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Sonntag, 29. November 2020

Stefano Mancuso / Die unglaubliche Reise der Pflanzen (1)

Foto: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Ein wunderbares, inspirierendes Sachbuch zur Pflanzenkunde, das mich sehr nachdenklich gestimmt und mein Bewusstsein zu dem Leben der grünen Gewächse noch weiter geschärft hat. Man bekommt es hier mit vielen neuen Erkenntnissen zu tun, von denen ich zuvor noch nichts gehört habe. Aber manches kannte ich schon durch die Bücher von Peter Wohlleben, nicht nur, dass Pflanzen in der Lage sind, untereinander zu kommunizieren, sondern sie wie die anderen Mitseelen auch, Individuen seien. Ein paar weitere wichtige Aspekte fand ich äußerst interessant, denn ich wusste nicht, dass Pflanzen ein Geschlecht haben und sie demnach auch geschlechtsfähig wären und sie sich durch sexuelle Fortpflanzung vermehren würden. Wie sie das machen, hat Mancuso sehr schön in seinem Buch geschildert. 

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Um was geht es in diesem Buch?
Im ersten Kapitel geht es um Pflanzen als Pioniere, als Kämpfer und Heimkehrer. Im zweiten Kapitel geht es um Flüchtlinge und Eroberer. Im nächsten Kapitel bezeichnet der Autor die Pflanzen als Kapitäne, dann als Einsiedler und als Anachronisten zum Schluss. In jedem Kapitel geht der Autor auf diverse Pflanzenarten ein und beschreibt sie in deren Unterschiedlichkeit und  Individualität.

Mancuso betrachtet die Pflanzen durch ihre Verwurzelung als sesshafte Wesen, die aber nicht unbeweglich seien. Er beschreibt recht anschaulich, wie diese Pflanzen es schaffen, sich trotz ihrer Verwurzelung überall auf der Welt zu verbreiten und zu vermehren.

Er geht auch auf Pflanzen ein, die in Asien ihren Ursprung haben, und sie es fertiggebracht haben bis ins 17 Jhd. auch in Europa anzukommen und sich hier anzusiedeln. Mancuso beschreibt diesen Prozess als eine Migrationsbewegung. Migrationsbewegung, damit hatte ich bisher immer Flüchtlinge oder Arbeitsmigrant*innen in Verbindung gebracht. Nein, hier sind nicht die Menschen gemeint, sondern die Pflanzen, die migriert sind. Verursacht durch Nachbarpflanzen wie die Bäume oder durch Winde, durch Blätter oder durch Tiere, die die Samen als Transportpartner verstreut bzw. weitergetragen haben. Selbst über Meere gelangten verschiedene Samen auf europäisches Festland, ohne dass sie durch das Salzwasser eine Zerstörung erfuhren.

Wenn man sich mit Migrationsbewegung befasst, genügt ein Blick auf die Pflanzen, um zu begreifen, dass es sich dabei um einen unaufhaltsamen Prozess handelt. Mithilfe von Spuren, Samen und allen verfügbaren Transportmitteln verbreiten sich die Gewächse von Generation zu Generation und erobern auf diese Weise neue Lebensräume. (202, 10)  

Der Autor zeigt auch auf, wie stark die Natur ist, dass selbst auf Ukrainisch kontaminiertem Boden durch das Reaktorunglück Tschernobyl zu beobachten sei, wie dort neue Pflanzen entstehen. Oder auf Fukushima in Japan. 2011 erlitt Fukushima durch ein Erdbeben einen Atomunfall, und dort sei ebenso zu beobachten, wie neue Pflanzen auf der kontaminierten Erde wachsen und sich auch Wildtiere ansiedeln.

In Fukushima überlebten drei Bäume das Reaktorunglück. An allen drei Bäumen soll jeweils eine Narbe zu sehen sein.

Es tröstet, dass die Natur symbolisch gedacht unser Desaster verzeiht. Aber wenn wir weiterhin achtlos mit der Natur umgehen und sie zerstören, dann zerstören wir in erster Linie uns. Und wir werden uns von der Zerstörung nicht erholen, die Pflanzen aber schon. Deshalb gilt es, achtsam mit der Natur umzugehen.

Anscheinend ist der Mensch noch um einiges tödlicher für Pflanzen als radioaktive Strahlung. Durch sein Fernbleiben wurde ungewollt ein riesiges Naturschutzgebiet geschaffen. Trotz der Strahlung ist die pflanzliche und tierische Vielfalt inzwischen größer als vor der Nuklearkatastrophe. Heute finden sich hier Luchse, Waschbären, Rehe, Wölfe (… ) unterschiedliche Vogelarten, Hasen und Eichhörnchen. Sogar der vor über einem Jahrhundert verschwundene Braunbär ist zurückgekehrt. (23) 

Macht dieses Zitat nicht nachdenklich? Dass der Mensch für die Umwelt gefährlicher ist als radioaktive Strahlen? Das bedrückt mich, wenn ich dies lesen muss.

Und die Pflanzen? Sie machten es sogar noch besser als die Tiere. Pripjad war eine Stadt mit etwa 50.000 Einwohnern, in der auch die meisten Mitarbeiter des nur drei Kilometer entfernten Kernkraftwerks lebten. Sie wurde unmittelbar nach dem GAU vollständig evakuiert. Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, einen detaillierten Fotobericht über den heutigen Zustand Pripjad zu sehen. Es ist unfassbar, aber 30 Jahre nach der Katastrophe ist die ganze Stadt wie ein ukrainisches Angkor Wat mit Pflanzen bedeckt. Pappeln wachsen auf Dächern und Birken auf Terrassen, während Büsche aus dem Asphalt sprießen und sechsspurige Straße sich in grüne Flüsse verwandelt haben. (Ebd) 

Der Autor bezeichnet die Emigration der Pflanzen auch als Zeitreisende. Durch alle Zeiten reisten Pflanzen mithilfe von Transportpartnern durch den gesamten Erdball.

Zeitreisende existieren - zumindest solche, die aus der Vergangenheit zu uns in die Gegenwart gelangen. Sie sind überall zu finden und so zahlreich, dass wir sie schon gar nicht mehr wahrnehmen. Wer sind sie? Natürlich die Pflanzen - wer denn sonst? Einige Arten, vor allem Bäume, haben dank ihrer extremen Langlebigkeit, mit der kein Tier sich messen kann, ganze Epochen überdauert, um bis in die heutige Zeit zu überleben. Andere wiederum verwahren ihre Keimlinge in unglaublich widerstandsfähigen Samen und ermöglichen auf diese Weise ihren Nachkommen die Reise durch Raum und Zeit. (78)

Heimische Pflanzen? Gibt es sie?

Die meisten invasiven Tier - oder Pflanzenarten, die wir heute kennen, sind auf diese Weise zu uns gelangt. Und es gibt sehr viel mehr biologische Invasoren, als man meinen möchte. Tatsächlich sind zahlreiche Arten, von denen wir glauben, sie seien schon immer Teil unserer Umgebung gewesen, erst von mehr oder weniger langer Zeit eingewandert. Viele Pflanzen, die wir heute als Teil unseres kulturellen Erbes betrachten, waren ursprünglich Fremde, die sich inzwischen jedoch so gut integriert haben, dass wir sie nicht mehr als solche erkennen. (34)

Interessant fand ich auch die Genmanipulation verschiedener Pflanzenarten, deren Auswirkungen auf diese Pflanzen mir nicht richtig bewusst war. Man raubt ihnen dadurch nicht nur ihre Identität, sondern auch ihre Widerstandskraft. Die Genmanipulation durch die Lebensmittelindustrie birgt das Risiko, Pflanzen in ihrer Art auszurotten. Wer hat schon einmal eine Banane mit Samen gesehen? Ich zumindest nicht. Und bald wird es auch keine Trauben mit Kernen mehr geben und auch die Avocado ist auf bestem Weg, ihren Kern zu verlieren. Die Gefahr ist, dass diese Früchte, Tochterpflanzen genannt, anfällig sind für bestimmte Krankheiten. Sie sind nicht mehr resistent genug, diese abzuwehren. Eine Massenabfertigung ähnlich wie wir sie von der Tierhaltung aus der Landwirtschaft her kennen.

Beraubt man eine Pflanze jedoch die Möglichkeit, ihre eigenen Samen zu produzieren, degradiert man sie vom Lebewesen zum bloßen Produktionsmittel in den Händen an der Lebensmittelindustrie, die allein darüber entscheidet, welches Individuum sich wann, wo und wie vermehrt. Und das ist noch nicht alles. Eine kernlose Pflanze kann sich nicht mehr durch sexuelle Fortpflanzung vermehren, sondern nur noch vegetativ. Auf diese Weise werden einige wenige Individuen millionenfach reproduziert, Tochterpflanzen, die mit ihrer Mutterpflanze genetisch identisch sind. Die daraus resultierende geringere genetische Vielfalt birgt große Gefahren, denn ein einziger Parasit oder eine einzige Krankheit kann genügen, um ganzen Populationen den Garaus zu machen. (132f)

Dies waren nur ein paar Gedanken, die ich hier festgehalten habe. In dem Buch finden sich noch eine Reihe weiterer Gesichtspunkte, die nachzulesen mehr als interessant sind.

Zum Schreibkonzept
Ein sehr schöner, flüssiger Schreibstil. Das Buch ist auf 138 Seiten in sechs Kapiteln mit Unterthemen gegliedert und in jedem Kapitel behandelt der Autor verschiedene Pflanzenarten. Sehr schöne kontinentale Aquarellzeichnungen sind mitabgebildet. Das Buch ist Mancusos Eltern gewidmet. Zum Schluss findet man ein paar Anmerkungen.

Cover und Buchtitel  

Beides super gut getroffen. Vor allem der Buchtitel hält, was er verspricht. 

Meine Meinung
Es hat mir viel Freude bereitet, dieses Buch zu lesen und es weckt meine Lust, am Thema dran zu bleiben.

Mein Fazit
Ein sehr zu empfehlendes Sachbuch nicht nur für Botaniker oder Pflanzenliebhaber*innen. Auch für ganz gewöhnliche Leser*innen wie mich hilft es, die eigene Sichtweise zu unseren grünen Mitseelen zu hinterfragen und auch das eigene Konsumverhalten ein wenig zu revidieren.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Ich habe vor ein paar Jahren eine italienische Bücherfreundin auf Facebook  getroffen, die mitbekommen hat, dass ich viele Fachbücher zu Tieren lese und hat mir Mancuso ans Herz gelegt. Ja, den Pflanzen parallel zu den Tieren auch Aufmerksamkeit widmen zu sollen, habe ich als ihre Botschaft aufgefasst. Ich habe zwar Peter Wohlleben eifrig gelesen, aber wen kenne ich schon von Botanikern anderer Länder? Und schon gar nicht aus Italien. In den deutschen Buchläden finden sich immer belletristische Genres zur italienischen Literatur, die griffbereit in den Regalen stehen. Besonderheiten müssen bestellt werden. Aber wenn man einen Autor hier nicht kennt, so kann es auch nicht bestellt werden. Deshalb ein großes Dankeschön an Giovanna Calvo, die in Kalabrien lebt.

Schön fand ich auch, dass meine neue Bücherfreundin P. G. das Buch als Bibliothekarin für ihre Stadtbibliothek anschaffen konnte, nach dem sie es selbst gelesen hat. Genauso wie ich war sie von dem Buch sehr angetan.

Danke auch an P. G.

Hier geht es zu ihrer Buchbesprechung.

Meine Bewertung

Meine Bewertung Sachbuch

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck und Verständlichkeit
2 Punkte: Sehr gute Umsetzung der Thematik.
2 Punkte: Sehr gute aufklärerische und kritische Verarbeitung
2 Punkte: Logischer Aufbau, Struktur und Gliederung vorhanden.
2 Punkte: Anregung zur Vertiefung, zum weiteren Erforschen und zur Erkundung
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Zwölf von zwölf Punkten.

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Das Leben findet immer seinen Weg.
(Stefano Mancuso)

Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese mit Verstand und mit Herz!
Um die Welt, Menschen und die Tiere
besser zu verstehen.

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

„Bäume haben Wurzeln, doch Menschen haben Beine, und der liebe Gott wird sich schon bei der Einrichtung der Welt auf diese Weise etwas gedacht haben. Im Grunde sind wir nicht dazu da, ortsfest wie ein Baum zu leben“.
(Denis Scheck im Interview mit Iris Wolf, aus ARD-Buchmessenbühne 2020)

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)