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Sonntag, 1. November 2020

Oscar Wilde / Das Gespenst von Canterville

 Klappentext  

Das Gespenst von Canterville nimmt seine Pflichten sehr ernst: Schlossbewohnern und Gästen muss zuweilen der Schlaf geraubt werden. Wozu trägt man sonst die schweren Ketten? Die Opfer müssen ja nicht gleich, wie einst Lady Stutfield, den Verstand verlieren. Als der amerikanische Gesandte Mr. Otis das englische Anwesen kauft und mit Frau und Töchtern einzieht, ist der Schlossgeist not amused. Und es kommt noch schlimmer: Der unerschütterliche Materialismus und die Respektlosigkeit der Yankees stürzen ihn in eine veritable Sinnkrise. Was tun, wenn man mit ganzer Kraft und in bewährter Qualität spukt, aber nur Gelächter erntet? Oder, noch schlimmer, von zwei vorlauten Mädchen mit Kissen beworfen wird? Noch nie, kein einziges Mal in seiner dreihundert Jahre langen Karriere, hat man das Gespenst derart beleidigt …

Autor*inporträt

Oscar Wilde, der mit vollem Namen Oscar Fingal O' Flahertie Wills Wilde hieß, wurde am 16. Oktober 1854 in Dublin geboren und ist einer der bedeutendsten irischen Schriftsteller. Als schillernde Lichtgestalt des "L'art pour l'art" wurde er im viktorianischen England u. a. für sein extravagantes Auftreten bewundert. Häufig war der Dandy auch wegen seiner skandalträchtigen Werke im Gespräch, in denen er die Prüderie der damaligen Gesellschaft vorführte. 1890 veröffentlichte Oscar Wilde seinen berühmten Roman "Das Bildnis des Dorian Gray". 1895 wurde der Familienvater wegen Unzucht und Homosexualität zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach Verbüßung dieser Strafe verließ er - verarmt und gebrochen - England und lebte bis zu seinem Tod am 30. November 1900 in Paris.

Buchdaten

·  Originaltitel : The Canterville Ghost

·  Gebundene Ausgabe : 96 Seiten

·  ISBN-13 : 978-3311270034

Eine Halloween-Lektüre

Meine Freundin Anne nahm Halloween zum Anlass, daraus ein Geister und Gespenster Leseprojekt auf Mojoreads zu starten, das am Samstag den 31.10.2020 begonnen hat und am Sonntag, den 01.11.2020 um 22:00 Uhr beendet wird. Dadurch, dass ich nicht so gerne Bücher dieses Genre lese, wollte ich dennoch mitmachen, da ich ein Geisterbuch von Oscar Wilde habe finden können, das mich zum Mitmachen angestoßen hat. Auch, weil ich dadurch unsere Lesebeziehung, Annes und meine, ein wenig festigen wollte. In dem Bücherforum Mojoreads haben sich dazu jede Menge andere Leser*innen angeschlossen. Aber jede*r mit einem anderen Werk.

Meine obige Lektüre habe ich gestern Abend ausgelesen. Aber sie hat mir nicht besonders gut gefallen. Mich hat es überhaupt nicht gegruselt. Ich fand die Erzählung auch nicht spannend. Das Beste davon war für mich der Schluss, der sehr menschlich und liebevoll zwischen den Protagonist*innen gewählt wurde.

Es hat mir sehr gefallen, dass die junge Virginia Otis, 15 Jahre alt, Mitleid mit einem bösen Geist hatte, der einst seine eigene Gattin ermordet hatte. Der Geist namens Sir Simon musste von seiner bösen Tat erlöst werden, und spukte über fünfhundert Jahre fieberhaft und unglücklich in dem Schloss Canterville herum. Virginias Familie, die aus Amerika nach England kam, kaufte dieses Schloss samt dem Geist. 

>Mylord<, antwortete der Gesandte, >ich will die ganze Einrichtung und den Geist dazu kaufen, Ich komme aus einem modernen Land, wo wir alles haben, was mit Geld zu bezahlen ist.< (2019, 6)

So richtig daran glauben konnte Mr Otis nicht, und machte sich einen Witz daraus. Doch ein immer wiederkehrender Blutfleck auf dem Boden der Bibliothek sorgte stattdessen für Verwunderung ... Nur der jungen Virginia war es möglich, den Geist ausfindig zu machen, sodass zwischen ihnen beiden eine Beziehung entstand. Durch Virginias Anteilnahme dem Geist gegenüber schaffte sie es, den Geist zu erlösen …

Dennoch gibt es ein Geheimnis zwischen Virginia und Sir Simon, das sie nicht einmal ihrem Verlobten offenbarte … Welches das ist, lest selbst.

Hier geht es zu Annes gelesene Geschichte. 

Sonntag, 11. Oktober 2020

Proust und die Frage, wer sich hinter dem Rezensenten Louis Chevreuse verbirgt?

Auf den folgenden Seiten bekommt der Pariser Roman immer mehr Kontur. 

Foto: Journalist und Schriftsteller Robert Dreyfus, 1873 - 1939
sucht Anregungen oder Tipps bei seinem Freund Georg de Lauris bezogen auf die Figuren der Guermantes. Ach, wie vertraut mir doch dieser Name Guermantes nur ist. Aber 
die Antwort bleibt aus und Proust bohrt nach. (631)

Auf der Seite 648 gibt Proust seinem Freund Georges de Lauris am Ende seines Briefes bekannt, dass sein Roman kurz vor dem Abschluss stehen würde. Ui, denke ich mir, niemals kann die Recherche schon beendet sein. Ich bin so gespannt, wie sich dieser Prozess, von dem Proust selbst noch nichts ahnt, sich entwickeln wird. 

Leben Sie wohl, lieber Georg, ich schlafe nicht mehr, ich esse nicht mehr, ich arbeite nicht mehr, gibt noch vieles andere, was ich nicht mehr tue,  und zwar schon lange nicht mehr. Trotzdem, mit ein wenig Schwung wäre mein Buch in zwei Monaten fertig, aber werde ich diese zwei Monate je haben. (Februar 1911)

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Recherche sein Lebenswerk war. Kurz vor seinem Tod hatte er sie beendet. Hier ist er erst Ende 30 und gestorben ist er mit 51 Jahren.

Doch es gab einen Brief, der mich positiv schmunzeln ließ, als einer seiner besten Freunde unter einem Pseudonym einen lobenswerten Artikel zu Prousts Übersetzung über die Bible d`Amiens geschrieben hatte. Es ist charmant zu lesen, wie verblüfft Proust war, als sich herausstellte, wer sich hinter diesen Decknamen verbarg. 

An Robert Dreyfus
8. Oktober 1910, Proust ist hier 39 Jahre alt

Ich hätte ja nichts dagegen, wenn Du mich weiterhin für scharfsinnig hieltest, aber ich muss doch der Wahrheit die Ehre geben: Nicht eine Sekunde lang habe ich vermutet, dass Du Chevreuse bist, und habe völlig naiv an Dich geschrieben, ohne zu ahnen, dass ich an Chevreuse schreibe. Besonders töricht war es, dass ich mir zwar dachte, es könne ein Pseudonym sein, dass hinter diesem Pseudonym Bonnard, Beaunier (...) stecken könnten (ein sehr elastisches Pseudonym) und dass jedes Mal, wenn man sich irrt, mir nicht einmal die bloße Möglichkeit, dass Du es sein könntest, in den Sinn kam. Es ist mir im Traum nicht eingefallen! Vielleicht weil ich, da Du schon als D. sehr nett zu mir gewesen bist, gedacht habe, damit wäre es genug für das ganze Leben und Du würdest nie wieder auf die Idee kommen, meinen Namen zu erwähnen. (...) Was Du gesagt hast, ist überaus nett, aber vor allem ist es überaus nett, dass gerade Du es gesagt hast. Gewiss, es ist schmeichelhaft, unbekannte Freunde zu haben. (...) Und dieser Chevreuse, der an der Bible d`Amiens Gefallen fand - ich habe Dich zwar gefragt, ob das nicht das Pseudonym von jemanden sei, den ich kenne, aber im Grunde habe ich doch gehofft, dass es jemand ist, den ich nicht kenne, jemand ungeheuer Talentiertes, der die Bible d`Amiens so sehr mochte, dass er es unbedingt mitteilen musste. Aber eigentlich bin ich doch nicht enttäuscht, dass dieser sympathische Chevreuse mit jemandem verschmolzen ist, dessen Beifall nur ein Beweis seiner Freundschaft ist. Ich habe dem Unbekannten nicht nachgeweint, ich habe mich lebhaft gefreut, dass es der Freund war. So preise ich Dich, liebe Dreifaltigkeit, in drei Personen, ich bin D. und Chevreuse äußerst dankbar, aber Robert Dreyfus ist mir von den dreien der Liebste. (636f) 

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust am 6. oder 7. Oktober in einem Brief seinen Freund Robert Dreyfus um Auskunft bat, wer die Person Louis Chevreuse denn sei?

Prost fragten in einen Brief an Dreyfus, den Dreyfus gerade beantwortet hatte: > Wer ist ein gewisser Monsieur Louis Chevreuse, der mich kürzlich ( ...) auf sehr liebenswürdige Weise zitiert hat, in einem äußerst interessanten Artikel über die Kathedrale von Straßburg. Ist es ein Pseudonym, ist es jemand, den ich kenne? < (638)

In den weiteren Briefen ging es wieder recht geistreich zu. Proust hat ein Theatrophon abonniert, das er allerdings wegen der schlechten Hörqualität wenig nutzen würde. Von zu Hause aus konnte er Opern und Theaterstücke verfolgen, ohne das Haus verlassen zu müssen. Mit dem Theatrophon wird nochmals deutlich, wie krank er ist, und immer wieder liest man in seinen Briefen, dass er wochenlang oder gar monatelang das Haus nicht verlassen hat.

Aber bei den Opern Wagner, die ich fast auswendig kenne, machen mir die Unzulänglichkeiten der Akustik nicht viel aus. (648)

Erstaunlich, dass er Wagners Opern zum großen Teil auswendig kennt. Er tauscht sich mit seinem Musikerfreund Reynaldo Hahn im März 1911 über verschiedene Opernstücke aus. Ich wusste nicht, dass Goethes Werther auch zu einer Oper komponiert wurde.

Und man liest viel Schmeichelhaftes. Reynaldo Hahn würde mehr Tiefgang haben als der große Wagner. Das war sicher wieder so eine Schleimerei von Proust.

Aber Proust kann auch sehr empathisch sein. Sein Freund Reynaldo Hahn hat am 09.11.1910 seinen Bruder Henri im Alter von 54 Jahren verloren, der in seiner Wohnung verstarb. Der ganze Brief an seinen Freund ist wundervoll geschrieben, ich aber nur die letzten Zeilen zitieren möchte.

Wenn ich etwas für Dich tun kann, sag es mir. Selbstlosigkeit ist ein Ablenkungsmittel für ohnmächtige Zuneigung. Was das Unglück selbst angeht, so kannst Du Dir all die Fragen denken, die ich mir stelle. Aber da ich sie nur Dir stellen will und in diesem Augenblick um nichts auf der Welt will, dass Du mir antwortest, begnüge ich mich damit, in Gedanken Deine Hand in der meinen zu halten und (nicht nur in Gedanken) mit Dir zu weinen. Dein tief trauriger Marcel Proust (642)

Puh, Proust ist nie um Worte verlegen. Er findet selbst in solchen schwierigen Momenten eines Menschen den richtigen Ausdruck, wo manch andere lieber schweigen würden.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 653 – 663.

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Proust Zitate

Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

Kennzeichen wahrer Originalität ist,
über ein nichtssagendes Thema nichts zu sagen.
(Brief an Georg de Lauris)

Es genügt, mit den Menschen zusammen zu sein, die man liebt; man kann träumen, mit ihnen sprechen, nicht mit ihnen sprechen, an sie denken, an unwesentlichere Dinge denken, in ihrer Gesellschaft ist das alles gleich. Wenn man mit den Menschen zusammen ist, die man liebt, ist es ganz gleich, ob man mit ihnen spricht oder nicht.
(Marcel Proust zitiert 
Jean de La Bruyère)


Montag, 20. Juli 2020

Der feinfühlige Marcel Proust

Foto: Pixabay
Weiter von Seite 543 bis 554. 

Es gibt eine Änderung zu unserem proustischen Leseprojekt. Anne hat angekündigt, dass sie nicht mehr mitlesen möchte, da sie genug eigene Projekte am Laufen habe. Ihr würde Proust nicht so nahestehen wie mir. Dennoch lasse ich Anne weiter im Boot, da ich ihr gerne von den Briefen berichten könne. Außerdem habe sie sich bereit erklärt, Internetrecherchen anzugehen, wenn ich z. B. außergewöhnliches Bildmaterial oder besondere Zusatztexte zu Proust suche, die ich selbst nicht finden kann. Anne ist Meisterin darin. Sie findet immer in kürzester Zeit Objekte, für die ich häufig zu blind oder zu ungeduldig bin.

Die Briefe zu lesen sind schon eine recht große Herausforderung, auch weil dazu die Antwortbriefe fehlen. Dazu noch die vielen Fußnoten, die dafür sorgen, dass der Lesefluss permanent gestört wird, ohne dass man hinterher wirklich schlauer geworden ist, weil uns einfach die Hintergründe fehlen. Aber mir liegt sehr viel daran, die Briefe weiter zu lesen, da ich zu Proust eine engere Bindung habe als Anne, da ich vieles andere von ihm schon gelesen habe. Er ist mir dadurch sehr vertraut geworden.

Deshalb werden nun die Telefonate hier nicht mehr aufgeführt. Dennoch ein großes Dankeschön an Anne, dass sie mich geduldig so lange begleitet hat. Gemeinsam macht es schon mehr Spaß, nun mache ich im Alleingang weiter, da ich Annes Entschluss durchaus akzeptieren und respektieren möchte. 

Auch für mich sind die Briefe nicht immer leicht. Anstrengend finde ich vor allem, die vielen Zitate herauszuschreiben, die ich häufig in der Überlänge als eine lästige und sehr zeitaufwendige Beschäftigung empfinde, weil ich sie nicht immer aus dem Zusammenhang reißen möchte. Daher häufig die langen Zitate, die mir die größte Mühe bereiten.

Auch wenn mir viele Briefe insgesamt auch sehr schwerfallen, sie zu lesen, weshalb ich nur zehn Seiten am Stück mir immer nur vornehmen möchte, und ich nicht abbrechen möchte, hat es noch eine andere Bewandtnis. Ich fühle mich zu Proust hingezogen und freue mich häufig auf das Wochenende, und hoffe, Neues aus seinem Leben in Erfahrung bringen zu können. Ich finde, seine Art zu schreiben einfach nur genial, und häufig genieße ich seine Ausdrucksweise, lasse sie im Stillen immer wieder in meinem Inneren langsam wie ein Stück Gourmet auf der Zunge zergehen, als wollte ich seine Gedanken essen und einverleiben. So schön und wohltuend fühlen sie sich an.

Auf den folgenden Seiten gibt es nur einen Brief, der mir ins Auge geschossen ist, bzw. der mich innerlich auch sehr ergriffen hat. Prousts weiche Art gefällt mir sehr. Immer bemüht um freundliche, warme Worte. Dieser Brief geht an Madame Geneviève Straus, aus dem ich unbedingt zitieren möchte, weil er auch für meine spätere Proust-Reise von Bedeutung sein wird. Madame Straus schickt Proust fünf leere Notizhefte, Tagebücher, die mich berührt haben, weil sie durch ihre Geste ihm Wertschätzung entgegenbringt, ihn mit ihrem Geschenk ermuntert, weiter zu schreiben, und Proust gibt immer zurück, was er von seinen Mitmenschen erhält. Aber immer in Form feingeistiger Geschenke, in denen häufig so viel Menschenliebe steckt. Nichts geht bei ihm unter. Alle Gedanken, die er von seinen Freund*innen empfängt, wirken auf mich wie Samen, die in seiner Seele jeder Zeit aufzugehen bereit sind. Es sind Spuren, die er dadurch in den Seelen seiner Mitmenschen hinterlässt.

An Geneviève Straus
Anfang Februar 1908, Proust ist hier 36,5 Jahre alt
Madame, Ihre kleinen Almanache bezaubern mich, und der Gedanke, dass sie von Ihnen kommen, macht sie so poetisch. Kurzum, ich bin entzückt und danke Ihnen von ganzem Herzen. (2016, 550)
Sind das nicht schöne, feinsinnige Zeilen?

Aus der Fußnote geht hervor, dass es sich um fünf kleine Carnets handelt, die die Freundin bei Kirby, Beard & Co. gekauft und sie ihm zu Neujahr geschenkt hatte. 
Vier davon sind heute im Besitz der Bibliothèque nationale. Das fünfte gehörte Cèleste Albaret, die bezeugte, dass Proust sie von Madame Straus erhalten hatte. (Ebd.)
Ganz klar, dass ich diese in der Nationalbibliothek in Paris aufsuchen werde.

Bei Amazon konnte ich folgendes Exemplar finden.

Hier geht es zu dem Link, aus dem der französische Klappentext hervorgeht, dass fünf kleine Tagebücher aus dem Geschenk der Madame Straus stammen würden. Außerdem ist zu entnehmen, dass sie als Notizbücher dienten, in denen Proust seine Gedanken zu seiner Recherche aufgeschrieben hat. Darüber hinaus geht noch hervor, dass Proust in der Zeit zwischen 1908 und 1910 sich darin jede Menge Sinnfragen gestellt hatte, auch, ob er z. B. aus seinen Ideen zu seiner Recherche einen Roman kreieren solle, oder eine philosophische Studie? Auch ist aus dem Text zu entnehmen, dass er sich immer wieder hinterfragt habe, ob er ein Schriftsteller sei? Jetzt wird für mich besser verständlich, dass Proust tatsächlich an sich als Schriftsteller und an seine Schreibkunst gezweifelt hatte, was ja schon in meinem letzten Beitrag angesprochen wurde, und ich ihn nicht für ernst genommen habe. Ich freue mich sehr über diese zusätzlichen Hinweise durch den Klappentext, die viel anschaulicher sind als manche Fußnote im eigentlichen Buch. Doch zu seinen Selbstzweifeln; tun das nicht alle guten Schriftsteller*innen, an sich und an ihrer Kunst zweifeln? 

Weiter geht es in dem Brief. Proust geht auf den Baulärm ein, der bei der Freundin zu Hause zu ertragen sei. Hat mich sehr gerührt, wie edel er darauf reagiert hat, wobei ich nicht sicher bin, ob er meint, was er schreibt, zumindest hat er Mitgefühl für deren Lage:
Was Sie mir über die Handwerker im Nebenhaus sagen, bringt mich zur Verzweiflung. Viel lieber wäre mir (ich versichere Ihnen, dass ich das ernst meine), wenn das neben mir wäre und Sie keinen Lärm hätten. Ich werde ständig daran denken. Ach, es ist wohl nichts zu machen. (551)
Hat Proust nicht genug Leid durch seine chronifizierte Atemwegserkrankung, die ihn zeitlebens ans Bett bindet? Trotzdem finde ich ihn sehr rührend, wie zärtlich Marcel Proust in Wirklichkeit doch sein kann.
Wollen wir uns ein Boot mieten, auf dem überhaupt kein Lärm gemacht wird und von dem aus wir alle schönen Städte der Welt am Meeresufer vorbeigleiten sehen, ohne unser Bett (unsere Betten) zu verlassen? (551)
Welch eine romantische Vorstellung, welch ein schönes Bild. In einem anderen Buch hatte ich einmal gelesen, dass Proust tatsächlich viele seiner Reisen im Bett liegend getätigt hatte.

Weiter geht es nächstes Wochenende 554 – 565.
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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

Gelesene Bücher 2020: 13
Gelesene Bücher 2019: 34
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
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Montag, 13. Juli 2020

Proust und seine Selbstzweifel als Schriftsteller

Foto: Wikipedia Public Domain
Weiter geht es von Seite 533 bis 543. 

Nach einer kleinen Proust – Pause setzen wir weiter mit den Briefen fort.

Vorher noch ein Beitrag von Anne-Marit aus den vorherigen zehn Seiten.

Annes Beitrag
Ich freue mich ja immer, wenn ich in Proust' Briefen mal auf einen mir bekannten Namen oder Titel stoße. Und hier treffe ich gleich jemanden, den ich auch selbst gelesen, gesehen und gehört habe. "Entführt - Die Abenteuer des David Balfour" habe ich als Kurzserie im TV gesehen, als Zweiteiler ("Entführt" und "Catriona") gelesen und ich liebe das Lied "Davids Song" von der Kelly Family. 

Den Stevenson empfahl Marcel Proust seiner Briefpartnerin Hélène de Caraman-Chimay in der 2. Julihälfte des Jahres 1907:
",Die Abenteuer des David Balfour' gelten, glaube ich, als ein langweiliges Werk von Stevenson. Mich hatte es bezaubert, alle diese schottischen Landschaften. - Um jetzt nach Frankreich zurückzukehren, es gibt mindestens zwei Romane von Boylesve, die sehr angenehm zu lesen sind, ,La Becquée' (wundervoll) und ,L'Enfant à la Balustrade'.  Ich kann sie nicht in einem so entschiedenen Sinn unterhaltsam nennen wie die von Stevenson, der, noch als er an Schwindsucht dahinsiechte und seine Schmerzen in einem Eisenbahnwaggon mit Laudanum betäubte, nicht aufhörte, mit unversiegbarem Genie die amüsantesten Geschichten zu erfinden, die schönsten, am wenigsten bedeutungsschweren, Geschichten um der Geschichten willen. Voll jener Lebensfreude, die er so machtvoll mitteilt und die er selbst nie gekannt hat."

Liebe Anne,
den Song von den Kellys mag ich auch ganz gerne, aber das war es dann auch schon, was ich kenne von dem, was Du aufgeschrieben hast. Aber sehr interessant.

Ich mache nun weiter ab Seite 531, woraus hervorgeht, dass die Immobilie, Haus Nr. 102, am boulevard Haussmann, verkauft wurde. Das Haus verband viele Erinnerungen mit Prousts Mutter Jeanne, in dem sie gelebt haben. Es gehörte einst dem Onkel Louis Weil, Mutters Bruder, und wurde am 08. November 1907 verkauft. Gekauft wurde es von Prousts Tante. Welche Tante, das geht aus dem Kontext leider nicht hervor.
Es gab mir einen Stich ins Herz, dass das Haus am boulevard Haussmann kürzlich verkauft worden ist, und zwar sehr schlecht. Ich habe acht Tage Zeit, ein höheres Angebot zu machen, da aber der Käufer meine Tante ist, wage ich es nicht!

Proust soll darin aber von 1907 bis 1919 gelebt haben. Wo er die letzten drei Jahre seines Lebens wohnhaft zugebracht hat, bleibt noch offen.

Leider gibt es dieses Haus heute in Wohnform nicht mehr. Es muss später nochmals verkauft worden sein, das in ein Einkaufszentrum umgebaut worden ist. Schade, dass ich dieses Jahr wegen der Corona-Pandemie meine Reise nach Paris vertagen musste. Gerne wäre ich hingereist, und ich meine proustischen Fantasien dort an Ort und Stelle hätte schweifen lassen wollen. Werde mich wohl auf das nächste Jahr gedulden müssen.

                                   
Interessant fand ich zudem folgende Briefe, die an Daniel Halévy gerichtet sind, die mir sehr sympathisch waren, wo Proust sich von seiner besten, menschlichen Seite gezeigt hat, und ich ihn für seine Ehrlichkeit bewundert habe. Dass er sagen konnte, was ihn bewegt, was ihn gekränkt hat.

An
Daniel Halévy (1872-1962)
Frz. Essayist und Historiker
Dezember 1907, hier war Proust 36 Jahre alt
Cher ami, Ich bin schrecklich leidend! – Etwas in Deinem Brief hatte mir wehgetan. Daraufhin habe ich Dir zwölf Seiten geschrieben. Und dann habe ich mich darauf besonnen, wie Du bist, habe gespürt, dass meine Auslassungen Dich sehr aufbringen würden, habe Deinen Brief dann noch einmal gelesen, ich hatte ihn falsch verstanden, ich habe meinen Brief zerrissen; aber in zwei nebensächlichen Punkten hatte ich Dir dort geantwortet, und nun muss ich von vorn anfangen!
Was das >>Sich nicht grüßen<< (Adeline und Dein Held), habe ich mich völlig in Deinen Absichten getäuscht, Du hast offenbar unterstreichen wollen, dass die tief beunruhigte Adeline zerstreut ist, sich nicht normal verhält. Also normalerweise ist sie höflich, ausgezeichnet. Bei Deinem Helden hast Du gerade zeigen wollen, dass er nicht zum Volk gehört. (Proust bezieht sich auf den Helden einer Erzählung von D. H., Anm. d. Verf.).
Auch in meinem Eindruck von mir selbst habe ich mich getäuscht. Ich könnte nicht mit Leuten aus besseren Kreisen zusammenleben, die Leute aus dem Volk nicht grüßen, aber ob die Leute aus dem Volk einander grüßen oder nicht, ist nicht dasselbe. Leute aus dem Volk können sehr liebenswürdig sein, und ob! Meine besten Freunde sind darunter, und ich weiß, über welch ausgefeilte Formen von Höflichkeit sie verfügen. (536f).
Im nächsten Brief von Dezember 1907, an denselben Empfänger, gibt Proust einen kleinen Einblick, wie es in seiner Wohnung aussehen könnte. Genauso, wie er es beschreibt, habe ich sie mir auch vorgestellt. Eine reine Junggesellen, Intellektuellen Schriftsteller-Wohnung.
Wenn Du den Schweinestall sehen würdest, der meine Wohnung ist, all die zerrissenen Papiere, den verstreuten Zucker, die Zeitungsstapel, die meine Freunde zu überklettern haben, wenn sie an das gelangen wollen, was kaum mein Bett genannt werden kann, dann hättest Du nicht gefürchtet, dass ich Deine Blätter >unsauber zusammengeklebt< finden könnte. 
Proust hatte im Figaro, Februar 1907, einen Artikel Sohnesgefühle eines Muttermörders veröffentlicht, den Daniel Halévy so gut fand, dass er den Artikel behalten wollte, indem er die Seiten aus dem Figaro ausgeschnitten und zusammengeklebt hatte. Zudem wollte er sich diese von Proust signieren zu lassen. Ein angeblich etwas unsaubere Machenschaft, weshalb Proust, um seinen Freund zu trösten, seine unordentliche und chaotische Wohnung gegenübergestellt hat. Aber es ehrt ihn auch, dass sein Artikel auf so große Bewunderung stößt. Anstelle dieser Blätter möchte Proust diese mit seinem Manuskript austauschen, es ihm signiert schenken. Nun macht er sich aber sehr klein, und ich nicht weiß, ob er es ernst meint, was er mit folgender Zeile schreibt:
Es kommt mir so vor, als würde ich es entwerten, wenn ich es signiere. Aber da Du es wünschst, werde ich es tun. Ich bin nur noch beim Suchen. (…) Mein Kammerdiener sucht überall herum und von meinem Bett aus überwache ich die Operationen. J  (…) Und nebenbei erlaube mir bitte Dir zu sagen, (…) dass ich erstaunt bin, dass ein so bemerkenswerter Bursche wie Du diesen Artikel schätzt. Ich fand ihn so schlecht, dass ich nicht signieren wollte. Ich werde Dir erzählen, was mich doch dazu gebracht hat. In meinen Augen ist das von allen Artikeln, die ich dem Figaro gegeben habe, der bei Weitem am wenigsten gute. Ich sage nicht, dass er nicht ziemlich wahre Gedanken enthält. Sie gehören so sehr meinem Denken an, dass sie möglicherweise für mich eine Art Banalität haben, die sie für einen anderen nicht haben. Aber dennoch, ich habe sie hier geäußert wie in einem Gespräch, schlecht formuliert, kalt, demaklatorisch. Anderswo, in anderen Artikeln, ist es mir manchmal – nicht oft – gelungen, meine Gedanken mit Wörtern zu tränken, sie damit zu füllen, zu färben, das ist keinem aufgefallen. Ich bin erstaunt, dass man von dem geäußerten Intellekt berührt werden kann, wo er doch nur der verborgene, wenngleich notwendige Träger eines Werks sein sollte, in dem er nicht in Erscheinung tritt. (539f)
Mir hat diese Textstelle sehr gut gefallen, wenn sie auf mich auch zwischen den Zeilen ein wenig selbstliebend klingt. Er selbst schreibt von sich:
Du machst mich ganz überheblich, und indem Du mich durch Deine Sendung zwingst, (…) wage ich kaum Dich zu fragen – so lächerlich scheint es mir -, ob ein Manuskript von mir (falls ich es wiederfinde!) Dir Freude mache würde. Indem ich das sage, spüre ich schon, wie grotesk es ist, gib Dir bitte nicht einmal die Mühe nein zu sagen, es ist zu offensichtlich. Aber eben, weil ich nie daran gedacht hatte, dass man etwas von mir aufbewahren könnte, bin ich es weder gewohnt noch habe ich ein Gespür dafür, was von mir wirklich interessiert. (540)
Eigentlich will er doch hören, wie wichtig dem Freund seine Texte nur sind.
Aber es ist nicht nur sein Freund Daniel, auch von Geneviève Straus musste er sich eine Bestätigung einholen, denn sie hatte in einem Brief vom Dezember 1907 Proust ermuntert, weiterhin Texte für den Figaro zu schreiben.
Sie sind zu liebenswürdig, wenn Sie mich zum Schreiben auffordern. Eine willkommene Abwechslung zu denjenigen, die sich unendlich viel Mühe geben, nicht mit mir über meine Artikel zu sprechen und nicht den Anschein zu erwecken, sie täten es absichtlich nicht, weil sie Angst haben, mich zu kränken, wenn sie mir gestehen würden, dass sie sie idiotisch finden, und weil sie ihren Worten und der Aufrichtigkeit eine so törichte Bedeutung beimessen, dass sie mir nicht aus bloßer Gefälligkeit gratulieren wollen. (541)
Was war vorgefallen? Hatte er geklagt, sodass er von außen immer wieder hören musste, wie gut er schreiben kann? Ist es die Eigenliebe gewesen, oder ist sein Selbstvertrauen eher im Keller abgedriftet? Ich glaube eher, das erstere wäre der Fall. Proust hatte genug Selbstvertrauen, um seinen Weg als Schriftsteller ungebeugt gehen zu können.

Weiter geht es nächstes Wochenende von 544 – 554.
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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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Montag, 4. Mai 2020

Mein ausgefüllter Marcel Proust-Fragebogen

Foto: Pixabay
Nun habe ich online zufälligerweise zum selber ausfüllen ein Proust-Fragebogen gefunden, obwohl ich etwas ganz anderes gesucht habe. Proust hatte den Fragebogen nicht selbst entworfen, aber er soll ihn angeblich zwei Mal in seinem Leben bearbeitet haben, weshalb der Bogen seinen Namen trägt. Anne hatte sich die Mühe gemacht, den Fragebogen im Netz zu finden, den Proust selbst ausgefüllt hat. Ich bin am überlegen, ob ich ihn auf meinem Blog zu Proust hineinstellen soll, aber da er so fehlerhaft übersetzt ist, als wäre der Fragebogen durch ein elektronisches Übersetzungsprogramm geschleust worden, zögere ich damit noch. Aber die Antworten sind sinngemäß für Proust-Kenner verständlich, dennoch kann ich mich dazu noch nicht entschließen ... 
Die Fragen auf meinem Proust-Bogen, den ich hier bearbeitet habe, habe ich online übernommen, der an unsere Zeit angepasst ist, wobei es davon unterschiedliche Fragebögen gibt. Ich selbst habe mich für den Fragebogen entschieden, der Prousts Fragebogen am Ähnlichsten ist. 

Aber hier ist der Link, der zu Prousts ausgefülltem Fragebogen führt.

Marcel Proust ( 1871 – 1922 ), französischer Schriftsteller, u. a. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“

Und im Folgenden meine Antworten zu den Proust-Fragen.

Was ist für Sie das größte Unglück?
Das Schlachten, Quälen und Töten von Tieren, Weltkriege, Bürgerkriege, die absolute Armut und die Apokalypse.

Wo möchten Sie leben?
Ich würde gerne in einem Land leben, in dem anstelle einer autoritären, erzieherischen, eine menschen- und tierfreundliche Politik herrscht. 

Eine Regierung, in der alle Menschen die gleichen Rechte bekommen. Alle Menschen heißt; reiche, arme, gesunde, junge, alte, kranke und  Menschen aller Hautfarben und allen Geschlechts. Minderheiten würde es in einer Staatsform wie dieser nicht mehr geben, da jeder Mensch für sich gesehen eine Minderheit ist, und er sich dennoch in einer Gesellschaft einzubinden weiß, da sie von Vielfalt und nicht von Anpassung und Assimilierung getragen sein würde. 

Für die Tiere: Artgerechte Haltung und Verzicht auf Tötung und Verzehr.

Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück?
Wenn kein Lebewesen mehr ein anderes Lebewesen töten muss, um zu existieren. Wenn sich Menschen und Tiere friedlich den Planeten teilen. Wenn kein Blut mehr durch bewusste Gewalteinwirkung vergossen wird.

Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten?
Fehler, die nicht böswillig begangen wurden, bzw. die sich und anderen nicht schaden.

Ihre liebsten Romanhelden?
Frodo Beutlin aus Herr der Ringe.
Sergej der Bienenzüchter aus Graue Bienen von Andrej Kurkow.

Ihre Lieblingshelden in der Geschichte?
Maria Montessorie, Albert Schweitzer, Rudolf Steiner, Bertold Brecht, Nelson Mandela, Mahatma Gandhi.

Ihre Lieblingshelden in der Gegenwart?
Das sind alles Menschen, die sich für eine bessere Welt für Tier und / oder Mensch einsetzen. Malala Yousafzai, Greta Thunberg, Temple Grandin und alle Autor*innen, die den Mut haben, sich öffentlich zur Tierkommunikation zu bekennen und darüber zu schreiben.

Ihre Lieblingshelden in der Dichtung?
Goethe-Faust, erster Teil, fand ich toll, und hat auch mein Leben nachhaltig geprägt. Diese vielen Sinnfragen und die Glaubenssuche habe ich selbst auch durchlebt.
Aber auch Mutter Courage von Bert Brecht hat mich geprägt. 

Ihr Lieblingsmaler?
Alle Surrealisten.

Ihr Lieblingskomponist?
Ich mag alle Arten von ruhiger und besinnlicher Musik. Es ist wie mit den Büchern. Man kann sich auch in der Musik nicht einschränken. 

Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einem Mann am meisten?
Ein Mix zwischen Empathie und Denkvermögen.

Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten?
Ein Mix zwischen Empathie und Denkvermögen.

Ihre Lieblingstugend?
Psychische und geistige Strebsamkeit, damit selbst im hohen Alter noch eine persönliche, seelische und geistige Weiterentwicklung stattfinden kann.

Ihre Lieblingsbeschäftigung?
Lesen, Schreiben, Musizieren.

Wer oder was hätten Sie sein mögen?
Ich hatte immer das Ideal, ich selbst zu werden, was sich als eine der schwierigsten Aufgabe erwies, da sich in meinem Werden in frühen Jahren zu viele Erwachsene eingemischt hatten. „Wer bin ich?“ Diese Frage bin ich dadurch nie wirklich losgeworden. Für viele eine dumme Frage, wenn sie die Ichwerdung hauptsächlich aus den Genen ableiten, für andere dagegen genau das Gegenteil.

Ihr Hauptcharakterzug?
Feinfühlig, nachdenklich und reflektiert.

Was schätzen Sie bei Ihren Freunden am meisten?
Sozialkritisches / politisches Denken und Handeln, Menschlichkeit, Toleranz, Hilfsbereitschaft, bei manchen die Freude an Literatur. Ausgiebige literarische Gespräche.

Ihr größter Fehler?
Dass ich immer andere bewundere, und nie mich selbst. Damit habe ich mir auch meine Schreibkarriere zerstört, weil ich heimlich immer den Schreibstil anderer bewundert habe.

Ihr Traum vom Glück?
Ich könnte jetzt schreiben, was die meisten darauf antworten würden; sechs Richtige im Lotto wären mein Traum vom Glück, aber da ich kein Lotto spiele, kann ich auch nicht gewinnen. Allerdings sind für mich die Lottospieler*innen die größten Optimist*innen, die es gibt. Nein, ganz im Ernst. Ich sehne mich weltweit nach einer  tiergerechteren und humaneren Welt. Aber wenn ich die Milliarden hätte, die man im Jackpot so gewinnen kann, dann würde ich einiges von dem Batzen Geld dem Tierschutz spenden und mir selbst einen Gnadenhof leisten. Ich würde viele Tiere freikaufen. Für mich alleine wollte ich das Geld nicht, materielle Güter anhäufen, das würde mich träge stimmen, und mich in eine Sinnkrise stürzen. Allerdings kann man auch im Kleinen viel bewirken, leider nur keine Schlachthäuser auflösen.

Was wäre für Sie das größte Unglück?
Wenn Raffgier die Natur und Tiere zerstört und damit auch die eigene Spezies.

Was möchten Sie sein?
Bescheiden, glücklich und zufrieden bis zum Tod.

Ihre Lieblingsfarbe?
Blau.

Ihre Lieblingsblume?
Alle weißen Blumen.

Ihr Lieblingsvogel?
Möwe.

Ihr Lieblingsschriftsteller?
In meinem Alter sind das jede Menge, siehe Blog, Label Leseprojekte Autor*innen. Dort sind alle meine Lieblinge gelistet.
Aber eine kleine literarische Struktur aus meinen ersten Lebensjahren kann ich hier angeben: In meiner Kindheit waren es Astrid Lindgren und Erich Kästner, in meiner Jugend Charles Dickens, im jungen erwachsenen Alter Hermann Hesse und Franz Kafka, und später Carson McCullers und derzeit liebe ich Marcel Proust ganz besonders.

Ihr Lieblingslyriker?
Erich Kästner.

Ihre Helden in der Wirklichkeit?
Das sind alles Menschen, die über den eigenen Tellerrand schauen können, tolerant sind und sich für eine bessere Welt einsetzen.

Ihre Heldinnen in der Geschichte?
Sophie Scholl. Virginia Woolf. Die Austern-Schwestern.

Ihr Lieblingsname?
Momo.

Was verabscheuen Sie am meisten?
Aktive und passive Gewalt, Rassismus, Stereotypen, Vorurteile, Ungerechtigkeiten, Respektlosigkeit, Engstirnigkeit, Überheblichkeit, Empathielosigkeit, Gedankenlosigkeit. Ich verabscheue vor allem auch narzisstisch geprägte, egomane Menschen, die durch ihr Machtstreben in der Politik oder in anderen Institutionen in sich selbst verliebt sind, gezwungen sind, sich permanent zu produzieren- und zeigen müssen, was sie können, und häufig auf andere herabschauen müssen, innerlich aber in Wirklichkeit ganz mickrig sind, und nicht merken, dass sie leicht zu durchschauen sind. Und Menschen, die nur an eine Wahrheit glauben. Außerdem verabscheue ich einseitige und undifferenzierte Presse, die gerne immer wieder dieselben Themen aus dem Ausland bringen und aufbauschen, während die nordischen Länder verschont bleiben. 

Welche geschichtlichen Gestalten verachten Sie am meisten?
Weltweit alles Politiker bzw. Diktatoren, die anderen Menschen und Tieren geschadet haben.

Welche militärischen Leistungen bewundern Sie am meisten?
Überhaupt keine.

Welche Reform bewundern Sie am meisten?
Die Einführung von Menschen- und Frauenrechten. Kinderrechte miteingeschlossen. Aber ich bewundere angebl. unbedeutende Leute vor unserer Zeit, als es diese Reformen noch gar nicht gab, sie trotzdem aus sich heraus auf die Rechte von Menschen, Kindern und Tieren geachtet haben.

Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen?
Da ich praktisch sehr ungeschickt bin, könnte ich mehr praktische Gaben benötigen.

Wie möchten Sie sterben?
Friedlich, den Tod annehmend, bereit sein zu gehen. Neugierig auf den Tod sein. Ich schaue mir das Sterben von meinen Haustieren ab.
Ars Moriendi. 

Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?
Tiefsinnig; nachdenklich und mitfühlend. Auch gehe ich einer Sache gerne auf den Grund.

Ihr Motto?
Ganz nach Charles Dickens: Jeder sollte die Welt mit seinem Leben ein kleinwenig besser machen.

________________
Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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Samstag, 2. Mai 2020

Umzugsvorbereitungen

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit Prousts Briefen von Seite 482 - 502 

Umzugsplanung von der 45 rue de Courcelles, in die rue 102 Boulevard Haussmann, Paris.
Proust steckt im November und Dezember 1906 noch immer mitten in den Umzugsvorbereitungen.

Ich bin sehr neugierig, wie Proust das Leben in der neuen Wohnung bewältigen wird, da vor den Fenstern sehr viele Bäume stehen, und er als Pollenallergiker damit gesundheitliche Probleme bekommen müsste. Er hat diese Wohnung nur genommen, weil er hier als Untermieter einziehen konnte, die Miete dadurch nicht überteuert ist, und weil sie ihn an seine Mutter erinnern würde. Laut Internetrecherche wird Proust in der neuen Wohnung zwölf Jahre zubringen, bevor er ein weiteres und letztes Mal seines Lebens umziehen wird. Jede Menge Vorbereitungsarbeiten müssen zuvor bewältigt werden, vor allem die Last mit den vielen Möbeln der Eltern bleibt nicht aus, womit sich Proust überfordert fühlt. Einige Möbel landen ins Möbellager, da auch der Bruder Robert daran nur wenig Interesse zeigt, wobei Robert mit seiner neugeborenen kranken Tochter derzeit genug Probleme hat.

An Marie-Marguerite Catusse
Anfang November 1906
… ich hatte Robert gesagt, er solle wegen mir keine Vorsichtsmaßnahmen wegen der Ansteckungsgefahr treffen, man achtet nicht auf die Krankheiten seiner Angehörigen, außer um sich Sorgen zu machen (und es sorgt mich sehr, dass dieses Kind, in dem, wie ich mir gern vorstelle, vielleicht etwas von Mama und Papa überlebt, sein Leben so traurig beginnt).

Da kann man nur hoffen, dass die Kleine keinen proustischen Gendefekt hat, siehe am Ende der Besprechung.
… und die blauen Möbel meines Schlafzimmers kommen ins Möbellager (aber erst nach dem Versuch, mein Schlafzimmer zu bewohnen). Vorerst bleibt mein Schlafzimmer mein Schlafzimmer und nimmt alle meine blauen Möbel auf. (484f)

Viele Erinnerungen lösen diese Umzugsvorbereitungen aus. Weiter schreibt er:
Ich werde alle Photographien behalten, um eine Auswahl zu treffen, denn ich will, dass meine Großeltern und sogar ihre Eltern, die ich nicht gekannt habe, die Mama aber geliebt hat, in meiner Nähe sind. (486)

Diese Umzugsaktion verarbeitet Proust auch in seiner Recherche Die Gefangene, wie aus der Fußnote zu entnehmen ist. Schade, dass ich die Briefe nicht vor der Recherche gelesen habe. Wenn man das alles nur vorher wüsste, hätte man sich anders richten können, wobei die Briefe im Suhrkamp Verlag erst 2016 herausgebracht wurden. Prousts Recherche hatte ich einige Jahre vorher schon gelesen. 
Ich hatte niemals wie (Bloch) versucht, meine Wohnung künstlerisch zu möblieren, Innenräume zu komponieren; dazu war ich zu träge und zu gleichgültig gegenüber dem, was ich alle Tage zu sehen gewohnt war. Da mein Geschmack keinen Anstoß daran nahm, hatte ich das Recht, die Ausstattung meines Zimmers unverändert zu lassen. (487)

Wobei ich diese Gleichgültigkeit keineswegs in Prousts Umzug nachempfinden kann. Irgendwie kommt er mir richtig alleine vor, was die Verteilung der elterlichen Möbel betrifft.
Nach Mamas Tod wollte ich eine Wohnung zu 1500 Francs mieten. Aber da Robert keinerlei Möbel übernehmen wollte, war ich gezwungen, teure und größere Wohnungen zu suchen, nicht ohne ihm deutlich gemacht zu haben, wie unangenehm mir das war. Er meinte, ich bräuchte das Überfüllige nur verkaufen. Da ich das nicht wollte, habe ich meine Ausgaben, , meine Anlagen, mein Leben anders eingerichtet, und der boulevard Haussmann, für den ich mich aus den emotionalen Gründen entschieden habe, die ich ihnen nannte, ist sogar klein gemessen an dem, was ich gesucht habe. Diese Möbelfrage ist über hundertmal besprochen, und alles, was ich bei Robert erreichen konnte, ist, dass er die Hälfte der Tapisserien und Papas Schreibtisch übernimmt.

Da Robert im Gegensatz zum Bruder seine eine eigene Familie und einen eigenen Hausstand gegründet hat, hat er wahrscheinlich selbst keinen Platz mehr, ein Teil Möbel seiner Eltern bei sich unterzubringen. Robert rät dem Bruder weiter mit folgenden Tipps:
 >Füll den boulevard Haussmann so gut du kannst, was nicht hineinkann, lagere es ein, später sehen wir weiter.<
 
Dazu schreibt Proust weiter Madame Catusse, die ihm beim Umzug wohl behilflich ist:
Worauf ich geantwortet habe, dass ich das Beste in die Wohnung stecken werde, und das habe ich Sie zu tun gebeten, und seit dem gestrigen Zwischenfall bitte ich Sie noch mehr darum. Statten wir den Haussmann nur mit erlesenen Dingen aus. Lagern wir alles ein, was nur mittelmäßig ist. So wird viel gerettet werden.

Auch wenn ich nicht weiß, wann durch die Corona–Krise Reisen wieder erlaubt sein wird, aber ich freue mich wahnsinnig darauf, die Häuser aufzusuchen, in denen Proust und seine Familie gewohnt haben. Aber soviel ich weiß, wird man die Möbel nicht besichtigen können, da sie nicht mehr vorhanden sind. Nur ein Bett von Proust wäre in einem Museum aufgestellt.

Telefongespräch mit Anne
Wir haben uns dieses Mal nicht so ausführlich ausgetauscht. Wir haben uns ein Zitat näher angeschaut, bei dem ich vergessen hatte, die Fußnote zu lesen. Prousts Nichte, die erst sehr kurz auf der Welt war, war laut der Fußnote nicht an Diphtherie erkrankt, sondern an Angina. Mir kam daraufhin der Gedanke und die Hoffnung, dass die Kleine nicht die Lungenkrankheit ihres Onkels vererbt bekommen hat. Das werden wir wahrscheinlich aber nicht erfahren, da Proust in den Briefen, die im Buch abgedruckt sind, selten über seinen Bruder und dessen Familie schreibt.

Proust hat nicht nur Geschichten geschrieben, sondern auch Bücher rezensiert. Darüber wurde schon in den Briefen zuvor geschrieben, aber irgendwie hatte ich sie nicht ernstgenommen. Ich hatte mich damals gefragt, ob sich Proust tatsächlich mit Buchbesprechungen abgibt? Ja, das tut er. Nach x-tem Male nachlesen, ist diese Tätigkeit nun auch bei mir angekommen, weshalb ich es hier nun endlich erwähnen möchte.

Außerdem finden wieder jede Menge literarische Gespräche statt, auch entnimmt man, dass Proust noch immer Schreibverbot hat, er sich weitest möglich daran halten möchte, was verständlicherweise nicht immer gelingt. Proust das Schreiben zu verbieten, ist, wenn man einem Pianisten verbieten würde, Klavier zu spielen.

Ausgelöst durch die Werke von John Truskin, britischer Kunsthistoriker und Sozialkritiker, kommt Proust ins Schwelgen.

An
Marie-Marguerite Catusse
Mitte Dezember 1906
Wenn ich reich wäre, würde ich nicht Meisterwerke zu kaufen suchen, die würde ich den Museen überlassen, sondern Bilder, in denen der Duft einer Stadt oder die Feuchtigkeit einer Kirche weiterlebt und die wie Trödelkram so viele Träume auslösen, wie sie in sich selbst enthalten.

John Ruskin scheint Proust nicht mehr loszulassen. Obwohl er sich mit der Übersetzung schon so schwer getan hat, bekommt er wiederholt den Auftrag, eine deutschsprachige Ausgabe zu rezensieren.

An Auguste Marguillier
Februar 1907
Ich habe das Buch von Madame Broicher soeben erhalten, gestehe Ihnen aber, dass mein Deutsch sehr schlecht ist und dass es sehr schwierig werden wird. Als meine arme Mama noch da war, nannte sie mir alle Wörter, die ich nicht wusste (es waren viele!), da sie sehr gut Deutsch konnte – wie übrigens auch alles andere. Wenn Sie also einen Mitarbeiter hätten, dem es leichter fiele, würde ich es gerne auf ihn abwälzen. Wenn Sie hingegen niemanden bei der Hand haben, werde ich mich mit einem Wörterbuch bewaffnen und dieses Werk lesen. (501)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass es sich hierbei um den zweiten und dritten Band von John Ruskin und sein Werk handelt. Essays von Charlotte Broicher, Jena 1907. (Proust hatte den (1902 erschienenen) ersten Band in der Chronique des Arts et de la Curiosité von 2. Januar 1904 besprochen. (502)

Erstaunlich dass Proust, obwohl er von seinen Kompetenzen her an seine Grenzen stößt, dennoch den Auftrag nicht absolut ablehnen kann. Sich mit einem Wörterbuch zu bewaffnen, das fand ich wieder so schön ausgedrückt, reicht eigentlich nicht, denn jeder weiß, der nur etwas von Fremdsprachen versteht, dass man mit einem Wörterbuch alleine kein Werk übersetzen kann. Wieso hat er trotzdem immer und immer wieder Aufträge bekommen? Es zeigt wiederholt deutlich und klar, das Proust in seiner Szene ein viel geschätzter Mann war.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 513 bis 523.

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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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