Montag, 20. Juli 2020

Der feinfühlige Marcel Proust

Foto: Pixabay
Weiter von Seite 543 bis 554. 

Es gibt eine Änderung zu unserem proustischen Leseprojekt. Anne hat angekündigt, dass sie nicht mehr mitlesen möchte, da sie genug eigene Projekte am Laufen habe. Ihr würde Proust nicht so nahestehen wie mir. Dennoch lasse ich Anne weiter im Boot, da ich ihr gerne von den Briefen berichten könne. Außerdem habe sie sich bereit erklärt, Internetrecherchen anzugehen, wenn ich z. B. außergewöhnliches Bildmaterial oder besondere Zusatztexte zu Proust suche, die ich selbst nicht finden kann. Anne ist Meisterin darin. Sie findet immer in kürzester Zeit Objekte, für die ich häufig zu blind oder zu ungeduldig bin.

Die Briefe zu lesen sind schon eine recht große Herausforderung, auch weil dazu die Antwortbriefe fehlen. Dazu noch die vielen Fußnoten, die dafür sorgen, dass der Lesefluss permanent gestört wird, ohne dass man hinterher wirklich schlauer geworden ist, weil uns einfach die Hintergründe fehlen. Aber mir liegt sehr viel daran, die Briefe weiter zu lesen, da ich zu Proust eine engere Bindung habe als Anne, da ich vieles andere von ihm schon gelesen habe. Er ist mir dadurch sehr vertraut geworden.

Deshalb werden nun die Telefonate hier nicht mehr aufgeführt. Dennoch ein großes Dankeschön an Anne, dass sie mich geduldig so lange begleitet hat. Gemeinsam macht es schon mehr Spaß, nun mache ich im Alleingang weiter, da ich Annes Entschluss durchaus akzeptieren und respektieren möchte. 

Auch für mich sind die Briefe nicht immer leicht. Anstrengend finde ich vor allem, die vielen Zitate herauszuschreiben, die ich häufig in der Überlänge als eine lästige und sehr zeitaufwendige Beschäftigung empfinde, weil ich sie nicht immer aus dem Zusammenhang reißen möchte. Daher häufig die langen Zitate, die mir die größte Mühe bereiten.

Auch wenn mir viele Briefe insgesamt auch sehr schwerfallen, sie zu lesen, weshalb ich nur zehn Seiten am Stück mir immer nur vornehmen möchte, und ich nicht abbrechen möchte, hat es noch eine andere Bewandtnis. Ich fühle mich zu Proust hingezogen und freue mich häufig auf das Wochenende, und hoffe, Neues aus seinem Leben in Erfahrung bringen zu können. Ich finde, seine Art zu schreiben einfach nur genial, und häufig genieße ich seine Ausdrucksweise, lasse sie im Stillen immer wieder in meinem Inneren langsam wie ein Stück Gourmet auf der Zunge zergehen, als wollte ich seine Gedanken essen und einverleiben. So schön und wohltuend fühlen sie sich an.

Auf den folgenden Seiten gibt es nur einen Brief, der mir ins Auge geschossen ist, bzw. der mich innerlich auch sehr ergriffen hat. Prousts weiche Art gefällt mir sehr. Immer bemüht um freundliche, warme Worte. Dieser Brief geht an Madame Geneviève Straus, aus dem ich unbedingt zitieren möchte, weil er auch für meine spätere Proust-Reise von Bedeutung sein wird. Madame Straus schickt Proust fünf leere Notizhefte, Tagebücher, die mich berührt haben, weil sie durch ihre Geste ihm Wertschätzung entgegenbringt, ihn mit ihrem Geschenk ermuntert, weiter zu schreiben, und Proust gibt immer zurück, was er von seinen Mitmenschen erhält. Aber immer in Form feingeistiger Geschenke, in denen häufig so viel Menschenliebe steckt. Nichts geht bei ihm unter. Alle Gedanken, die er von seinen Freund*innen empfängt, wirken auf mich wie Samen, die in seiner Seele jeder Zeit aufzugehen bereit sind. Es sind Spuren, die er dadurch in den Seelen seiner Mitmenschen hinterlässt.

An Geneviève Straus
Anfang Februar 1908, Proust ist hier 36,5 Jahre alt
Madame, Ihre kleinen Almanache bezaubern mich, und der Gedanke, dass sie von Ihnen kommen, macht sie so poetisch. Kurzum, ich bin entzückt und danke Ihnen von ganzem Herzen. (2016, 550)
Sind das nicht schöne, feinsinnige Zeilen?

Aus der Fußnote geht hervor, dass es sich um fünf kleine Carnets handelt, die die Freundin bei Kirby, Beard & Co. gekauft und sie ihm zu Neujahr geschenkt hatte. 
Vier davon sind heute im Besitz der Bibliothèque nationale. Das fünfte gehörte Cèleste Albaret, die bezeugte, dass Proust sie von Madame Straus erhalten hatte. (Ebd.)
Ganz klar, dass ich diese in der Nationalbibliothek in Paris aufsuchen werde.

Bei Amazon konnte ich folgendes Exemplar finden.

Hier geht es zu dem Link, aus dem der französische Klappentext hervorgeht, dass fünf kleine Tagebücher aus dem Geschenk der Madame Straus stammen würden. Außerdem ist zu entnehmen, dass sie als Notizbücher dienten, in denen Proust seine Gedanken zu seiner Recherche aufgeschrieben hat. Darüber hinaus geht noch hervor, dass Proust in der Zeit zwischen 1908 und 1910 sich darin jede Menge Sinnfragen gestellt hatte, auch, ob er z. B. aus seinen Ideen zu seiner Recherche einen Roman kreieren solle, oder eine philosophische Studie? Auch ist aus dem Text zu entnehmen, dass er sich immer wieder hinterfragt habe, ob er ein Schriftsteller sei? Jetzt wird für mich besser verständlich, dass Proust tatsächlich an sich als Schriftsteller und an seine Schreibkunst gezweifelt hatte, was ja schon in meinem letzten Beitrag angesprochen wurde, und ich ihn nicht für ernst genommen habe. Ich freue mich sehr über diese zusätzlichen Hinweise durch den Klappentext, die viel anschaulicher sind als manche Fußnote im eigentlichen Buch. Doch zu seinen Selbstzweifeln; tun das nicht alle guten Schriftsteller*innen, an sich und an ihrer Kunst zweifeln? 

Weiter geht es in dem Brief. Proust geht auf den Baulärm ein, der bei der Freundin zu Hause zu ertragen sei. Hat mich sehr gerührt, wie edel er darauf reagiert hat, wobei ich nicht sicher bin, ob er meint, was er schreibt, zumindest hat er Mitgefühl für deren Lage:
Was Sie mir über die Handwerker im Nebenhaus sagen, bringt mich zur Verzweiflung. Viel lieber wäre mir (ich versichere Ihnen, dass ich das ernst meine), wenn das neben mir wäre und Sie keinen Lärm hätten. Ich werde ständig daran denken. Ach, es ist wohl nichts zu machen. (551)
Hat Proust nicht genug Leid durch seine chronifizierte Atemwegserkrankung, die ihn zeitlebens ans Bett bindet? Trotzdem finde ich ihn sehr rührend, wie zärtlich Marcel Proust in Wirklichkeit doch sein kann.
Wollen wir uns ein Boot mieten, auf dem überhaupt kein Lärm gemacht wird und von dem aus wir alle schönen Städte der Welt am Meeresufer vorbeigleiten sehen, ohne unser Bett (unsere Betten) zu verlassen? (551)
Welch eine romantische Vorstellung, welch ein schönes Bild. In einem anderen Buch hatte ich einmal gelesen, dass Proust tatsächlich viele seiner Reisen im Bett liegend getätigt hatte.

Weiter geht es nächstes Wochenende 554 – 565.
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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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