Freitag, 9. Januar 2015

Gila Lustiger / So sind wir (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


Das Buch hatte mir anfangs recht gut gefallen, dann später ließ die Konzentration nach. Ich habe schon so viel über den Nationalsozialismus gelesen, dass ich wahrscheinlich so langsam gesättigt bin von dem Thema …. Ich habe das Buch nicht ganz ausgelesen, aber es ist kein schlechtes Buch. Es hat viel Tiefgang und die darin befindlichen Gedanken finde ich sehr gut. Habe viele Zitate gesammelt.

Mal schauen, was sich daraus ergibt. Zur Erinnerung gebe ich nochmals den Klappentext rein:
Der Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden.Wie ist ein Leben nach Auschwitz möglich? Die Autorin erzählt in ihrem Familienroman über die Atempausen im Leben. Das Heranwachsen zwischen Deutschland und Israel. Die ideologischen Selbstbetrügereien als alltägliche Zwischenstationen, die aus Opfern Menschen machen. Über das Private und Intime nähert sie sich mit unverkennbar ironischem Blick der europäischen Geschichte. Gila Lustiger bringt virtuos jenen Erzählstrom in Fluss, der die jüdische Prosa auszeichnet.
Gila ist die Hauptdarstellerin dieses Buches, wenn auch der Vater am Anfang in den Vordergrund gestellt wird. Aber es ist Gila, die über ihn erzählt. Sie stellt in ihrem Buch ihre Herkunftsfamilie dar, so wie sie ist, denn kann man ihre Familie wirklich als typisch jüdisch bezeichnen?
Vergangenheitsbewältigung? Ja, das tut der Vater, indem er sich in die Zeitungen flüchtet und jeden Artikel, der ihm wichtig erscheint, ausschneidet und archiviert.
Mein Vater las Zeitung, um sich der Welt zu stellen, doch zeitungslesend entfloh er unserer Kinderwelt. 
Gila könnte nun die Zeitung verachten, die alle Aufmerksamkeit des Vaters erhascht hatte, während die Kinder zu kurz kamen. Nein, Gila hasste die Zeitungen aber nicht, denn mit ihnen verband sie ihren Vater.

Gila hat eigentlich keine Lust, sich mit der Vergangenheit aus der Nazizeit auseinanderzusetzen. Ihr Vater kam mit fünfzehn Jahren ins KZ, aber er hatte es überlebt. Gila ist 1963 geboren, der Nationalsozialismus war längst vorbei, und doch ist es nicht möglich, die religiöse Herkunft ihrer Eltern zu verleugnen. Schon alleine ihr Name Gila verrät, dass sie jüdischer Abstammung ist. Sie sehnte sich als Kind nach einem ganz gewöhnlichen deutschen Vornamen, um ein ganz gewöhnliches deutsches Leben führen zu können. Zu Recht, denn sie war ja Deutsche und ist es noch immer. Aber Gila ahnte nicht, dass auch die deutschen Mädchen mit einem gewöhnlichen deutschen Namen sich auch nach einem gewöhnlichen deutschen Leben sehnten.

Die Vergangenheit ihrer Eltern holt sie ein. Nicht, dass der Vater über den erlittenen Nationalsozialismus spricht, nein, der Vater verarbeitet diese schrecklichen Erlebnisse allein, nach außen spricht er nicht darüber und behandelt diese wie ein Tabu.
In der Konfrontation mit der Herkunft gewinnt Gila folgende Erkenntnis, die auch ich gemacht habe, als ich mich meiner Herkunft stellte, weil auch ich immer wieder in die Schublade einer Südländerin gesteckt wurde, obwohl ich zigmal meine deutsche Identität verteidigt hatte. Heute genieße ich mehr Gelassenheit, lasse andere faseln über den ganzen Quatsch ihrer unreflektierten Blut- und Wurzeltheorie, während ich mich im Stillen weiterhin als Deutsche bezeichne, wobei ich mich in erster Linie als Mensch sehe, und bin in der Lage, mich mit jedem Menschen zu identifizieren, denn die Grundbedürfnisse sind bei allen Menschen gleich. Ich bin mehr als mein italienischer Name, sowie Gila mehr ist als ihr jüdischer Name. Eine Auseinandersetzung wie diese kann nur bereichernd sein. Man entwickelt eine andere Sichtweise von Mensch und Welt, für die ich persönlich mehr als dankbar bin:
In Wahrheit sind Herkunft, Religion, Nationalität nichts. Ein Deckmantel allenfalls, den man sich überstreift oder mit leichtem Druck hat aufzwingen lassen, sowie eine besorgte Mutter einem an der Tür noch schnell einen Schal andreht. In Wahrheit sind die meisten ihrer unmittelbaren Umgebung und Erziehung derart ausgeliefert, dass sie nichts als Herkunft, Religion und Nationalität sind, senden Täuschung und Betrug, in denen sie hausen wie in einem dunklen stinkenden Verließ. Leidenschaftslos muss man sich daher auf das Menschliche reduzieren, ein Skelett auf zweihundertzehn Knochen mit zweihundertzwanzig Liter Muskulatur, drei Komma acht Liter Fettgewebe und vier Komma fünf Liter Blut, das durch ein dreihundert Gramm schweres Herz pumpt.
Ich freue mich immer wieder, wenn ich eigene Gedanken in den Büchern wiederfinden kann ...
Nach dem Krieg kaufte sich Gilas Vater jede Menge Bücher. Die Bücher stellten für ihn Stellvertreter, Substitute dar, wie z.B. Vaterersatz, Lehererersatz, etc.
Was mein Vater nach dem Krieg an Büchern zusammengekauft hat, während er sich eine materielle Existenz aufbaute, war ihm Schule, Vater, Rat, Erziehung und Trost zugleich.
Die Bücher waren so zahlreich, dass er eine eigene Bibliothek hatte gründen können. Er unterwarf sich einem Suchtkauf, der seinen seelischen Schmerz ein wenig betäuben sollte. Interessant fand ich, wie der Vater die Bücher in den Regalen sortiert hatte, wirklich sehr originell, ist aber auch Geschmackssache:
Die Bibliothek meines Vaters, ja, man muss von Bibliothek reden, denn die Bücher nahmen in meiner frühen Kindheit eine Wand ein und später, als sie umzogen, wurde ihnen, zum Entsetzen unserer jugoslawischen Putzfrau, ein ganzes Zimmer überlassen, war nicht adrett und distinguiert, sondern ein unverschämter, in seiner Stillosigkeit geradezu stilvoller Haufen Wunderlichkeiten. Mein Vater hat einen ganz persönlichen Sinn für das Passende. Vielleicht hat er sich auch nie darum geschert, was passte und was nicht, sondern immer nur gierig gelesen, was ihm unter die Finger kam und was er gerade benötigt. So stand neben dem >>Lexikon des Kaufmanns<< Kafkas >>Schloss<< und neben >>Wir schneidern und nähen<< von Emmi Schupp und Christel Tusch Dostojewski >>Spieler<<. 
Ich bin immer sehr neugierig, wie andere Buchsüchtige ihre Bücher sortieren. Interessant, wenn man dabei noch die Namen der Autoren erfährt.

Gila versucht die passiven Reaktionen der Juden im Nationalsozialismus zu verstehen, und stellt sich die Frage, weshalb sich die Juden, die ermordet wurden, nicht gewehrt hatten:
Tagtäglich beweisen sich Israelis, dass sie keine Opfer sind. Israelis sind in dieser Hinsicht mit den Deutschen verwandt. Was sie verbindet, ist Vergessen und Scham und der Wunsch, eine Vergangenheit abzuschütteln, die auf der Haut kleben bleibt. 
Das finde ich eine sehr schöne Metapher, die Vergangenheit, die auf der Haut kleben bleibt.
Den Menschen im Sterben die Menschlichkeit zu nehmen, das ist der schrecklichste und höchste Triumph der Macht. Oh nein, ich will damit gar nicht sagen, dass Juden in die Opferrolle hineingeboren werden und Grausamkeit eine spezifisch deutsche Eigenschaft ist. So ging es in Deutschland zu und wird es überall da zugehen, wo Gewalt zum Ritual der eigenen Herrlichkeit wird. So ging es in Deutschland zu und kann es auch heute noch überall zugehen, wenn man sich seine Größe bescheinigen muss und zur Bescheinigung der eigenen Größe erniedrigende, zerstörerische Macht über andere braucht. Denn Macht ist ein unersättliches Tier. Es fordert fortwährend neue Beute. 
Fair finde ich, dass Gila nicht alle Deutschen als Nazis verurteilt. Das kann nicht jeder. Nur wenige sind dazu in der Lage. Wie schnell neigen viele  Durchschnittsdeutsche hier bestimmte Menschen in Schubladen zu pressen. 

Gila stellt sich die Frage, woher sie ihre Erkenntnisse hat:
Aus Büchern. Alles weiß ich aus Büchern. Und das Leben ist an den Haaren herbeigezerrt. Nicht ganz so, aber fast so. Die Bücher lagern sich ab. Schicht für Schicht Erzählungen, Berichte, Märchen. Kleine und große Wunder. Alles bleibt im Kopf. Und das Leben drängelt sich durch. Die Bücher habe ich gekaut und geschluckt, und ihre Bilder und ihr Geschmack und ihre Musik durchtränkt meinen Alltag. 
Dieses Zitat musste ich unbedingt einbringen, denn es zeigt ja doch, dass Bücher sehr wohl in der Lage sind, mit vielen Fragen, die einem das Leben so stellt, fertigzuwerden. Gewisse Bücher dienen nicht nur zur Unterhaltung.

Gila geht zusammen mit ihrem Freund ins Reisebüro und findet ein Angebot:  >>Abstecher nach Auschwitz. Hin und zurück in einem Tag.<< Gila und ihr Freund wundern sich, wie kann denn Auschwitz an einem einzigen Tag zu bewältigen sein? Die Antwort:
Is nischt geweysen schwer zu sein in Auschwitz? 
Gila vergleicht ihr Leben mit dem Leben der Juden im Nationalsozialismus und ihr kommen ihre Sorgen, Alltagssorgen, recht banal vor. 
Was sind, bitte schön, Alltagssorgen und ein paar Wünsche im Angesicht von Auschwitz? Alltagssorgen und -wünsche sind im Angesicht von Auschwitz eine unverschämte Geschmacklosigkeit. Lächerlich, nicht der rede Wert, unbedeutend wie das eigene Leben. Denkt man an den Tod in Auschwitz, ist Glück der Gipfel des Wahnsinns, die Liebe obszön, die Lebenslust eine Niedertracht. Man gibt sich mit dem Allernotwendigsten ab: Essen und Arbeiten, Arbeiten und Essen und außerdem-Schlafen, Zeugen, Geborenwerden und Sterben. Das ist wie eine Kollektiverstarrung. Ewiger Frost. Eiszeit. Mit Interglazialperioden dazwischen, wenn Körper und Geist an den oberen Schichten auftauen, um zu funktionieren. 
Wer mehr wissen möchte, den verweise ich auf das Buch, sodass ich hoffe, ein bisschen Lust darauf gemacht zu haben.
Mir haben die vielen schönen, wenn auch sehr ernste Gedanken, sehr gut gefallen.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.
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Man sollte sich an Dinge erinnern, die nie passiert sind.
(Isabel Allende)

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