Posts mit dem Label Biografie / Autobiografie werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Biografie / Autobiografie werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 31. Januar 2021

Kim Thúy / Der Klang der Fremde (1)

Bildquelle: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Ein Büchelchen, das ich in einer kurzen Sprache erlebt habe. Kurz deshalb, weil die Sätze kurz waren, des Weiteren noch gepackt in vielen Absätzen und die Seiten waren nicht immer ganz gefüllt. Die Geschichte hat auf ihre Art Tiefgang, aber dennoch hat sie sich bei mir innerlich nicht wirklich festsetzen können. Das Buch habe ich seit ein paar Tagen ausgelesen, und es fällt mir schwer, mich an die Details zu erinnern. Ich habe überlegt, woran das gelegen haben könnte. Es lag an der Erzählstruktur. Die Episoden waren mir zu sprunghaft und zu abgehackt. Mir hat eine gewisse Chronologie gefehlt. Auch die Sprache war eine sehr kühle und distanzierte Sprache. Die Figuren waren für mich nicht ausreichend greifbar. Ich konnte keine innere Verbindung zu ihnen herstellen.

Und dennoch habe ich das Buch mit einer hohen Punktzahl votiert, weil ich im Nachklang mithilfe meiner Stichpunkte beim Durchblättern der Seiten nochmals durch viele interessante Kernstücke habe hervordringen können.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Heldin dieses Romans ist Kim, als sie 1978 im Alter von zehn Jahren zusammen mit ihrer wohlhabenden Familie aus Vietnam wegen des Kambodschanischen-vietnamesischen Krieges floh. Die Menschen flüchteten vor dem Kommunismus, der ihnen alles wegnahm, was sie besaßen.

Als die Kommunisten in Saigon einmarschierten, überließ meine Familie ihnen die Hälfte unseres Besitzes, denn wir waren verwundbar geworden. Eine Backsteinwand wurde im Haus errichtet, um zwei Adressen zu schaffen: eine für uns und eine für das Polizeirevier des Viertels. (35)

Die Angst vieler Menschen vor der Flucht über dem Meer war nicht so verbreitet wie die Angst vor den Kommunisten, und so nahmen diese Menschen alle Strapazen auf sich, sich hoffnungsvoll in abenteuerliche Aufbrüche zu begeben, um woanders eine neue Existenz aufzubauen. Das Erlebnis in einem Flüchtlingsschiff:

Wir waren erstarrt, eingeklemmt zwischen den Schultern der einen, den Beinen der anderen, gefangen in der Angst aller. Wir waren gelähmt. (11)

Die Flucht glückte trotz aller Nöte und Missstände bis nach Kanada ... In Quebec angekommen, wurde Kim in ihrem zweiten Aufenthaltsjahr auf eine Kadettenschule geschickt. Hier sollte sie auf Wunsch der Mutter zügig Französisch und Englisch lernen, damit sie schnellstmöglich in ihr neues Umfeld integriert werden könne, um am späteren gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt partizipieren zu können. Ihre Muttersprache musste sie aufgeben und stattdessen Englisch und Französisch lernen. Doch Kim verstummte zeitweise durch die Flucht.

Meine Mutter wollte, dass ich spreche, ich sollte so schnell wie möglich Französisch lernen und Englisch, denn meine Muttersprache war zwar nicht lächerlich, aber nutzlos geworden. (25)

Kim schafft es aber, in ihrer neuen Heimat erwachsen zu werden. Sie selbst kreierte eine eigene Familie. Sie hat zwei Söhne, Pascal und Henri, während einer davon Autist ist. Sie möchte ihren Kindern ein Stück Geschichte ihres Herkunftslandes vermitteln …

… um ein Stück Geschichte in Erinnerung zu bewahren, das nie Eingang in die Schulbücher finden wird. (45)

Diese flüchtenden Menschen träumen alle einen amerikanischen Traum mit westlichen Werten und Lebensstandards ...

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Eine Szene in Quebec.

Madame Girard hatte meine Mutter als Haushälterin eingestellt, ohne zu wissen, dass sie bis zu ihrem ersten Arbeitstag nie einen Besen in der Hand gehabt hat. (84)

Das ist für mich eine Degradierung ihrer beruflichen und sozialen Herkunft.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Gefallen hat mir, dass der Familie die Flucht geglückt ist und sie in Kanada eine neue Heimat hat finden können, wenn sie auch auf das Anderssein aufmerksam gemacht wurde und man sie daran erinnerte, dass sie als ehemalige Asiat*innen nicht wirklich zur kanadischen Gesellschaft dazugehören würde. 

Zur gleichen Zeit hatte mein Chef einen Artikel aus einer Montrealen Zeitung ausgeschnitten, in dem darauf gepocht wurde, dass das >Volk Quebecks< weiß sei und ich mit meinen Schlitzaugen automatisch einer anderen Kategorie angehörte, obwohl Quebec mir meinen amerikanischen Traum geschenkt und mich dreißig Jahren lang beherbergt hatte. (92)

Meine Gedanken dazu
Diese Probleme hat nur die Spezies Mensch, die Menschen anderer Nationen bewusst / unbewusst als Fremde, als Exoten aussortiert. Tiere und Pflanzen kennen das nicht und können sich problemlos in neue Gegenden beheimaten. Ich denke hierbei an Stefano Mancusos Buch, wie Pflanzen, die eigentlich im Gegensatz zu uns Menschen als sesshaft zählen, es dennoch schaffen mithilfe anderer Lebewesen über ganze Ozeane zu migrieren und sich auf neue Kontinente zu verpflanzen; Gewächsarten, die wir heute als unsere heimischen Pflanzen betrachten. Bei vielen dieser sog. heimischen Pflanzen ahnt man nicht mal, dass sie ihren eigentlichen Ursprung einst auf einem anderen Kontinent hatten. Warum gelingt es aber Menschen nicht, Menschen mit anderer Hautfarbe … als einen Artgenossen zu betrachten? Auch bei uns in Deutschland gibt es exotische Pflanzen, die mittlerweile heimisch sind. Zum Beispiel die deutsche Kartoffel. Warum wird die deutsche Kartoffel nicht auf ihre Wurzeln runtergestuft, während ein*e Migrant*in keine Chance hat, sich jemals als Deutsche*r bezeichnen zu dürfen? Mal ganz blöd gefragt: Sind uns die Kartoffeln ähnlicher als ein Mensch eines anderen Landes?  Fragen, an denen ich jedes Mal verzweifeln könnte, wenn Menschen anderer Länder immerzu auf die Wurzeln ihrer Vorfahren reduziert werden. 

Eine andere Sichtweise hierbei zu gewinnen wäre wohl einer menschlichen Entwicklung geschuldet, die bei jedem Zeit und noch mehr Zeit benötigt. Sie beginnt sich erst bei einem Einzelnen zu formen und mit der Zeit werden es immer mehr werden, bis ein Kollektiv, somit eine ganze Gesellschaft, von diesem Ideal getragen wird, mit dem Wissen, dass wir in einer Vielfalt alles Menschen einer einzigen Menschenrasse sind.

Doch glücklicherweise stehe ich nicht mehr alleine mit meiner Meinung da. Der Rassenbegriff soll lt. dem Darmstädter Echo vom Dez. 2020 aus dem Grundgesetz gestrichen werden. 

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Anh Phi und Tante Sechs. Tante Sechs verhalf Kim dazu, ihren eigenen Traum zu träumen. (Tante Sechs ist das sechste Kind in ihrer Familie, für Kim dadurch die sechste Tante).

Als ich fünfzehn wurde, schenkte mir meine Tante Sechs, die damals in einer Hühnerverwertungsfabrik arbeitete, eine viereckige Aluminium-Teedose mit Bildern von chinesischen Feen, Kirschbäumen und roten, goldenen schwarzen Wolken. Im Tee versteckt waren zehn gefaltete Zettel, auf die Tante Sechs je ein Metier, ein Beruf, einen Traum für mich aufgeschrieben hatte: Journalistin, Kunsttischlerin, Diplomatin, (...). Dies Geschenk lehrte mich, dass es andere Berufe gab als Arzt und dass ich meinen eigenen Traum träumen durfte. (89)

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine. Ich habe eher eine distanzierte Haltung zu den Figuren entwickelt, dies wohl auch an dem Schreibstil der Autorin liegt.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel 
Hat mich beides sehr angesprochen. Der Titel konnte für mich schlüssig werden. Nicht nur, wie sich die Fremde anfühlt, sondern auch welchen Klang eine Flucht haben könnte, fand ich auch spannend.

Zum Schreibkonzept
Der Roman ist auf 159 Seiten gepackt. Zu Beginn gibt es eine kleine Widmung Für die Menschen im Land. Es gibt keine Kapitel, und auch keine richtige Chronologie, wie ich oben schon geschrieben habe. Dennoch werden neue Kapitel mit den ersten Worten mit Großbuchstaben eingeleitet. Teilweise sind die Kapitel sehr kurz und füllen mit einem Absatz nicht mal die Hälfte der Seite.

Der Schreibstil ist eher in Tagebuchform und / oder im Telegrammstil verfasst. Die Sprache wirkt recht distanziert und ist in der Ichperspektive der erwachsenen Kim erzählt.

Insgesamt passt ihr Schreibstil eher in eine Dichtersprache, da sie manchmal wie wunderschöne und nachdenkenswerte Poesie klingt.

UND WO EINE ausgestreckte Hand keine Geste mehr ist, sondern ein Moment der Liebe, der bis in den Schlaf hinein dauert, bis zum Erwachen, bis in den Alltag. (159)

Meine Meinung
Viele Episoden stimmten mich nachdenklich. Dass Menschen durch den Anpassungsdruck und den Druck der Assimilation gezwungen werden, im neuen Land ihre Muttersprache aufzugeben, weil sie nicht mehr gebraucht wird und damit nutzlos geworden ist, ist für mich schwer zu verstehen. Für was? Diese Menschen werden in der neuen Heimat nie wirklich dazugehören, selbst wenn sie sich assimiliert haben. Einige kritische Beispiele sind in dem Buch zu finden.

Doch welchen Lebensstil hätte Kim geführt, wäre sie in Vietnam geblieben? Welche Perspektiven hätte sie gehabt? Traditionen eines Landes übernehmen zu müssen, und die Pflicht, die Fortsetzung ihrer Mutter zu sein? Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie groß dieser Amerikanische Traum nur sein kann ... 

Und für immer der Schatten ihre Cousine Sao Mai zu sein?

WÄHREND MEINER GANZEN KINDHEIT wünschte ich mir insgeheim, die Tochter von Onkel Zwei zu sein. Seine Tochter Sao Mai war seine Prinzessin, auch wenn er manchmal tagelang vergaß, dass es sie gab. Sao Mai wurde von ihren Eltern verehrt wie eine Primadonna. Onkel Zwei gab viele Feste bei sich zu Hause. (...). Er schenkte ihr nur gelegentlich zwei Minuten Aufmerksamkeit, doch das war genug, um meine Cousine mit einer inneren Kraft zu versehen, die ich nicht hatte. Ganz gleich, ob ihr Magen leer oder voll war, Sao Mai hatte nie Probleme, ihre großen Brüder und mich herumzukommandieren. (57)

Das Für und Wider spiegelt uns die Autorin immer wieder, aber der Gewinn einer Migration wiegt stärker hervor. Kims Kinder tragen keine Namen ihrer Vorfahren, sondern westliche Namen und zeigt damit eine Abnabelung von ihren Ahnen und damit die Entwicklung einer neuen Identität, die die Autorin durch die Flucht ins neue Land hat in sich entstehen lassen.  

Mein Fazit
Auf jeden Fall ein lesenswertes Buch, das Einblicke gibt in Familien, die vor dem Krieg in andere Welten fliehen müssen, und sich woanders eine neue Existenz aufbauen.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch eine Lesepartnerin P. G. auf Facebook. In einer Zoomrunde wird das Buch am kommenden Dienstagabend gemeinsam besprochen.

Meine Bewertung 

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (sachlich, fantasievoll, distanziert)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; autobiographische Erzählweise
1 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur, Gliederung: Ungebunden
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

11 von 12 Punkten

_______________________________________

Zoomrunde, Di. 03.02.2021; 19:00 Uhr bis 21:30 Uhr

Teilnehmerinnen: Hana, Petra, Christa und ich. 

Petra und Hana sind mir durch das Facebook-Bücherforum Lesedrachen bekannt. Ich gebe nur ein paar wenige Fakten wieder, nicht die gesamte Zoom-Runde.

Ich fand die ganze Diskussion sehr inspirierend und wir waren uns alle einig, dass die Sprache wunderschön ist und das Buch trotz schlanker Linie recht gehaltvoll und tiefgründig ist. 

Auch darüber, dass man das Buch nicht in einem Rutsch weglesen könne, sondern die vielen kurzen Geschichten in sich wirken lassen müsse. 

Interessant war auch, dass jeder andere Aspekte aus dem Buch gezogen hat. Es gab viele übereinstimmende Szenen, aber es gab auch Szenen, die jeder unterschiedlich wahrgenommen habe, nach dem Motto: Vier Augenpaare sehen mehr als ein Augenpaar. 

Meine anderen drei Mitdiskutantinnen fanden die vielen ernsten Themen wie Flucht, Krieg und Migration sehr leise erzählt. Das heißt, dass viele Vietnamesinnen einfach ihr Schicksal in die Hand nehmen, ohne zu klagen und in der Lage seien, das Beste daraus zu machen.

Bei Hana fand ich faszinierend, dass sie sogar bei der Zubereitung einer Mahlzeit regelrecht die Suppe hat riechen können.

Migration und das Ankommen: Eine prozessuale Entwicklung, die bis in die nächste Generationen andauern könne. Wobei Kim Kanada als ihre Wahlheimat bezeichnet habe. Dennoch sei es möglich, mehrere Heimaten zu pflegen. Der Begriff Heimat / Heimaten in der Pluralform gibt es noch nicht sehr lange. Wo wir uns nicht alle einig waren: Für mich und Petra schien es, als sei Kim in Kanada angekommen. Sie habe es geschafft, sich eine neue Identität und eine neue Heimat aufzubauen. Ihre beiden Kinder tragen westliche Namen ... Hana war davon nicht ganz überzeugt. 

Auch waren wir uns einig, dass man das Buch nicht mit einem westlichen Blick lesen dürfe. Dazu hat Hana einen schönen Gedanken formuliert: Eine Frau auf dem Reisfeld könne genauso glücklich sein wie eine westliche Frau in einem anderen Beruf, der bei uns angesehen sei. Denn die Frage kam uns auf, was ist mit den Menschen, die im Land geblieben und nicht geflüchtet seien? Wir hatten das Beispiel von Kims Cousine Sao Mai, die in Vietnam geblieben ist und glücklich auf uns wirkte trotz der Einfachheit an Leben. Wir waren uns einig, dass auch diese Menschen das Beste aus ihrem Leben machen würden, um auf ihre Weise glücklich zu leben, denn Glück sei nicht an westlichen Maßstäben zu messen. 

Ich war die einzige, die eine Struktur vermisst hat. Dadurch haben mir Details aus der Familie einfach gefehlt. 

Ich war auch die einzige, die die Sprache als zu kühl und distanziert beschrieben hatte.

Insgesamt erhielt das Buch von uns allen eine recht gute Bewertung ... 

Petra hat auch eine Rezension verfasst, siehe hier

_______________

Gelesene Bücher 2021: 02
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese in meinem langsamen Tempo
mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen, Tiere und auch mich
besser zu verstehen.

 

Freitag, 22. Mai 2020

Saša Stanišić / Herkunft (1)

Foto: Geralt / PIxabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Leider konnte mich der fiktionale autobiografische Roman zum Ende hin nicht mehr überzeugen. Den letzten Teil hätte man auch weglassen können, da ich von der Thematik der an Alzheimer erkrankten Großmutter des Autors über die Seiten hin reichlich gesättigt war. Saša Stanišić hätte zwei Bücher schreiben sollen, denn zwei Hauptthemen, Herkunft und Alzheimer, waren mir definitiv zu viel, auch wenn mir bewusst ist, dass die Großmutter zur Herkunft dazugehört, sie aber nicht ihr ganzes Leben an Alzheimer litt. Aber sie nahm immer mehr Raum ein, dass ich schließlich die Hauptthematik zum Ende hin aus dem Blickfeld verloren hatte. Ich hatte so viele tolle Gedanken zu dem Buch, die am Ende verblasst waren, weil ich mit der kranken Großmutter abgelenkt wurde. Außerdem ließ die Konzentration in den letzten Kapiteln immer mehr nach. Es gibt so viele Bücher über Alzheimer, egal, in welchem Land sie sich bei einem Menschen ausbreitet, vom Krankheitsbild her sind sie alle gleich. Was sie unterscheidet sind die Charaktere der dementen Menschen.

Ich sehe ein, dass der Autor von einer großen Fabulierlust erfasst wurde, dass er Schwierigkeiten gehabt haben muss, einen Punkt zu setzen. Und dennoch ist es insgesamt ein gelungenes und ein absolut lesenswertes Buch, wie in der Besprechung weiter unten noch zu entnehmen ist.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Handlung ist eigentlich schnell erzählt, auch wenn sie sehr komplex ist, noch dazu, weil sie  aus Fragmenten besteht.

In dieser Autobiografie geht es um die Flucht der Kleinfamilie von Saša Stanišić aus dem ehemaligen Jugoslawien. Der junge Saša ist gerade mal 14 Jahre alt, als er zusammen mit seiner Mutter über Serbien, Ungarn und Kroatin nach Heidelberg flüchtet, während sein Vater wegen seiner an Demenz erkrankten Mutter erst noch zurückbleibt. Sechs Monate später kam schließlich auch der Vater nach, nachdem er alles Notwendige für seine Mutter besorgt hatte. Sašas Vater ist serbischer Abstammung, seine Mutter kommt aus einer bosnischen-muslimischen Familie. Die Familie lebte vor der Flucht in dem Dorf namens Višegrad.
Es ist so: Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es heute nicht mehr. Solange es das Land noch gab, begriff ich mich als Jugoslawe. Wie meine Eltern, die aus einer serbischen (Vater) bzw. einer bosniakisch-muslimischen Familie stammten (Mutter). Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats, Ertrag und Bekenntnis zweier zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion. (2019, 14)

Die Mutter hat Politologie studiert, der Vater Betriebswirt.
Mutter schrieb sich für Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Marxismus in Sarajewo ein. 1980 kehrte sie nach Višegrad zurück mit knapp den besten Abschlussnoten ihres Jahrganges, wurde Marxismus-Dozentin am Gymnasium und stand von überteuerte Waren von fragwürdiger Qualität. Sie echauffierte sich über die unfähige Regierungsriege und soziale Ungleichheit. Fürchtete sich vor dem erstarkten Nationalismus und nahm ihn nicht wirklich ernst. (119f)

Rassistische Auswirkungen gegen Muslime nahmen in dem Land weiter zu, gegen die sich die Mutter zu widersetzen versuchte.
Als der Polizist ihr im April 1992 nahelegte, aus Višegrad zu verschwinden, weil es den Muslimen bald an den Kragen ginge, lautete ihre Antwort in einem Leben, das ich für sie geschrieben hätte: > Wer hat entschieden, dass ich eine Muslima bin? < (121)

In Deutschland angekommen wurden die Eltern allerdings nicht in ihren Berufen eingesetzt. Die Mutter bekam einen Job in der Wäscherei, der Vater auf dem Bau. Der Asylantrag der Eltern wurde nach ein paar Jahren dennoch abgelehnt. Saša konnte in Deutschland bleiben, hat sich sein Bleiberecht über Studium und als freischaffender Künstler erwirkt.

Zurückgeblieben ist die an Demenz erkrankte Großmutter, mit der im Roman alles beginnt, und er mit ihr endet.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Ich fand es sehr, sehr traurig, dass der Asylantrag der Eltern in Deutschland abgelehnt wurde und die Familie ein weiteres Mal getrennt wurde. Wie muss das für den jungen Saša
 
gewesen sein, dass er erst seine Großmutter, sich dann von den Eltern trennen musste? Wie muss es für die Eltern gewesen sein, nach Amerika ohne den Sohn zu emigrieren? Was macht die Politik mit Menschen, die ganze Familien auseinanderreißt?

Auf der Seite 36 fand ich eine Szene, die sich wiederholt mit der Frage beschäftigt, wo ein Mensch mit dieser inneren Zerrissenheit hingehört? Mutig, dass Saša ohne die Eltern in Deutschland ein Leben wagte, das zu seiner neuen Heimat wurde.
Man will gelegentlich von mir wissen, ob ich in Deutschland zu Hause sei. Ich sage abwechselnd ja und nein. Die Leute meinen es selten ausgrenzend. Sie sichern sich ab. Sie sagen: >Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, meine Cousine hat einen Tschechen geheiratet. <

Diese Erfahrung machen sogar Menschen, die nicht nach Deutschland geflüchtet sind, sondern hier mit etwas Ausgrenzendem geboren sind, um bei dem Ausdruck zu bleiben. Fremder Name, andere Religion, andere Hautfarbe ... Viele müssen sich ein Leben lang ausgrenzende Bemerkungen anhören. In der vierten sogenannten Migrantengeneration wird man in Deutschland immer noch ausgegrenzt, man wird daran erinnert, dass man in ihren Augen nicht zu den Deutschen zählt.  

Welche Szene hat mir gefallen?
Manche Szenen habe ich als recht surreal erlebt, die mir aber total gut gefallen haben. Schon auf der ersten Seite wird man mit einer davon konfrontiert. Die Großmutter Kristina, 87 Jahre alt, die ein kleines Mädchen sieht, es ruft, es hinter ihr herläuft, bis sie das kleine Mädchen aus den Augen verliert, weil es vor ihr wegläuft. Das kleine Mädchen war sie selbst.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Nur eine Nebenfigur? Und doch zeigt mir folgende Szene über den Vater eines Freundes innere Größe gegenüber einem geflüchteten Kind. Mir war Rahims Vater sehr sympathisch. Rahim selbst ist ein Jugendlicher mit drei weiteren Geschwistern, der mit seiner Familie in Heidelberg in geordneten Verhältnissen lebte, während Saša mit seinen Eltern noch in einer Notunterkunft wohnte, für die er sich geschämt haben muss, da er sich gewünscht hatte, dass die Familie mal seine Eltern besuchen kommen würde, er aber einen Besuch nicht zusammenbringen konnte, obwohl Rahims Eltern nach Auskunft des Autors sich über eine Einladung gefreut hätten. Rahim war mit Saša befreundet. Seine Eltern sind fränkische Atheisten und Geisteswissenschaftler. Der Vater ist Semitist. Saša hatte die Familie durch die ruhige und respektvolle Art innerhalb der Familienmitglieder sehr bewundert. Doch was mir gefallen hatte, war Folgendes:
Nachdem (Rahims Eltern) erfahren hatten, dass ich vor dem Bosnien-Krieg geflohen war, erzählten die beiden weder von einem Kroatien-Urlaub in den Achtzigern auf der „Wie-hieß-die-Insel- noch-mal?“, noch eröffneten sie einen Mentalitätskurs über die >Serben<.Der Vater sagte: > Tut mir leid, dass du das erleben musstest, Saša. Ich lese mich gern ein, und wir sprechen über den Konflikt, wenn du wieder vorbeikommst. Falls du das möchtest. < (188)

Diese Empathie hat mich total beeindruckt. Außerdem hat dieser Mann dem Kind Interesse bekundet, sich in die Materie erst einzulesen, statt loszuplappern, und zu prahlen, was er über das Land über triviale Urlaubserfahrungen an Halbwissen verfügt. Der Ausdruck Mentalistätskurs fand ich zudem wahnsinnig gut getroffen.

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel 
Der Buchtitel wird leider zu sehr von der demenzkranken Großmutter eingenommen, wie ich eingangs schon beschrieben habe. Das Cover? Die vielen Wappen darauf sind mir unbekannt, die wohl zu der Herkunft des Autors gehören. Sie sind wahrscheinlich mit dem ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien in Verbindung zu bringen.

Zum Schreibkonzept
Das Buch ist auf den 360 Seiten chronologisch und stilistisch nicht wie ein Roman verfasst, wie man das sonst gewohnt ist. Man muss sehr viele Zeitsprünge vor und zurück hinnehmen. Der Stoff ist zudem in Fragmenten gepackt, sodass es schwierig ist, eine Beziehung zu den Figuren herzustellen. Die jeweiligen Kapitel sind nicht nummeriert, ich weiß also nicht, aus wie vielen Kapiteln das Buch besteht, ich werde sie nicht zählen, und sie sind außerdem noch recht kurzgehalten. Eigentlich gibt es ein Epilog, der allerdings mit einem weiteren Teil des Buches Der Drachenhort anschließt. Das etwaige Ende, das aus verschiedenen möglichen Ausgängen bestehen kann, welcher, das entscheiden die Leser*innen selbst, ist sehr außergewöhnlich, das ich ein wenig verspielt erlebt habe. Der Erzählstoff besteht aus einem Mix zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Meine Meinung / Meine Gedanken
Bis zu dem letzten Abschnitt war ich total fasziniert von dem Buch. Es hat mich nachdenklich gestimmt, wobei die Thematik nicht neu für mich ist. Nachdenklich bin ich immer wieder, was die Herkunft eines Menschen betrifft, weil man nicht so eindeutig bestimmen kann, woher ein Mensch kommt. Für viele Menschen weltweit, die aus einer homogenen Herkunft stammen, für sie ist alles glatt, übernehmen die kulturellen und nationalen Zuschreibungen, die sie von Kindesbeinen an übermittelt bekommen, ohne diese später zu hinterfragen. Doch auch bei diesen Menschen würde sich ein Weiterdenken lohnen, denn, wie selbst der Autor schreibt, ist die Herkunft durch Zufall determiniert. Kein Kind, das genau in diese Familie, in dieses Land, in jene Gesellschaft, geboren wird, hat selbst diese Wahl treffen können. Selbst eine homogene Herkunft ist, wenn man sie sich genau betrachtet, differenziert zu einer anderen homogenen Herkunft. Sašas Eltern hatten sich entschieden, das Kriegsland zu verlassen, andere sind dortgeblieben, weil sie nicht bedroht wurden, oder sich woanders versteckt haben, etc. Die Eltern hatten entschieden, nach Deutschland zu fliehen, andere fliehen in andere Länder. Deutschland ist nicht das einzige Land, in das Menschen flüchten, wenn auch die Medien uns dieses Gefühl vermitteln. Wer wäre man geworden, wäre man im Land geblieben? Wer wäre man geworden, wäre man in ein anderes Land geflüchtet? Man könnte den Gedanken noch unendlich weiterspinnen. Wer wäre man geworden, wäre man in einer anderen Familie geboren? Auf jeden Fall immer ein ganz anderer Mensch, der aus sich das zu machen gezwungen ist, was er nach der Geburt an Werkzeug für sein Leben vorfindet, um sich zu formen.
In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet. Es hätte ebenso gut Osloer Regen sein können. Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will. Glück hat, wer sich geographische Wünsche erfüllt. Das gibt dann vorzügliche Sprachreisen, Alterswohnsitze in Florida und Auswanderinnen in die Dominikanische Republik zu besser aussehenden Männern. (123)

Auch für mich ist die Herkunft, homogen oder different, immer eine komplexe Frage. Die einen sind Adoptivkinder, andere Kinder wurden abgetrieben und bekamen nie eine Chance, ein Mensch zu werden, andere wurden in armen Familien geboren, andere in reiche, etc. Wer sucht sich das aus? Schaut man sich die homogenen Väter an, unterscheiden sie sich von anderen homogenen Väter. Die Mütter ebenso. Die eine Mutter trinkt, der andere Vater ist ein Schläger, andere sind auf unterschiedliche Weise wohlwollend, etc. Stolz auf ein Land zu sein, das wir als das unsrige bezeichnen, ist als sterbliches Wesen, das ein Land aus diesem Grund niemals besitzen kann, genauso ein Nonsens. Und trotzdem denken viele, anders sind nur die, die woanders herkommen, weil sie angeblich über andere Sitten und andere Gene verfügen würden.

Auch für den Autor lässt sich eine Herkunft nicht nur in eine Blutgruppe pressen.
Also doch, Herkunft, wie immer, (…) eine komplexe Frage: Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. (32f)

Da wir gerade europaweit wieder eine Tendenz zum Nationalismus erleben, sind sich Menschen, die das Land, das sie als ihr eigenes bezeichnen, nicht bewusst, dass das Land, auf das sie so stolz sind, auch Früchte anderer Länder trägt. Der Autor macht dies aus eigener Erfahrung / Beobachtung anschaulich:
Ausgerechnet hier! Auf diesem Balkan, Mann! An der Kreuzung zwischen Orient und Okzident! Alle sind hier irgendwann aufmarschiert, alle! Alle haben sich breitgemacht, wurden besiegt, (oder auch nicht) zogen sich zurück. Und sie alle ließen etwas da. Rom, Venedig, die osmanischen Heere, Österreich-Ungarn. Und all die Slawen. Juden kamen von der iberischen Halbinsel und blieben. Roma-Enklaven existieren im gesamten Raum. Die Deutschen schliefen in Betten meiner Vorfahren. Alle waren hier, wo du dasselbe Lied in verschiedenen Tonarten anstimmst (…). Hier, wo du türkischen Kaffee trinkst, deutsche und arabische Lehnwörter selbstverständlich benutzt, mit urslawischen Vilen in den Wäldern tanzt und auf Hochzeiten zu gleichermaßen miesen kroatischen oder serbischen Schlagersongs. Hatten wir nicht die Tore von „Roter Stern“ gemeinsam bejubelt? Offenbar nicht. (99f)

Mein Fazit
Ein sehr lesenswertes Buch, das mich total bereichert hat. So viele Zitate hätte ich gerne noch herausgeschrieben. Toll, es gelesen zu haben. Am schönsten fand ich allerdings die Sprache; sehr verspielt, sehr ideenreich, sehr kreativ. Wundervoll.

Eine klare Leseempfehlung!!!

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Als Mitglied bei der Büchergilde stand erneut ein Quartalskauf an. Dort im Laden ausgelegt ist mir das Buch sofort ins Auge geschossen. Da es mir schon auf der Frankfurter Buchmesse 2019 aufgefallen ist, war es klar, dass ich dieses Buch erwerben wollte. So kam mir die Büchergilde entgegen, die es in ihrem Bestand zum Verkauf angeboten hatte.

Es ist ein bepreistes Buch. Ich mache mir aber nichts mehr aus Buchpreisen, da ich schon häufig damit enttäuscht wurde, und ich deshalb mit Buchpreisen so etwas auf Kriegsfuß stehe. In letzter Zeit scheine ich Glück zu haben, denn auch dieses Buch hat meinen Geschmack treffen können und hat auch aus meiner Sicht absolut seinen Preis verdient. Er erhielt den Deutschen Buchpreis.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Der Autor hätte allein der Sprache wegen seine 12 Punkte verdient. Wenn alles andere minderwertiger ausgefallen wäre, hätte ich dem Buch trotzdem 12 Punkte vergeben.

Deshalb zwölf von zwölf Punkten, auch wenn es von der Rechnung her elf Punkte sind.

________________
Jeder kann die Welt mit seinem
Leben ein kleinwenig besser machen.
(Charles Dickens)

Gelesene Bücher 2020: 12
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)


Dienstag, 8. Januar 2019

Clarence Day / Unser Herr Vater (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Eine wunderschöne Biografie der Familie Day in der Übersetzung von Hans Fallada. Sie hat mir bis zum Schluss sehr gut gefallen.

Hier geht es zum Klappentext, Autorenporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
In der Handlung bekommt man es mit einer sechsköpfigen amerikanischen Familie zu tun, die in New York ihren Lebensmittelpunkt hat. Die Handlung spielt noch im späten des 19. Jahrhunderts. Der Oberheld ist hier das Familienoberhaupt Clarence Day, der Anfang vierzig ist. Eine sehr gewissenhafte Figur, die stark auf Hausregeln achtet und auch in der Präfektur lässt er nichts auf sich kommen. Stets akkurat in der Buchhaltung und auch bei den Finanzen führt er streng Buch. Die Geldangelegenheit ist die empfindlichste Stelle dieses Mannes. Während er recht knauserig ist, ist seine Frau Vinnie das genaue Gegenteil. Sie gibt das Geld großzügig aus, muss sich aber immer rechtfertigen und immer wieder neue Tricks anwenden, um an das Geld zu kommen, das ihr Mann so fleißig im Safe hortet. …

Der älteste von vier Söhnen ist der am 1874 geborene Clarence, der ganz nach dem Vater benannt wurde, obwohl Clarence Junior ganz anders als sein Vater ist, denn er hat es satt, den feinen Herrn zu spielen, obwohl er aber auch stolz darauf ist, wenn der Vater ihn sonntags mit in die Präfektur nimmt.

Clarence Junior träumt davon, Landstreicher zu werden, da er gerne frei sein möchte von allen väterlichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen und Konventionen. Ist klar, dass der Senior still die Erwartung hegt, der Junior möge doch in seine Fußstapfen treten. Der Junge offenbarte allerdings dem Vater, dass sein Berufswunsch eigentlich Cowboy sei, so lehnte der Senior mit der Begründung ab, dass Cowboy kein anständiger Beruf sei; dann könne er auch gleich Landstreicher werden J ...

Der Vater gab viel auf die Erziehung seiner Söhne. Er achtete drauf, dass sie neben der musikalischen Erziehung eine gute Allgemeinbildung erhalten. Allerdings wollte es mit der Musik beim Junior nicht so recht klappen, sowohl im Klavierunterricht als auch im Gesang. Der Junge brachte seinen Klavierlehrer schier zur Weißglut … Später kaufte ihm der Vater eine Violine, ohne es mit ihm abzusprechen, in der Hoffnung, dass das das richtige Instrument für den Filius sei …

Richtig gut hat mir seine Frau Vinnie gefallen, die versucht hatte, auf ihre Rechte als Frau zu kommen. Sie plante zusammen mit einer Freundin eine Reise nach Ägypten. Als sie Clarence fragte, ob er mitfliegen möchte, verneinte er, da er sich die Ägypter anschauen könne, ohne New York zu verlassen. Mumien zum Beispiel könne er sich genug in Museen betrachten. Auch die Ägypter seien nichts anderes als Wilde in ihrem Land ...

Senior Clarences Sorgen waren immerzu der richtige Umgang mit Geld, den seine Frau bei den Ausgaben häufig missachtet hatte. Hier konnte Clarence richtig cholerisch werden. Jedes kleinste Ärgernis brachte ihn in Rage. Ein richtiger Despot, der im Haus und sonst wo keine Veränderungen duldet und stellt seine Frau als unwissend, manchmal sogar als dümmlich dar, wie dies in dieser Zeit üblich war, da Frauen damals kaum Rechte hatten. Was die Geldangelegenheiten betreffen, hatte sie ihre eigene Strategie:
>>Ich verstehe eine ganze Menge davon. (…) Frau Glick sagt, die Pflicht jeder denkenden Frau sei es, sich selbst eine Meinung zu bilden, auch über Tarifreform, Kapital, Arbeit und alles andere!<< (201)

Dass Senior Clarence gar nicht gelingen wollte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, beschäftige nicht nur den Junior immens.
Außerdem blieb meinem Vater wenig Zeit, sich solchen kleinen Unannehmlichkeiten zu widmen, bald beanspruchte ihn das Drama unseres Familienlebens restlos. Unsere verblüffende Unfähigkeit, irgendeines unserer Gefühle zu verheimlichen, beschäftigte ihn ganz. (207)

Welche Szene hat mir gar nicht gefallen?
Es gab keine besondere Szene. Alles hat gepasst. Natürlich fand ich es nervend, wenn der Vater und Ehemann so schnell die Nerven verlor und laut wurde, und ganz besonders bei Geldausgaben, selbst wenn es nur um einige Cents ging. Mit welcher Raffinesse Vinnie es gelang, ihn wieder einigermaßen friedlich zu stimmen. Aber er war nicht böse, nur wahnsinnig besorgt und erregt …


Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Mir hat gefallen, dass sich Vinnie nicht hat unterkriegen lassen und ihren Weg als eine selbstbewusste Frau gegangen ist, auch wenn er anstrengend war.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Clarence Day Junior. Mit welchem Humor und mit welcher notwendigen Distanz er seine eigene Familie beleuchtet und porträtiert hat, fand ich bewundernswert.

Welche Figur war mir unsympathisch?
Keine.

Meine Identfikationsfigur.
Keine

Cover und Buchtitel   
Hat mir sehr gut gefallen. Ich finde den Einband sehr schön. Ein Leinenbuch ohne lästigen Schutzumschlag.

Zum Schreibkonzept
Die Handlung wird auf 238 Seiten aus der Sicht des jungen Clarence erzählt.

Meine Meinung
Mich hat diese amerikanische buddenbrooksche Familiengeschichte amüsiert, wenn sie auch teilweise recht ernst war. Ähnlichkeiten mit den Buddenbrooks sehe ich noch immer, nur dass Johann Buddenbrook verglichen mit Clarence ein viel ruhigerer Typ Mensch, Vater, Familienoberhaupt und Geschäftsmann war. Niemals hatte er seiner Frau das Gefühl gegeben, ihm unterlegen zu sein. Oder der kleine Hanno, der auch die hohen Erwartungen seines Vaters Thomas erfüllen musste ... 

Mein Fazit
Eine wahrlich gelungene Biografie mit viel Ironie und Witz. Sehr spannend hinter die Kulissen einer amerikanischen Familie dieser Art zu blicken. 

Aber Vorsicht, es gibt noch vieles andere in dem Buch zu entdecken ...

Im Internet habe ich gesehen, dass Clarence auch über seine Mutter Vinnie Day einen Buchband geschrieben hat, allerdings ist er im Rowohltverlag erschienen, was ich schade finde, wegen der unterschiedlichen Größe und der unterschiedlichen Aufmachung. Kann das nicht bei einem Verlag bleiben? Wenn man Bücher zusammen ins Regal stellt, die vom selben Verlag sind, gibt es häufig ein ganz harmonisches Bild im Regal ähnlich wie dies mit den Diogenesbüchern der Fall ist. 

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Sehr gute Übersetzung
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover, Titel und Klappentext stimmen mit dem Inhalt überein
12 von 12 Punkten

Eine klare Leseempfehlung.
________________
Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

Gelesene Bücher 2019: 02
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86