Eine Buchbesprechung zur
o. g. Lektüre
Endlich mal wieder eine Lektüre,
die man als gehobene bezeichnen kann.
Das Buch hat nicht nur Tiefe, es
hat auch eine Seele. Man spürt ganz deutlich den Autor hinter der Geschichte,
jemand, der weiß, wovon er schreibt. Er hat es nicht nötig, mit reihenweise
grausamen Gewaltakten der Nazis seine Seiten zu füllen ...
Bücher, die auf mich seelenlos
wirken, empfinde ich als sehr kalt …
In diesem Buch geht es auch um
Gewalt, aber es ist nicht die Gewalt, von der viele schreiben, wie zum Beispiel
eine Aneinanderreihung verschiedenster NZ-Gewalttaten. Nein, mit dieser Form
von Gewalt wird man hier verschont, und trotzdem erlebte ich das Buch als recht
authentisch in seiner nationalsozialistischen-Thematik.
Zum Schluss hin wurde ich ein
wenig hektisch, weil ich die Befürchtung hatte, dass die im Buch beschriebene
Problematik mit einem offenen Ende ungelöst bleiben würde …
Der Protagonist und Icherzähler
ist der achtzehnjährige Abiturient Hans Bronstein, der mit seinem Vater
permanent im Clinch steht. Die Handlung wird von Hans aus zwei Perspektiven
erzählt. Aus der Zeit bis 1972 und von 1973. In der Zeit bis 1972 lebte der
Vater noch und 1973 war der Vater tot. Diese Erzählperspektiven wechseln sich
in den Abläufen ab.
Mir war Hans Bronstein nicht
wirklich sympathisch. Während sein Vater und seine um 19Jahre ältere Schwester
Elle mit der Nazi-Vergangenheit zu kämpfen haben, lässt dies Hans völlig kalt.
Nicht, dass er in einen Loyalitätskonflikt hineingeraten ist, nein, ich hatte
von Anfang an schon den Eindruck, dass er sich auf die Seite des ehemaligen
Nazi-Wärters gestellt hat, weil er nicht reif genug war, die erlittenen Qualen
seiner jüdischen Familienmitglieder realistisch einzuschätzen. Die Handlung
spielt sich in der ehemaligen DDR ab. In dem Deutschland, in dem, aus der Sicht
des Vaters, minderwertigere Menschen leben würden.
Zur Erinnerung gebe ich erneut den
Klappentext rein:
Hans Bronstein ist achtzehn Jahre alt und will vom Schicksal seines Vaters, als Juden und ehemaligen KZ-Häftlings, nichts wissen. Doch dann entdeckte er, dass dieser im Waldhaus der Familie einen einstigen KZ-Aufseher gefangen hält, um ihn zu foltern und zum Geständnis seiner Untaten zu zwingen. Jetzt kann Hans seine Augen vor dem Trauma seines Vaters nicht mehr verschließen. (...)Es kommt zu einer heftigen Auseinandersetzung um Schuld und Sühne, um Vergebung und Selbstjustiz. Hans kann das Verhalten seines Vaters nicht billigen und entschließt sich, den Gefangenen freizulassen. Doch als er in der Waldhütte ankommt, wartet eine schreckliche Überraschung auf ihn.
Hans ist ein Kind aus der Nachkriegszeit, lt. meiner
Berechnung müsste er Jahrgang 1955 sein.
Seine Schwester namens Elle, Jahrgang 1936, könnte seine Mutter sein, dermaßen groß ist der Altersunterschied zwischen den beiden Geschwistern. Elle wurde im
Nationalsozialismus vom Vater zum Schutz vor den Nationalsozialisten einem
deutschen Bauer übergeben. Der Vater musste eine hohe Gebühr an den Bauern
entrichten, und als der Nationalsozialismus vorbei war, und Bronstein aus dem
Lager wieder befreit wurde, holte er seine Tochter nach sieben Jahren wieder
zurück. Vorher fehlten ihm die Mittel. Der Bauer, der das Mädchen schwer
misshandelt hatte, verlangte eine weitere Gebühr, die so hoch war, dass
Bronstein sich das Geld woanders hat borgen müssen. Es brauchte viel Zeit, bis
er zu dem Geld kam ... Elle wurde durch den deutschen Bauer so schwer
malträtiert, dass sie davon einen schweren,
irreparablen psychischen Schaden davontrug. Elle war nicht mehr
gesellschaftsfähig, und entwickelte schwerste Formen von Aggressionen, die sie
an Menschen richtete, hauptsächlich zu Menschen, die sie an die Nazis erinnern
ließen. Elle kam in ein psychiatrisches Krankenhaus, in dem sie lebenslang
untergebracht blieb.
Bronstein und seine Frau
trauerten um die heißgeliebte Tochter, und als sie sahen, dass Elle von ihrem
Trauma nicht mehr genesen konnte, entschieden sie sich nach vielen Jahren ein
weiteres Kind zu bekommen und hofften dadurch, Elle ersetzen zu können. Mutter Bronstein starb kurz nach Hans´ Geburt an einer
schweren Krankheit ...
Hans erlebt durch Zufall, dass sein Vater mit zwei anderen
Männern einen ehemaligen KZ-Wärter gekidnappt hat und ihn mit schweren
körperlichen Übergriffen drangsalierten, bis
dieser sich zu dem Geständnis bereiterklärt hatte, die Juden früher misshandelt zu
haben. Die Form der Gewaltverbrechen werden nur angedeutet beschrieben.
Hans ist empört, zeigt kaum Verständnis und geht völlig
rational an das Problem heran und stellt sich folgende Frage:
Aber war zwischen Tat und Gegentat nicht so viel Zeit vergangen, dass ein Affekt als mildernder Umstand nicht mehr infrage kam? Darf einer, der mit dreißig Jahren geschlagen wird, mit sechzig zurückschlagen?
Man stellt sich als Leserin selbst
auch die Frage: Lässt sich ein Trauma wie sie die Juden im
Nationalsozialismus erlitten haben, heilen? Ist Aussöhnung möglich? Zumindest
brauchen die Opfer sehr viel psychologische Unterstützung,
die Hans´ Vater, seine Schwester und viele andere in
dieser Lage einfach nicht hatten. Sie wurden
zwar materiell entschädigt, psychologisch betrachtet blieben sie mit den
erlittenen Qualen allein …
Hans` Vater versucht immer wieder mit seinem Sohn über diese
Zeit zu reden, allerdings ohne sichtbaren Erfolg. Zwischen den beiden kommt es zu
großen Konflikten. Hans´ Sichtweise:
>>Und wenn ihr hundertmal findet, dass die Leute und die Gerichte und das Land einen Dreck wert sind: woher nehmt ihr das Recht, euch wie die Fürsten über alles zu stellen.(…) Gibt es nicht jedes Mal Unglück, wenn Leute sich Rechte herausnehmen, die ihnen nicht zustehen? (…) Wenn ihr euch zu Richtern dieses Mannes aufspielt, (…) dann verletzt ihr nicht nur Gesetze …<<
Man kann nun wirklich nicht sagen, dass die Kidnapper sich
wie Fürsten verhielten. Vater Bronstein litt selber an seiner grausamen Tat.
Hans schleicht sich in das Gartenhaus des Vaters, nahe am
Waldrand, in dem er den ehemaligen KZ-Aufseher mit Handschellen und mit
Fußfesseln auf dem Bett angekettet vorfindet. Er kommt mit einem Zweitschlüssel
rein, und die drei Kidnapper zeigen sich verwundert über Hans´ Erscheinen. Hans
sollte über diese
Handlung nicht unterrichtet werden.
Ursprünglich wollte Hans dieses Haus aufsuchen, um sich mit seiner Freundin
Martha darin zurückzuziehen. Er ist entsetzt über die Erscheinung des
Häftlings. Hans verriet nicht, dass er über einen Zweitschlüssel verfügte,
obwohl der Vater es ahnte, wollte ihn aber vor den Freunden nicht bloßstellen.
Hans verlässt das Haus und beschließt, den Häftling erneut aufzusuchen, wenn
die drei Kidnapper das Haus wieder verlassen hatten:
Auf einmal empörte es mich, wie grob sie ihn angekettet hatten: wie eine Bestie, der man keinen Zentimeter Spielraum lassen darf. Mir leuchtete zwar ein, dass es nicht genügte, das Häuschen zuzuschließen, es war nun einmal nicht ausbruchsicher; doch warum hatten sie ihn nicht so angebunden, dass er wie ein Mensch sitzen und sich drehen zu lassen und das Notwendigste tun konnte? Es kam mir vor, als hätten sie sich eine unnötige Grausamkeit zuschulden kommen lassen.
Nicht nur mich als Leserin stimmte Hans´ scheinbare
Neutralität ein wenig stutzig. Scheinbare Neutralität. Auf
dem zweiten Blick hegt Hans mehr Mitleid mit dem Häftling als mit seinem Vater. Die Reaktion des Vaters:
>>Warum bist du so gleichgültig? (…) Warum macht es dich nicht böse, wenn du an ihre Opfer denkst? Ich meine nicht nur die Toten, ich meine auch Leute wie mich und Elle. Ein bisschen mehr Aufgeregtheit bitte. (…) Weißt du denn nicht, auf welche Weise Elle zu ihrer Krankheit gekommen ist?<<.
Hans besucht seine Schwester regelmäßig in der Klinik und
vertraut ihr immer wieder Vaters radikales Vorgehen
gegenüber dem ehemaligen KZ-Aufseher an, weil
Elle angeblich so verständig … sei. Elle hört zu, äußert sich diesbezüglich aber erst nach vielen weiteren
Besuchen in einem Brief:
Wie kommst du darauf, dass ich so verständig bin und hilfsbereit und scharfsinnig und gewitzt? das alles bin ich Nicht, da kannst du jeden fragen …Niemand verlangt von dir
dass du ihm hilfst unserem Vater im Gegenteil, er hat es bei seiner Erledigung
auch ohne deine Hilfe schwer genug (…).
Der Brief zeigt, wie wenig Einfühlvermögen auch gegenüber
der Schwester Hans besitzt. Völlige Fehleinschätzung ihres Charakters beobachte ich auch dem Vater
gegenüber.
Nun bekommt Hans die Meinung auch von seiner Freundin Martha
zu hören, denn auch sie beobachtet Hans´ übertriebene Neutralität zu der
erlittenen Nazivergangenheit.
>>Ich weiß seit Langem, dass man über ein bestimmtes Thema mit dir nicht reden kann. (…) Kaum fängt ein Wort mit Jud an, bricht bei dir der Schweiß aus. Die wirklichen Opfer wollen andauernd Gedenktag feiern und Mahnwachen aufstellen, und du willst, dass geschwiegen wird. Du bildest dir vielleicht ein, das wäre das Gegenteil, aber ich sage dir: es handelt sich um dieselbe Befangenheit. Woher kommt die? Ich kenne deinen Vater nicht gut genug, aber ich kenne die anderen Einflüsse, denen du ausgesetzt bist: sind Sie so schlapp? Und hast du mir nicht immer erzählt, er hätte wunderbar unversehrt das Lager überstanden?<<
Hans zeigte daraufhin noch immer geringfügiges
Verständnis:
Musste man diesen Dreck bejubeln, nur weil die Eltern im Lager gewesen sind?
Bejubeln wohl nicht aber Mitgefühl zeigen ist das Mindeste, was man für diese Opfer tun kann.
Mein Fazit:
Rational betrachtet hat Hans natürlich recht, wo kämen wir
hin, wenn jeder zur Selbstjustiz greifen würde? Aber das macht nicht jeder ... Natürlich hat Hans auch in dem Punkt recht, dass der Häftling
ein Mensch ist ...
Empathisch betrachtet
haben allerdings aus meiner Sicht Vater und
Elle recht. So ein Grauen lässt sich nicht einfach aussöhnen und ich finde es
verständnislos, wenn sich ein Mensch nicht mal die Mühe macht, Geschichte auch
aus der Sicht Betroffener zu begreifen. Wenn wir alles mit dem Sachverstand
lösen könnten ... das gerade hat uns die
Geschichte aber gezeigt, wohin dies führt.
Waren es nicht die Juristen, die Ärzte, Chemiker und andere hochgebildete Leute,
die über Leben und Tod der Juden damals entschieden?
Deren Sachverstand sprach ganz klar für die Ausrottung der Juden … Und sie waren davon
überzeugt; zig selbstentworfene Theorien machten sie in ihrem mörderischen Tun so selbstsicher;
sie wussten ihre vernichtende Tat logisch zu begründen
... So viel zum Sachverstand … Ein Gemisch
zwischen Vernunft und Empathie wäre in der Zwischenmenschlichkeit wohl eher
angebracht …
Fehlende Empathie kann zur
Unmenschlichkeit führen. Es gibt viele Menschen, die versuchen, allein mit der
Rationalität über Recht und Unrecht ihrer Mitmenschen zu urteilen. Und dies
nicht nur in einer schweren
historischen Zeit des Nationalsozialismus´.
historischen Zeit des Nationalsozialismus´.
Dieses Werk ist recht facettenreich und
macht die Qualität einer guten literarischen Arbeit aus. Ich habe zwar
viel geschrieben, aber nicht alles Wichtige verraten. Es gibt noch viel zu
entdecken.
Das Buch erhält von mir wegen der Brisanz dieser sensiblen
Thematik, wegen der authentischen Darstellung des Inhalts und der Figuren zehn
von zehn Punkten.
_____
Ein Gedicht
in einer Übersetzung zu lesen, ist, als küsste man eine Frau durch einen
Schleier.
Wenn du ein
Buch in der Hand hältst, bist du ein Pilger an den Toren einer neuen Stadt.
(Anne
Michaels)
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