuld dieses Menschen. Er musste etwas für ihn tun. Er achtete ihn. Wäre Fischerle nicht so fein geartet, er würde er ihm geradezu Geld anbieten. Sicher könnte er es brauchen.
Sicherlich kann der Zwerg Geld gebrauchen, die Wahrnehmung des Professors stimmt hierin überein, doch was er nicht weiß, ist, dass der Zwerg es auf seine Geldbörse mit den vielen dicken Scheinen abgesehen hat, um nach Amerika zu kommen... .  Kien nimmt  den Zwerg bei sich auf, und macht ihn zu seinem Famulus
" Kien fühlte sich verpflichtet, diesem Menschen, dem ersten, dem er in seinem Leben begegnet war, zu einer neuen und würdigen Existenz zu verhelfen. "Ich bin kein Kaufmann, ich bin Gelehrter und Bibliothekar!" sagte er und beugte sich entgegenkommend zum Zwerg hinunter. " Treten Sie in meine Dienste, und ich werde für Sie sorgen."
"Wie ein Vater", ergänzte der Kleine . "Habe ich mir gedacht. Also geh´n mir!" Er holte gewaltig aus. Kien trottete hinterher. Er suchte in Gedanken nach nach einer Arbeit für seinen neuen Schüler. Ein Freund darf nie drauf kommen, dass man ihn beschenkt. Er könnte ihm abends beim Abladen und Aufstellen der Bücher helfen.
Nicht vergessen, dass es sich hier um eine surreale Bibliothek handelt. 

Der Professor macht den Zwerg mit seiner neuen Aufgabe vertraut:
"Dann helfen Sie mir, bitte, beim Abladen der Bücher!" sagte Kien blindlinks und staunte über die eigene Kühnheit. Um alle lästigen Fragen abzuschneiden, holte ein ein Stoß aus dem Kopf hervor und reichte sie dem  Kleinen hin. Der bekam ihn mit seinen langen Armen geschickt zu fassen und sagte:" So viel! Wohin soll ich sie legen?"
" Viel?" rief Kiem ihm gekränkt." Das ist erst ein Tausenstel!"
Der Zwerg scheint dem Professor gut zu tun, noch nichts ahnend von seinen tückischen Listen, allerdings ist der nicht daran interessiert, den Zwerg zu einem Gelehrten zu machen, weil er der Meinung ist, der Zwerg sei dem nicht gewachsen genug. (Steht der Zwerg nicht für ein Sinnbild???)

Kien befand sich wieder, wie jede Nacht auch, bevor er einschlief, in China. Den besonderen Erlebnissen des Tages gemäß hatte seine Vorstellungen heute eine veränderte Form. Er sah einer Popularisierung seiner Wissenschaft ins Auge, ohne sofort aufzustocken. Er fühlte sich vom Zwerg verstanden. Er gab zu, dass man Gleichgesinnte Naturen findet. Wenn es einem gelang, diesen ein Stück Bildung, ein Stück Menschentum zu schenken, so hatte man etwas geleistet. Aller Anfang ist schwer. Auch ging es nicht an, eigenmächtig Vorschub zu leisten. Durch den täglichen Umgang mit solchen Mengen von Bildung würde der Hunger des Kleinen danach größer und größer; plötzlich würde man ihn dabei ertappen, wie er sich an ein Buch heran machte und es zu lesen versucht. Das durfte nicht sein, es wäre schädlich für ihn, er würde sich sein bisschen Geist verderben. Wie viel vertrug der arme Kerl schon? Man müsste ihn mündlich vorbereiten. Die persönliche Lektüre eilte nicht. (...).
Dieser ganze Absatz spricht mich voll an, denn hier zeigt sich der Professor auch ein wenig pädagogisch. So einfühlend kannte ich ihn bisher noch nicht. Und auch seine Weisheit, vgl.den Fettdruck oben, inspiriert mich völlig, wie an vielen anderen Textstellen auch.
Auch auf der Seite 391 findet man eine Veränderung in positiver Weise bei dem Professor vor:
Wenn Kien jemanden ansprach, verzog er keine Miene. Nur die Lippen bewegte er wie zwei scharfgeschliffene Messer. In erster Linie war es ihm um das Loskaufen der armen Bücher, in zweiter um die Besserung der Menschenbestien zu tun. In Büchern kannte er sich gut aus, in Menschen, wie er  zugeben musste, weniger. Er beschloss also, zum Menschenkenner zu werden.
Ich bin wirklich einmal gespannt, ob es ihm gelingen wird. Auf der Seite 429 bezeichnet Kien die Menschheit noch immer als Bücherschänder und als Bestien. 

Zur Abwechslung möchte ich jetzt wieder eine amüsante Textstelle wiedergeben. Es geht um die adäquate Körperhaltung des Professors, zur Schonung seiner geistigen Bibliothek, zu der sich Fischerle besorgt  zuwendet:
Auf Fischerles wiederholte Frage, ob er mit den Büchern anfangen dürfe, zuckte Kien gleichgültig die Achseln. Das Interesse für seine Privatbibliothek, die ohnehin in Sicherheit war, hatte abgenommen. Fischerle vermerkte die Änderung. Er witterte eine List, hinter die es zu kommen galt, oder eine Ritzel, durch die man ein paar kleine, aber schmerzhafte Hiebe versuchen konnte. Immer wieder erkundigte er sich nach den Büchern. Ob sie dem Herrn Bibliothekar nicht doch schon schwer fielen? Die momentane Lage sei weder der Kopf noch die Bücher gewohnt. Er wolle ja nicht reinreden, aber für die Unordnung im Kopf stehe er nicht gut. Ob man nicht wenigstens mehr Kissen verlangen solle, damit der Kopf in eine senkrechte Lage komme? Riss Kien den Kopf gar herum, so rief der Kleine mit allen Zeichen der Angst: " um Gottes willen, passen Sie auf!" Einmal sprang er sogar auf ihn zu und hielt die Hände unter sein rechtes Ohr, um Bücher aufzufangen ."Sie fallen ihnen heraus!" sagte er vorwurfsvoll.
Erkälten darf sich der Professor eigentlich auch nicht, denn in diesem Zustand droht ein großer Bücherverlust. Witzig wie Fischerle alle Anstrengungen unternimmt, diese zu retten:
Kiens Nase geriet in Fluss, und nachdem er es längere Zeit, ohne sich zu bewegen, geschehen ließ, beschloss er, aus Ordnungsliebend, gegen den großen, schweren Tropfen an der Spitze einzuschreiten. Er zog ein Taschentuch hervor und wollte sich auch gleich schnäuzen. Da stöhnte Fischerle laut auf.
" Halt, halt, warten Sie, bis ich komm!" Er riss ihm das Taschentuch aus der Hand, selber hatte er keins, näherte sich vorsichtig der Nase und fing den Tropfen wie eine kostbare Perle auf. "Wissen Sie was?", sagte er," ich bleib nicht bei Ihnen! Jetzt hätten Sie sich geschnäuzt, und die Bücher wären zur Nase herausgekommen! Wie die ausgeschaut hätten, brauchen Sie nicht zu sagen. Sie haben kein Herz für ihre Bücher! Bei so einem bleibe ich nicht!" Kien wurde sprachlos. Zumindest gab er ihm recht. (…)." Fischerle zeigt sich weiter in seiner Empörung: "Stellen Sie sich vor, ich schnäuze mich! Was würden Sie dazu sagen? Auf der Stelle entlassen würden Sie mich! Ein intelligenter Mensch benimmt sich nicht so. Fremde Bücher kaufen Sie los, und die eigenen behandeln sie wie einen Hund.
Sind das nicht schöne Textstellen? Ich finde sie so toll zu lesen... . Ich kann mir solche Bilder sehr gut vorstellen.
Aber dieses Wohlwollen des Zwerges ist keineswegs aufrichtig. Ich kann mich allerdings noch nicht in ihn hineinversetzen, weshalb ich mir ein paar Anmerkungen noch sparen werde.
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"Die rechte Vernunft liegt im Herzen". (Theodor Fontane)

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Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Remarque: Der schwarze Obelisk
Rahom: Stein der Geduld
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Thackeray: Das Buch der Snobs
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