Montag, 3. April 2017

Ian McEwan / Kindeswohl (1)


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Ich habe lange dafür gebraucht, obwohl es nur 224 Seiten hat. Es ist halt kein Buch, bei dem man wie ein Schnellzug so durch die Seiten rast. Viele interessante, aber sehr ernste Themen werden darin behandelt. Ich habe schon auf Facebook dazu geschrieben, dass das Buch sehr viele ethische Fragen aufwirft, auf die man keine 08/15-Antworten finden kann. Hauptsächlich geht es um die aktive und die passive Sterbehilfe, und über lebenserhaltende Maßnahmen. Eine Gradwanderung, denn wann darf ein Mensch über sein Schicksal selbst entscheiden, und wann nicht, vor allem, wenn es um minderjährige PatientInnen geht, wie in diesem Band, das mit dem treffenden Buchtitel Kindeswohl deklariert ist.

Auf den ersten Seiten bekommt man es mit siamesischen Zwillingen zu tun und man mit der Frage konfrontiert wird, ob die Medizin das Recht hat, nach der Geburt ein Zwilling zu töten, um das andere zu retten? Die Kirche sagt nein, das sei allein Gottes Willen, zu entscheiden, auch wenn dabei das Risiko besteht, dass beide Kinder sterben. Aber einfach hat es auch das Gesetz nicht, denn … 
… (d)as Gesetz selbst hatte ähnliche Probleme, erlaubte es Ärzten doch andererseits, bestimmte unheilbare Patienten ersticken, verdursten oder verhungern zu lassen, und verbot andererseits die sofortige Erlösung durch eine tödliche Spritze. (2016,37)

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Familienrecht ist das Spezialgebiet der Richterin Fiona Maye am High Court in London: Scheidungen, Sorgerecht, Fragen des Kindeswohls. In ihrer eigenen Ehe ist sie seit über dreißig Jahren glücklich. Da unterbreitet ihr Mann ihr einen schockierenden Vorschlag. Und zugleich wird ihr ein dringlicher Gerichtsfall vorgelegt, in dem es um den Widerstreit zwischen Religion und Medizin und um Leben und Tod eines 17-jährigen Jungen geht.

Brisant geht es schließlich in den Szenen zu, als es um den siezehnjährigen Adam geht, der an Leukämie erkrankt ist. Er und seine Familie sind Mitglied einer religiösen Sekte, die eine Bluttransfusion verbietet, obwohl sich diese lebensrettend auf das Leben des Jungen auswirken könnte. Der Junge selbst lehnt die Bluttransfusion ab, da er von den Eltern und von der Kirchengemeinde stark beeinflusst ist. Das Krankenhaus wendet sich an das Gericht. Richterin Fiona wird beauftrag, sich dieses Falls anzunehmen. Sie entscheidet in diesem wie auch in anderen Fällen über Leben und Tod. Erstaunlich, dass selbst Adams Eltern ablehnend der Bluttransfusion gegenüberstehen. Sind Kinder nicht das Wichtigste, was Eltern besitzen können? Wie dieser Rechtsstreit ausgetragen wird, möchte ich an einem kurzen Zitat belegen. Im Gerichtssaal, ein Dialog zwischen Dr. Carter, der den Jungen im Krankenhaus behandelt und der Anwalt des Mandanten Mr Grieve:
>>Sie stimmen mir doch zu, Mr. Carter, (…) dass es ein fundamentales Recht eines jeden Erwachsenen ist, über seine ärztliche Behandlung frei zu entscheiden?<<
>>In der Tat.<<
>>Und dass eine Behandlung ohne die Einwilligung eines Patienten eine Verletzung seiner persönlichen Freiheit darstellen würde, womöglich gar eine Körperverletzung?<<
 >>Das sehe ich auch so.<<
>>Und Adam ist doch, nach den gesetzlichen Bestimmungen, fast schon erwachsen.<<
>>Auch wenn er morgen früh achtzehn werden würde, wäre er heute noch minderjährig.<< (76)

Das Streitgespräch setzt sich noch lange fort, es bleibt also spannend, wie es letztendlich entschieden wird.

Die Richterin Fiona Maye, die beruflich mit vielen unterschiedlichen Menschenschicksalen zu tun bekommt, hat eigene Sorgen. Ihr Mann begeht einen Seitensprung, weil sie beruflich zu sehr eingespannt ist, und kaum noch Zeit hat, sich im Rahmen ihrer Ehe um die eigenen Bedürfnisse und um die sexuellen Bedürfnisse ihres Mannes zu kümmern. Ihr Mann macht ihr ein Geständnis ... Es kommt zu einem Eklat.

In diesem Ehezwist kommt einem die Frage auf, ob Fionas Mann nicht das Recht hätte, seine sexuellen Bedürfnisse mit einer anderen Frau zu befriedigen, wenn die eigene Frau dafür nicht mehr zu gewinnen sei? 


Mein Fazit zu dem Buch?

Wie oben schon gesagt, hat mir das Buch sehr gut gefallen, sodass ich vorhabe, mir erstmal noch zwei andere Bücher von dem Autor vorzunehmen und so denke ich dabei an Die Nussschale und an Abbitte. Wenn diese beiden Bücher bei mir ebenso gut ausfallen sollten, erkore ich auch diesen Autor zu meinen Favoriten, und mache daraus ein Leseprojekt. 

Auch das Cover hat mich sehr angesprochen. Kein Foto, sondern ein Gemälde des jungen Adams. Anfangs wusste ich mit diesem Profil noch gar nichts anzufangen, da der Ehezwist der beiden Eheleute im Vordergrund stand, und ich dieses Cover noch gar nicht einzuordnen wusste ...  Auch den Titel fand ich gut gewählt.

Allerdings wurde Adam auf der Seite 112 mittig als schwarzhaarig und mit dunklen Augen beschrieben. Das entspricht aber nicht dem Profil auf dem Bild. Der Junge hat hier blaue Augen, und die Haare sind eher braun und mit schwarzen Strähnen abgebildet. Sollen die schwarzen Strähnen ein Kompromiss sein? Denn darf ein englischer Junge nicht schwarzhaarig sein? Und müssen es bei einem Engländer immer blaue Augen sein? Ist die Natur tatsächlich so einseitig? Nein, das ist sie eigentlich nicht, nur der Mensch ist es, der es nicht schafft, die Natur, so wie sie ist, und zwar bunt, zu akzeptieren …

Aber alles andere fand ich passend, insgesamt fand ich das Buch sehr gut gelungen.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Zehn von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar beim Diogenes Verlag bedanken.

   Taschenbuch: 224 Seiten, 12,00 €
    Verlag: Diogenes; Auflage: 1 (24. August 2016)
    ISBN-10: 3257243774

Und hier geht es auf die Website von Diogenes.
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