Zweite von zwei Buchbesprechungen zur . g. Lektüre
1948 kam Richard Kornitzer aus dem Exil, von Kuba nach Deutschland, zurück zu seiner Frau Claire. Beide
Eheleute mussten sich wieder aneinander gewöhnen und sich neu lieben lernen.
Zehn Jahre war eine lange Zeit, die beide verändert hat.
Das Herkommen war verschüttet, eine Zukunft unwägbar, und gerade diese Unbesiegbarkeit hatte er gewählt. Er hatte seit zehn Jahren nichts mehr erwählt, er war eingeordnet, aufgelistet worden, dabei hatte er Glück gehabt, ein ganz ungeheuerliches Glück und nur ganz im Inneren hatte er gewichtet, gerichtet, gezählt, wo er stünde, wo er stehen geblieben wäre, hätte man ihn nicht hinausgeschmissen aus seinem Land, hätte man ihn nicht gezwungen, gezwungen freiwillig zu gehen, seine Frau hoffte er nachkommen lassen zu können. Abgezockt-aus dem Land gejagt-erniedrigt-aus der Staatsbürgerschaft entlassen. 38, 115..
R. K.
bezeichnete sich als Juden nur auf dem Papier. Er nahm nicht an den jüdischen
Zeremonien teil, besuchte keine Moschee. Demnach bezeichnete er sich nicht
einmal als ein richtige Jude. „Er war Jude von Hitlers Gnaden gewesen", 44. Selbst
ein Konvertieren in eine andere Konfession ließ Hitler nicht gelten. Einmal
Jude, immer Jude.
Kornitzer war
geschockt, seine Heimat unter Trümmern aufzufinden. Nun wurde er von Berlin
nach Mainz versetzt, um dort seinen Beruf als Richter wieder neu aufzunehmen. Er
wäre lieber in Berlin geblieben, in Berlin allerdings wurde er als Richter für Zivilrecht nicht
gebraucht. In Mainz herrschte Wohnungsnot. Auch hier zu viele verschüttete
Häuser, so dass er seine Ansprüche auf eine richtige Wohnung herunterschrauben musste:
Dass Häuser aus so vielen einzelnen Steinen bestanden, dass so viele Steine, mit denen einmal ein Haus errichtet worden war, einen gewaltigen Berg ergaben, in dessen Ritzen sich Staub ansammelte, Erde, in der sich Samenkörner festsetzten und trieben, erstaunte ihn. Auch der Geruch der Stadt war ihm fremd, branddick und feucht zugleich, es war ein Geruch, wie er ihn noch nie gerochen hatte. 64.
Ihm blieb
nichts anderes übrig, als sich ein Zimmer zu mieten, Platz für seine Frau war
nicht vorhanden, so dass sie sich Zeit ließ, nachzureißen.
Die Tochter
Selma war vier Jahre alt, als sie Deutschland verließ, Georg(e) war sieben. Nach
dem Krieg nahmen die Eltern mit Hilfe der Familienzusammenführung erneut Kontakt zu den Kindern auf und die Mutter
fand heraus, dass Selma in ihrer Fantasie die Mutter für tot erklärte, denn
wäre sie nicht tot, dann würde sie sich bei ihren Kindern melden und sie wieder
zurückholen. Selma entwickelte über all die Jahre Fantasien á la Ödipus und
stellte sich vor, wie ihr Vater ihr Lebensretter wurde. Da war kein Platz mehr für
die Mutter.
Wie er mit einem weißen Schiff nach Kuba gefahren sei, komme er eines Tages zurück und hole sie ab, tröstete sich das Mädchen. Und Selma spann diese Vorstellung weiter, malte sie aus zu einem vollkommenen Tagtraum. Es war eine umgewidmete Fantasie vom weißen Ritter oder vom Prinzen, der sie heimholt oder entführte, das war gleichgültig. Wo er war, würde ihr Heim sein, er würde ihr ein Heim, ihrem unsicheren Leben einen Halt und einen Sinn geben. Verständlich war auch, dass in dieser heftigen Hoffnung auf die Rückkehr des Vaters die Mutter unbewusst geopfert werden musste, damit sie, Selma, an die Stelle der Geliebten treten konnte. Und es gab auch noch eine andere Befriedigung in der Fantasie vom Vater, der mit einem weißen Schiff käme: er käme gewiss zu IHR. Es gab keine Konkurrentin, nirgendwo, er suchte sie, Selma, und keine andere, die Mutter war tot, sie, die Verlorene, die in zu Suffolk abgestellte Selma, war das Ziel seiner Wünsche. 149f
Diese
Textstelle hat mich nochmals besonders berührt, besonders betroffen gestimmt.
Eine andere
Szene fand ich interessant. Die
Familienzusammenführung scheiterte, aber nicht in Folge des Gesetztes. George war schon zu groß, um ihn
wieder aus seiner vertrauten Gegend rauszureißen. Er wollte in England bleiben
und dort mit 18 Jahren englischer Staatsbürger werden. Selma, 14jährig, befand
sich unfreiwillig wieder in Deutschland bei den Eltern. Sie war recht
unglücklich, versuchte aber ihr Bestes. Beide Kinder waren bei einer
liebevollen Pflegefamilie untergebracht, Bauern, die ihnen beibrachte, mit Tier
und der Natur umzugehen. Sie lernte dort auch Pilze sammeln, die guten von den
schlechten Pilzen zu unterscheiden. Also begab sie sich auch in Deutschland auf
Pilzsuche, und kam mit essbaren Pilzen wieder zurück, und briet sie in der
Pfanne. Die Mutter war verärgert, nahm die Pfanne wieder vom Herd und entsorgte
alle Pilze in den Müll.
Einmal möchte Selma auch nett sein, ihrer Mutter etwas Liebes tun(…). Von ihren Streunereien durch die Wiesen und Wälder bringt sie Pilze mit, sie kennt sich aus, sie hat mit den großen Mädchen in England Pilze gesammelt. Sie putzt sie und schmurgelt sie in der Pfanne, als Claire aus der Molkerei kommt. Und sie hatte auch die deutschen Wörter gelernt. Maronenröhrling, Wiesenchampignons. Aber Claire freute sich nicht, sie sah in die Pfanne, sah die strahlende Selma, und auf einmal geriet sie in Panik. Sie, die Berlinerin, verstand nichts von Pilzen, und sie nahm auch an, dass Selma nichts von Pilzen verstand. Und wenn sie etwas verstand, hatte sie einen teuflischen Plan: Sie wollte ihre Mutter vergiften. Dann wäre sie frei. Claire nahm die Pfanne und schüttete sie in den Abfall. 164
Das Misstrauen,
das sich hauptsächlich zwischen Mutter und Tochter entwickelte, war auch damit
zu erklären, dass sie sich fremd gegenüber waren, die Politik hatte die Familienmitglieder
zu Fremden gemacht. Selma zeigte sich der Mutter gegenüber distanziert und
ablehnend und erwies sich als schwer erziehbar. Selma, die wieder zurück nach
England zu ihrem Bruder und den Pflegeeltern wollte.
Die Reaktion
ihrer Eltern fand ich gelungen, gehe aber nicht näher darauf ein und verweise auf das Buch.
Da ja das Buch
den Titel Landgericht trägt, so wird
es Zeit, ein paar Textpassagen dazu einzubringen.
Richard
Kornitzer machte sich über seinen Berufsstand und über die Haltung dieser
Gedanken, und findet dazu einen Text eines Staatsrechtslehrer. Was macht einen
guten Richter aus?
Welche Eigenschaften, welche Haltung muss der Richter haben, wenn er den ethischen Anforderungen seines Berufsstandes entsprechen will? Der Richter muss in erster Linie Mensch sein, er muss als solcher Verständnis, Güte und Humor auch für menschliche Schwächen zeigen. (…) Deshalb unterliegt der politische Irrtum niemals der richterlichen Beurteilung. Wer sich politisch geirrt und damit sein Volk geschädigt hat, kann und muss unter Umständen aus dem politischen Leben ausgeschaltet und damit politisch unschädlich gemacht werden, aber irgendwelcher strafrechtlichen Beurteilung unterliegt er nicht. Der echte Richter wird deshalb eine Verurteilung wegen politischen Irrtums immer ablehnen, wenn nicht in seinem Gefolge strafrechtliche Tatbestände zur Beurteilung stehen.19Kornitzer trat als Richter im Zivilrecht selbst zur Anklage in eigener Sache, da sein Antrag auf Wiedergutmachung bei der Wiedergutmachungsbehörde nicht durchging, so setzte er sich einem langen Kampf aus von mehreren Jahren, ihn dieser Kampf aber gleichzeitig gesundheitlich schwächte, sowohl körperlicher als auch psychischer Art. Ich weiß nicht, ob ich mir diesen Stress angetan hätte. Ich glaube, ich wäre dankbar, dass ich nicht zu den sechs Millionen jüdischen Menschen gehören würde, die alles verloren hatten.
Neue Krankheitsbilder, die keinem gängigen Schema zuzuordnen waren, mussten diagnostiziert und den Ämtern vermittelt werden: Entschädigungsneurosen, Entwurzelungsdepression, erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel. (…) Die Bearbeitung der Anträge Erfolge im Schneckentempo. Bei den Behörden sei die Meinung verbreitet, etwa ein Drittel der Antragsteller seien Betrüger. 386f
In Kornitzers
Seele entwickelte sich immer mehr eine recht starke Neurose. Er erkrankte so schwer,
dass seine Frau als die Bevollmächtigte für ihn die Widersprüche und den
Schriftverkehr weiterhin tätigte. Kornitzer hörte nicht auf für die
Gerechtigkeit zu kämpfen. Auch zitierte er aus dem Grundgesetz:
Art. drei, Abs. III. Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden.Art. 97,Abs. I. Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. 434
Seine
Schadensersatzansprüche sowohl für sich als auch für seine Frau wurden nur im geringen
Maße erstattet. Und das erst nach vielen, vielen Jahren.
Der Buchtitel zeigt mir inhaltlich, dass das Landgericht
in Deutschland auch nach dem Nationalsozialismus weiterhin in Frage gestellt
werden musste. Die von den Nazis geschädigten jüdischen Menschen wurden auch
nach dem Krieg oftmals diskriminiert und bekamen ihre Rechtsansprüche auf
Wiedergutmachung entweder nicht in vollem Maße zu- oder ganz abgesprochen.
Weitere interessante Szenen sind dem Buch zu entnehmen. Berührt hat mich z. B. noch Richard Kornitzers Leben in Kuba und verweise auch hier auf das Buch.
Ich beende
hiermit meine Buchbesprechung. Ich weiß, dass dieses Buch noch lange in mir
arbeiten wird. Aber ich möchte nicht zu den Menschen gehören, die aufgehört
haben, über den Nationalsozialismus und den Faschismus nachzudenken, mit der
Begründung, dass mittlerweile viele Jahrzehnte seit dem vergangen seien und man
nun schließlich einen Schlussstrich ziehen müsse.
Ich hoffe, dass ich niemals solche Gedanken in mir entwickeln werde... .
Anm. d. Autorin: Die in fettdruckten Textstellen eines Zitates sind durch mich hervorgehoben
Anm. d. Autorin: Die in fettdruckten Textstellen eines Zitates sind durch mich hervorgehoben
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Manchmal muss die Wahrheit erfunden
werden
(Siegfried
Lenz)
Gelesene Bücher 2013: 26
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