Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre
Ein sehr politisches Buch, das die Autorin in ihrer
Autobiografie von sich gegeben hat. Sie wurde auch in einer schwierigen Zeit, in einer Zeit voller politischer
Umbrüche, geboren. Ihr Vater verstarb noch vor ihrer
Geburt. In ihrer Kindheit idealisierte sie ihren Vater. Ihre Sehnsucht danach schien schier unstillbar. Die Mutter ging
keine weitere Ehe ein. Niemand könne ihren verstorbenen Ehemann ersetzen.
Als junges Mädchen trat Stern der Hitlerjugend bei. Sie
wurde Gruppenführerin im Bund junger Mädels. Mit der Sehnsucht nach einem Vater
und nach Zugehörigkeit einer Gruppe hatte sie
sich von Hitlers Ideologien verführen lassen. Hitler verkörperte nicht nur für
sie eine Art Vaterfigur. Auch für viele Erwachsene stellte Hitler stellvertretend eine väterliche Autorität dar. Kritisches Denken war mit dieser Sehnsucht gar
nicht möglich. Viele Menschen haben schon durch den Ersten Weltkrieg viele
Verluste männlicher Art hinnehmen müssen.
Außerdem war Stern dafür noch zu jung, um das System zu durchschauen.
Hitler verliert den Krieg und die Autorin wird
desillusioniert und distanziert sich von dem Nazideutschland. Sie geht auf die andere Seite Deutschlands und wird im
Aufbau und Gründung der DDR aktiv.
Carola Stern schreibt über ihre DDR-Erfahrung, hauptsächlich
auch über die SED und über die Kontakte mit den Amerikanern aus West-Berlin,
die einen Spionage-Nachrichtendienst vertreten:
Viele bezahlten einen hohen Preis, um in die Parteielite aufgenommen zu werden. An den Zugangstoren waren abzugeben: Spontanität und Unbefangenheit. Auch die Nachdenklichkeit wurde konfisziert, ebenso die Kreativität. Freund oder Feind! Was wussten wir von Einfühlungsvermögen und Vielschichtigkeit, von dem Untergründigen und der Vielfalt menschlicher Motive?
Wer ist Carola Stern? Immerhin trägt sie einen jüdischen
Familiennamen. Im Nationalsozialismus nicht ganz ungefährlich.
Carola Stern hieß ursprünglich Erika Assmus. Und wann ist
aus Erika Assmus Carola Stern geworden?
Sie, im November 1925 geboren, kam aus Ahlberg, Wiesenburg, Potsdam, Kleinmachnov und in Berlin ist sie endgültig Carola Stern geworden. Woran erkennt man noch immer Erika? Was ist neu an Carola? Was steckt von der Assmus in der Stern und was von der Stern in der Assmus? Wie hat sich das Mädchen sein Leben vorgestellt, und was ist aus diesen Vorstellungen geworden?
An diesem Zitat wird auch der Buchtitel Doppelleben deutlich. Doch wie kam es denn nun mit dem Namen Carla
Stern?
Die Autorin, knapp dreißig Jahre alt, wurde journalistisch
tätig und in den Anfängen ihrer Tätigkeit
wollte sie in ihren Artikeln als Frau anonym
bleiben, man riet ihr zu einem Pseudonym. Damals hatte man es bei der Zeitung
schwer, sich Autorin zu nennen und so unterzeichnete sie ihre Artikel mit drei
Sternen, sonst wären ihre Zeitungsberichte von den männlichen Lesern erst gar
nicht ernst genommen worden. Aber das änderte sich.
Sie tauschte ihren weiblichen Namen gegen einen anderen weiblichen Namen ein.
Carola! Die Wahl des Vornamens fiel nicht schwer, sie drückte meine Bewunderung für die Polly Brechts Dreigroschenoper, für Carola Neher, aus. Doch wie weiter? Hilfesuchend wandte ich mich einer neben mir stehenden Institutskollegin zu. >>Na, wenn Sie bisher unter drei Sternen geschrieben haben<<, meinte diese, >>nennen Sie sich doch künftig einfach Stern!<< So geschah es: In diesem Augenblick kam Carola Stern zur Welt.
Eine Zeitlang existierten die beiden Damen friedlich nebeneinander. Doch mit der Zeit zog sich die eine zurück in einen kleinen Kreis von Verwandten und sehr alten Leuten. Erika Assmus kannte kaum noch einer. Carola Stern hingegen trieb es in das öffentliche Leben, in den Hörfunk, vor die Fernsehkamera.
Interessant fand ich, wie Carola Stern insgesamt auf Männer
wirkte. Man konnte sie sich schlecht als Mutter,
Haus- und Ehefrau vorstellen.
Ich war damals Mitte zwanzig und Fritz mein erster >fester< Freund. Die meisten Männer meinten, ich sei zu intelligent, um eine >richtige Frau zu sein.<
Ha, was würden dazu die
vielen intellektuellen Frauen sagen, wenn sie dieses Zitat lesen würden?
Intellektuelle Frauen, die trotzdem Mutter und Ehefrau geworden sind, gibt es
zuhauf. Diese merkwürdige Vorstellung kann nur von Männern
kommen.
Bei der Partnerwahl war Carola Stern eher auf ältere Männer
aus:
Vaterlose Frauen, die sich Väter halten wollen, müssen lange suchen. Oft geraten sie an altgewordene Söhne, die nach Müttern suchen. J
Auch dieses Zitat fand ich äußerst interessant. Die
Konstellation an Partnerwahl ist mir schon öfter begegnet. Aber dass
altgewordene Söhne nach Müttern suchen, das hat die Autorin sehr schön ausgedrückt. Beeindruckend, wenn beide in der
Partnerwahl ein
Elternsubstitut
suchen ...
Viele politische Themen, die die Autorin in ihrer Zeit
durchlebt hatte, erinnern mich an unsere aktuelle politische Lage, bezogen auf die Flüchtlingsproblematik. Damals
wurde das deutsche Volk als Herrenvolk gefeiert, Juden wurden diffamiert und
wir müssen aufpassen, davor warnt auch die Autorin, dass wir nicht wieder ein
neues Feindbild kreieren, wenn wir die Vorstellung entwickeln, dass alle
Menschen aus den islamischen Ländern rückständig seien, alle fundamentalistisch
geprägt, die Männer würden alle Frauen
schlecht behandeln ... In Wirklichkeit gibt es auch in diesen Ländern sehr
viele Menschen mit einer aufgeklärten, westlichen
Auffassungsgabe. Es gibt auch viele Frauen mit einem Kopftuch, die eine moderne Sichtweise pflegen und nicht alles was westlich ist, muss immer gut sein. Ich beobachte vermehrt, dass die westlichen Länder sehr unkritisch ihrer eigenen kulturellen Lebensweisen und Gewohnheiten sind, während sie anderen Kulturen mehr als kritisch gegenüberstehen. Demnach alle Flüchtlinge unter einem potenziellen terroristischen
Generalverdacht zu stellen, halte ich für sehr gefährlich.
Wir müssen nach menschlichen Verhältnissen streben, die die Menschen nicht in Versuchung bringen, sich gegen andere Menschen schäbig zu benehmen. Das gilt auf andere Weise als zur Zeit des Kalten Krieges auch für unsere Gegenwart. (…) Wer Frieden will, darf keine Feindbilder aufbauen!
Carola Stern begab sich selbst in einen Reflexionsprozess,
in dem sie sich als erwachsene Frau ihrer politischen Vergangenheit zu stellen
wusste. (Nationalsozialismus, die Idealisierung Hitlers, Kommunismus im neuen
Deutschland, DDR: Die Idealisierung eines besseren und faschistenfreien
Deutschlands … In dem Prozess zählte auch, sich der eigenen Angst zu stellen.
Das hat Carola Stern getan, wofür viele Menschen sie für ausgesprochen mutig
gehalten haben. Aber dies stellte sich als eine Lebensaufgabe dar …
Je älter ich wurde, umso häufiger kam es vor, dass mich Menschen besonders mutig und energisch nannten. Manchmal versuche ich, so einem Wohlgesonnenen zu erklären, dass meine Energie aus der Überwindung meiner Angst entsteht. Nur wer weiß, was Angst bedeutet, und versteht, sie zu beziehen, kann auch mutig sein. Darum schäme ich mich meiner Angst nicht mehr. Umsetzung von Angst in Energie, auch in Zivilcourage, bedeutet Bei Sich Sein, ist immer ein Stück Selbstverwirklichung.
Auf die heutige Problemlage müsste es lt. der Autorin
heißen:
Fürchtet euch! Vor Waffen, Krieg und Hunger! Vor Überbevölkerung, Umweltzerstörung, Arbeitslosigkeit! Vor dem Ende unserer Welt!
Carola Stern schreibt auch viel über ihre DDR-Erfahrung
hauptsächlich auch innerhalb der SED.
Viel Privates hat die Autorin nicht von sich geschrieben. Umso mehr bewundere ich ihre Gedanken,
die sie zur Freundschaft hegte.
Diese Gedanken möchte ich auch noch gerne festhalten, sie
ähneln so ein bisschen auch meinen Gedanken
dazu:
Ich hoffe sehr, dass alle Menschen, die ich gerne habe, wissen, was Freundschaft mir bedeutet. Die Liebe, hat Bertolt Brecht einmal an seine Frau Helene Weigel geschrieben, ist nur so viel wert, >>als sie Freundschaft enthält, aus der allein sie sich wiederherstellen kann<<. Das gilt auch für meine Ehe und für den Umgang mit den Menschen, die mir besonders nahe stehen. Freundschaft wärmt. Sie gewährt, was der Mensch in diesen ungewissen Zeiten, in denen vertraute Sicherheiten bröckeln, nötig braucht: Halt und Verlässlichkeit, Zuneigung und Achtung, Freiheit und Sicherheit.
Und besonders in Zeiten der Nöte wird eine Freundschaft
unter eine harte Prüfung gestellt. Nicht jeder besteht sie.
Auch Gedanken zu der Liebe zu Büchern fand ich recht schön.
Carola Stern und ihr Mann Heinz
Zöger sind große Bücherliebhaber gewesen. Auf die Frage hin, was ihr
Mann bedauern würde, wenn das Leben plötzlich zu
Ende wäre?
Ohne zu überlegen antwortete er: >>Dass die Welt voller Bücher ist-und wie wenige hat man lesen können! Für wie viele hat die Zeit nicht ausgereicht!<< Bis in seine letzten Tage blieb für ihn Lesen Leben und Leben Lesen.
Solche Leseerfahrungen schreibe ich mir auch so gerne raus,
denn sie decken sich mit meinen. Wie oft diskutieren Anne und ich darüber, ob
wir alle unsere Bücher schaffen werden zu lesen, bzw. auch die, die noch
zusätzlich angeschafft werden wollen und was mit unseren Büchern nach unserem
Ableben geschieht, bereitet gerade auch mir große Sorgen ...
Am Ende des Buches lässt uns die Autorin noch an ihren
Gedanken über das Alter und das Noch-Älter-Werden teilnehmen:
Wenn ich ob meines Alters melancholisch werde, ziehe ich aus meinem Schreibtischfach ein Blatt Papier, auf dem ich ganz genau verzeichnet habe, was Menschen selbst im hohen Alter noch geleistet haben. Bedenke, sage ich dann zu mir, Fontane schrieb mit siebenundsiebzig Effi Briest! Chagall begann mit achtzig seine Arbeit an den Chorfenstern in Mainz! Picasso und Bertrand Russell führen die Aufzählung der produktiven Neunzigjährigen an.
Mein Fazit?
Die Autorin ist aus meiner Sicht eine wichtige Zeugin des nationalsozialistischen Deutschlands und der ehemaligen DDR. Sie hat sich sehr
selbstkritisch und aufrichtig ihren Themen gestellt
und leistet damit aus meiner Sicht einen großen Beitrag zum Weltfrieden.
Die Art, wie sie sich mit ihrem Stoff
auseinandergesetzt hat, finde ich sehr mutig
und nachahmenswert. Die Autorin lebt nicht mehr, sie verstarb im Januar
2006 in Berlin und ich hoffe, dass ihre Bücher eines Tages nicht auch sterben
werden.
Carola Stern hatte ein sehr bewegtes Leben und sie hatte
durch ihre journalistische Tätigkeit viele berühmte und kritische AutorInnen
kennengelernt, wie z.B. Bert Brecht, Elias Canetti, Günter Grass, Erich Fried
u.v.m. Sie bezeichnete diese Freunde als ihre Wahlverwandte. Seelische und geistige Verbundenheit, wie auch Goethe diese
in seinem Werk Die Wahlverwandtschaft, beschrieben
hat, könne steter und solider als die Blutsverwandtschaft sein.
Man findet in ihrem Werk jede Menge Gedichte von großen
Dichtern, die sie auch persönlich kennengelernt hat. Welch ein Glück sie hatte.
Carola Stern hat nicht nur als Autorin ihre zehn Punkte
verdient, sondern auch als Mensch. Das Buch empfehle ich allen politisch
denkenden Frauen und allen Männern, die sich vor starken Frauen nicht fürchten.
_____
Wer sich im
Vertrauten verirrt
oder in der
Fremde verloren geht,
braucht nur
eine fürsprechende Seele,
um sich
gerettet zu fühlen.
(Petra
Oelker)
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