Montag, 22. Juni 2015

Jurek Becker / Bronsteins Kinder (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


Endlich mal wieder eine Lektüre, die man als gehobene bezeichnen kann.

Das Buch hat nicht nur Tiefe, es hat auch eine Seele. Man spürt ganz deutlich den Autor hinter der Geschichte, jemand, der weiß, wovon er schreibt. Er hat es nicht nötig, mit reihenweise grausamen Gewaltakten der Nazis seine Seiten zu füllen ...
Bücher, die auf mich seelenlos wirken, empfinde ich als sehr kalt …

In diesem Buch geht es auch um Gewalt, aber es ist nicht die Gewalt, von der viele schreiben, wie zum Beispiel eine Aneinanderreihung verschiedenster NZ-Gewalttaten. Nein, mit dieser Form von Gewalt wird man hier verschont, und trotzdem erlebte ich das Buch als recht authentisch in seiner nationalsozialistischen-Thematik.

Zum Schluss hin wurde ich ein wenig hektisch, weil ich die Befürchtung hatte, dass die im Buch beschriebene Problematik mit einem offenen Ende ungelöst bleiben würde …

Der Protagonist und Icherzähler ist der achtzehnjährige Abiturient Hans Bronstein, der mit seinem Vater permanent im Clinch steht. Die Handlung wird von Hans aus zwei Perspektiven erzählt. Aus der Zeit bis 1972 und von 1973. In der Zeit bis 1972 lebte der Vater noch und 1973 war der Vater tot. Diese Erzählperspektiven wechseln sich in den Abläufen ab.

Mir war Hans Bronstein nicht wirklich sympathisch. Während sein Vater und seine um 19Jahre ältere Schwester Elle mit der Nazi-Vergangenheit zu kämpfen haben, lässt dies Hans völlig kalt. Nicht, dass er in einen Loyalitätskonflikt hineingeraten ist, nein, ich hatte von Anfang an schon den Eindruck, dass er sich auf die Seite des ehemaligen Nazi-Wärters gestellt hat, weil er nicht reif genug war, die erlittenen Qualen seiner jüdischen Familienmitglieder realistisch einzuschätzen. Die Handlung spielt sich in der ehemaligen DDR ab. In dem Deutschland, in dem, aus der Sicht des Vaters, minderwertigere Menschen leben würden.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein: 
Hans Bronstein ist achtzehn Jahre alt und will vom Schicksal seines Vaters, als Juden und ehemaligen KZ-Häftlings, nichts wissen. Doch dann entdeckte er, dass dieser im Waldhaus der Familie einen einstigen KZ-Aufseher gefangen hält, um ihn zu foltern und zum Geständnis seiner Untaten zu zwingen. Jetzt kann Hans seine Augen vor dem Trauma seines Vaters nicht mehr verschließen. (...)Es kommt zu einer heftigen Auseinandersetzung um Schuld und Sühne, um Vergebung und Selbstjustiz. Hans kann das Verhalten seines Vaters nicht billigen und entschließt sich, den Gefangenen freizulassen. Doch als er in der Waldhütte ankommt, wartet eine schreckliche Überraschung auf ihn. 
Hans ist ein Kind aus der Nachkriegszeit, lt. meiner Berechnung  müsste er Jahrgang 1955 sein. Seine Schwester namens Elle, Jahrgang 1936, könnte seine Mutter sein, dermaßen groß ist der Altersunterschied zwischen den beiden Geschwistern. Elle wurde im Nationalsozialismus vom Vater zum Schutz vor den Nationalsozialisten einem deutschen Bauer übergeben. Der Vater musste eine hohe Gebühr an den Bauern entrichten, und als der Nationalsozialismus vorbei war, und Bronstein aus dem Lager wieder befreit wurde, holte er seine Tochter nach sieben Jahren wieder zurück. Vorher fehlten ihm die Mittel. Der Bauer, der das Mädchen schwer misshandelt hatte, verlangte eine weitere Gebühr, die so hoch war, dass Bronstein sich das Geld woanders hat borgen müssen. Es brauchte viel Zeit, bis er zu dem Geld kam ... Elle wurde durch den deutschen Bauer so schwer malträtiert, dass sie davon einen schweren, irreparablen psychischen Schaden davontrug. Elle war nicht mehr gesellschaftsfähig, und entwickelte schwerste Formen von Aggressionen, die sie an Menschen richtete, hauptsächlich zu Menschen, die sie an die Nazis erinnern ließen. Elle kam in ein psychiatrisches Krankenhaus, in dem sie lebenslang untergebracht blieb.

Bronstein und seine Frau trauerten um die heißgeliebte Tochter, und als sie sahen, dass Elle von ihrem Trauma nicht mehr genesen konnte, entschieden sie sich nach vielen Jahren ein weiteres Kind zu bekommen und hofften dadurch, Elle ersetzen zu können. Mutter Bronstein starb kurz nach Hans´ Geburt an einer schweren Krankheit ...

Hans erlebt durch Zufall, dass sein Vater mit zwei anderen Männern einen ehemaligen KZ-Wärter gekidnappt hat und ihn mit schweren körperlichen Übergriffen drangsalierten, bis dieser sich zu dem Geständnis bereiterklärt hatte, die Juden früher misshandelt zu haben. Die Form der Gewaltverbrechen werden nur angedeutet beschrieben.

Hans ist empört, zeigt kaum Verständnis und geht völlig rational an das Problem heran und stellt sich folgende Frage: 
Aber war zwischen Tat und Gegentat nicht so viel Zeit vergangen, dass ein Affekt als mildernder Umstand nicht mehr infrage kam? Darf einer, der mit dreißig Jahren geschlagen wird, mit sechzig zurückschlagen?
Man stellt sich als Leserin selbst auch die Frage: Lässt sich ein Trauma wie sie die Juden im Nationalsozialismus erlitten haben, heilen? Ist Aussöhnung möglich? Zumindest brauchen die Opfer sehr viel psychologische Unterstützung, die Hans´ Vater, seine Schwester und viele andere in dieser Lage einfach nicht hatten. Sie wurden zwar materiell entschädigt, psychologisch betrachtet blieben sie mit den erlittenen Qualen allein …

Hans` Vater versucht immer wieder mit seinem Sohn über diese Zeit zu reden, allerdings ohne sichtbaren Erfolg. Zwischen den beiden kommt es zu großen Konflikten. Hans´ Sichtweise:
>>Und wenn ihr hundertmal findet, dass die Leute und die Gerichte und das Land einen Dreck wert sind: woher nehmt ihr das Recht, euch wie die Fürsten über alles zu stellen.(…) Gibt es nicht jedes Mal Unglück, wenn Leute sich Rechte herausnehmen, die ihnen nicht zustehen? (…) Wenn ihr euch zu Richtern dieses Mannes aufspielt, (…) dann verletzt ihr nicht nur Gesetze …<<
Man kann nun wirklich nicht sagen, dass die Kidnapper sich wie Fürsten verhielten. Vater Bronstein litt selber an seiner grausamen Tat.

Hans schleicht sich in das Gartenhaus des Vaters, nahe am Waldrand, in dem er den ehemaligen KZ-Aufseher mit Handschellen und mit Fußfesseln auf dem Bett angekettet vorfindet. Er kommt mit einem Zweitschlüssel rein, und die drei Kidnapper zeigen sich verwundert über Hans´ Erscheinen. Hans sollte über diese Handlung nicht unterrichtet werden. Ursprünglich wollte Hans dieses Haus aufsuchen, um sich mit seiner Freundin Martha darin zurückzuziehen. Er ist entsetzt über die Erscheinung des Häftlings. Hans verriet nicht, dass er über einen Zweitschlüssel verfügte, obwohl der Vater es ahnte, wollte ihn aber vor den Freunden nicht bloßstellen. Hans verlässt das Haus und beschließt, den Häftling erneut aufzusuchen, wenn die drei Kidnapper das Haus wieder verlassen hatten: 
Auf einmal empörte es mich, wie grob sie ihn angekettet hatten: wie eine Bestie, der man keinen Zentimeter Spielraum lassen darf. Mir leuchtete zwar ein, dass es nicht genügte, das Häuschen zuzuschließen, es war nun einmal nicht ausbruchsicher; doch warum hatten sie ihn nicht so angebunden, dass er wie ein Mensch sitzen und sich drehen zu lassen und das Notwendigste tun konnte? Es kam mir vor, als hätten sie sich eine unnötige Grausamkeit zuschulden kommen lassen.
Nicht nur mich als Leserin stimmte Hans´ scheinbare Neutralität ein wenig stutzig. Scheinbare Neutralität. Auf dem zweiten Blick hegt Hans mehr Mitleid mit dem Häftling als mit seinem Vater. Die Reaktion des Vaters:
>>Warum bist du so gleichgültig? (…) Warum macht es dich nicht böse, wenn du an ihre Opfer denkst? Ich meine nicht nur die Toten, ich meine auch Leute wie mich und Elle. Ein bisschen mehr Aufgeregtheit bitte. (…) Weißt du denn nicht, auf welche Weise Elle zu ihrer Krankheit gekommen ist?<<.
Hans besucht seine Schwester regelmäßig in der Klinik und vertraut ihr immer wieder Vaters radikales Vorgehen gegenüber dem ehemaligen KZ-Aufseher an, weil Elle angeblich so verständig … sei. Elle hört zu, äußert sich diesbezüglich aber erst nach vielen weiteren Besuchen in einem Brief:
Wie kommst du darauf, dass ich so verständig bin und hilfsbereit und scharfsinnig und gewitzt? das alles bin ich Nicht, da kannst du jeden fragen …Niemand verlangt von dir
dass du ihm hilfst unserem Vater im Gegenteil, er hat es bei seiner Erledigung
auch ohne deine Hilfe schwer genug (…).
Der Brief zeigt, wie wenig Einfühlvermögen auch gegenüber der Schwester Hans besitzt. Völlige Fehleinschätzung ihres  Charakters beobachte ich auch dem Vater gegenüber.

Nun bekommt Hans die Meinung auch von seiner Freundin Martha zu hören, denn auch sie beobachtet Hans´ übertriebene Neutralität zu der erlittenen Nazivergangenheit. 
>>Ich weiß seit Langem, dass man über ein bestimmtes Thema mit dir nicht reden kann. (…) Kaum fängt ein Wort mit Jud an, bricht bei dir der Schweiß aus. Die wirklichen Opfer wollen andauernd Gedenktag feiern und Mahnwachen aufstellen, und du willst, dass geschwiegen wird. Du bildest dir vielleicht ein, das wäre das Gegenteil, aber ich sage dir: es handelt sich um dieselbe Befangenheit. Woher kommt die? Ich kenne deinen Vater nicht gut genug, aber ich kenne die anderen Einflüsse, denen du ausgesetzt bist: sind Sie so schlapp? Und hast du mir nicht immer erzählt, er hätte wunderbar unversehrt das Lager überstanden?<<
Hans zeigte daraufhin noch immer geringfügiges Verständnis:
Musste man diesen Dreck bejubeln, nur weil die Eltern im Lager gewesen sind?
Bejubeln wohl nicht aber Mitgefühl zeigen ist das Mindeste, was man für diese Opfer tun kann. 

Mein Fazit:

Rational betrachtet hat Hans natürlich recht, wo kämen wir hin, wenn jeder zur Selbstjustiz greifen würde? Aber das macht nicht jeder ... Natürlich hat Hans auch in dem Punkt recht, dass der Häftling ein Mensch ist ...
 Empathisch betrachtet haben allerdings aus meiner Sicht Vater und Elle recht. So ein Grauen lässt sich nicht einfach aussöhnen und ich finde es verständnislos, wenn sich ein Mensch nicht mal die Mühe macht, Geschichte auch aus der Sicht Betroffener zu begreifen. Wenn wir alles mit dem Sachverstand lösen könnten ... das gerade hat uns die Geschichte aber gezeigt, wohin dies führt. Waren es nicht die Juristen, die Ärzte, Chemiker und andere hochgebildete Leute, die über Leben und Tod der Juden damals entschieden? Deren Sachverstand sprach ganz klar für die Ausrottung der Juden … Und sie waren davon überzeugt; zig selbstentworfene  Theorien machten sie in ihrem mörderischen Tun so selbstsicher; sie wussten ihre vernichtende Tat logisch zu begründen ... So viel zum Sachverstand … Ein Gemisch zwischen Vernunft und Empathie wäre in der Zwischenmenschlichkeit wohl eher angebracht …

Fehlende Empathie kann zur Unmenschlichkeit führen. Es gibt viele Menschen, die versuchen, allein mit der Rationalität über Recht und Unrecht ihrer Mitmenschen zu urteilen. Und dies nicht nur in einer schweren
historischen Zeit des Nationalsozialismus´.

Dieses Werk ist recht  facettenreich und macht die Qualität einer guten literarischen Arbeit aus. Ich habe zwar viel geschrieben, aber nicht alles Wichtige verraten. Es gibt noch viel zu entdecken.

Das Buch erhält von mir wegen der Brisanz dieser sensiblen Thematik, wegen der authentischen Darstellung des Inhalts und der Figuren zehn von zehn Punkten.
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Ein Gedicht in einer Übersetzung zu lesen, ist, als küsste man eine Frau durch einen Schleier.

Wenn du ein Buch in der Hand hältst, bist du ein Pilger an den Toren einer neuen Stadt.
(Anne Michaels)

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