Mittwoch, 17. Dezember 2014

Tilman Jens / Vatermord (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


Ein sehr intellektuelles Buch, das sich wie eine Denkschrift an die Öffentlichkeit geschrieben, liest. 

Was unter dem Vatermord zu verstehen ist, ist eine Folge aus Tilmans Buch Demenz, ein Zitat aus der Tageszeitung Die Welt, denn besser als die Zeitung kann ich es nicht schreiben:
In seinem Buch "Demenz: Abschied von meinem Vater" rechnet Tilman Jens mit seinem kranken Vater ab, indem er die ehemalige intellektuelle Leitfigur der Bundesrepublik vorführt. Das Werk gibt intime, besser verborgen gebliebene Geheimnisse aus dem Leben von Walter Jens preis. (Die Welt 2009)
Tilman gibt 2008 im Feuilleton der FAZ die Krankheit seines Vaters bekannt und tritt damit voll in die Nesseln. 

Sohn Tilman wird vorgeworfen, dadurch, dass er Persönliches und Intimes zu seinem Vater an die Öffentlichkeit brachte, habe er seinen Vater lebendig begraben. 

Der Vater von Tilman namens Walter Jens, von Beruf war er Altphilologe, Literaturhistoriker, Schriftsteller und Übersetzer. Demnach eine Koryphäe in der Literaturszene. Walter Jens erkrankte 2004 an der Demenz. Er starb 2013. 

Tilman versuchte die demenzielle Erkrankung mit Hilfe seines Buches Demenz zu verarbeiten, auch um auf diese Weise mit seinem Vater ins Reine zu kommen.

Zu Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
 An den Pranger gestellt
- Die Debatte geht weiter: Tilman Jens’ Antwort auf die heftige Kritik in den deutschen Feuilletons- Statt einer Unterlassungsklage: ein Plädoyer nicht nur in eigener Sache- Eine Spurensuche in der Antike, auf der Bühne und im wirklichen Leben für sein erfolgreiches Buch »Demenz« hat Tilman Jens heftig Prügel, Häme und wirre Anschuldigungen in den deutschen Feuilletons einstecken müssen. Er habe seinen Vater, Walter Jens, »vorgeführt«, »einen Wehrlosen vom Sockel gestürzt« und »literarischen Vatermord« begangen – so der Vorwurf an den »feigen Filius«, den »missratenen Spross«. Ebenso groß waren aber auch der Zuspruch und das Lob für sein »bewegendes«, »bestechendes«, »gelungenes« Buch.Vatermord ist ein besonders perfides Verbrechen, die wahrheitswidrige Bezichtigung eigentlich ein Straftatbestand. Auf eine Klage vor Gericht hat Tilman Jens dennoch verzichtet – und antwortet stattdessen mit einem Buch. Aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert er das freudianisch bis heute brisante Delikt, das er niemals begangen hat.
Der Klappentext ist recht ausführlich. Ich müsste jetzt nicht noch mehr dazu schreiben. Aber ich habe ein paar Zitate, und ich schaue mal, wie ich sie unterbringen kann.

Ich wusste erst gar nicht, was ich unter Vatermord zu verstehen habe, aber auch, weil ich den prominenten Vater Walter und den Sohn Tilman bis dato nicht mal kannte. Die beiden schienen bisher wie ein Kelch an mir vorbeigegangen zu sein. 

Bis das Buch ausgelesen war, war ich dann schlauer. Vatermord bedeutet einen Mord auf literarischer Ebene. Tilman hatte das Buch Demenz geschrieben, um die Erkrankung und den Umgang mit dem kranken Vater besser verarbeiten zu können. Viel zu persönlich, viel zu intim, meinen viele andere LiteraturwissenschaftlerInnen. Hat Tilman ein Tabu gebrochen? Ja, er hat. Es wäre weniger schlimm, ein Erlebnisroman zu schreiben, ginge es nicht um die Prominenz. Es geht um den Vater und den Sohn. Der Sohn wird hier nicht als Mensch beschrieben, sondern wie ein Titel, der Sohn als Berufung, immer dem mächtigen Vater untergestellt, und dessen Autorität niemals in Frage stellen zu dürfen und aus ihr niemals hinauswachsen zu können. Tilman greift weitere exemplarische Beispiele auf, viele andere bekannte Autoren und Väter, wie z. B. die Mann-Familie und deren Söhne.  

Ich empfehle dieses Buch allen Söhnen, die Schwierigkeiten mit der Autorität ihrer Väter hatten. Viele Söhne wurden von ihren Vätern gezüchtigt, und wer sich nicht gegen den eigenen Vater wehren konnte, weil der Vater zu übermächtig ist, der muss die Aggressionen gegen sich selbst richten. Viele wurden als erwachsene Männer mit ihrem Leben nicht fertig und wählten den Freitod. 

Tilman zeigt uns auch mithilfe der Psychoanalyse, dass es gesund ist, sich gegen den Vater zu widersetzen. 
Wer mit seinem Vater ins Reine kommen will, sollte ihn besser umbringen. Der wird sonst den ersehnten Weg in die Freiheit für immer blockieren. Du brauchst keinen Christus am Kreuz. Töte, was dich getötet hat. Mach kaputt was, was Euch kaputt macht. 
Den Vater zu töten verstehe ich hier als eine Metapher. Den Vater so erlegen, dass er keine Macht mehr über den Sohn hat.
Wer sich dem Kodex der Familienehre widersetzt, der ist vogelfrei. 
Man wirft Tilman ödipale Komplexe vor.

Aber nicht nur Söhne sind betroffen, auch Töchter mit ihren Vätern. Ein Beispiel zu Max Frischs Tochter:
Ursula Priss zum Beispiel, Max Frisch war ihr Vater. Und über den hat sie 2009 ein über weite Strecken wunderbares, leise dezentes Erinnerungsbuch veröffentlicht: Sturz durch alle Spiegel. Sie verschweigt freilich auch nicht ihre Blessuren, die sie davontrug, als der Schriftsteller die Mutter und ihre drei Kinder für eine andere Frau verließ. Und verheimlicht nicht die Enttäuschung, dass der Vater ihre Geschichte in Montauk ungefragt zum Teil seines Werkes gemacht hat. Das aber war's dann auch schon an Kritik. Das Buch der Tochter wurde dennoch, gerade in der Schweiz, als Akt des Umgangs gebrandmarkt. Als Manöver ungehöriger Rache. Als Vatermord eben, wenn auch als kleiner. Frauen, heißt es, töten viel dezenter.
Auch wenn die Psychoanalyse ein wenig dazu beiträgt, den sog. Vatermord in seiner Struktur verständlich aufzuzeigen, fragt sich Tilman dennoch, wo das Problem liege, wenn er über die Demenz des körperlich sterbenden Vaters schreibt. Auch Marcel Reich-Ranicki, ein gute Freund von Walter Jens, verteilte Tilman verbale Hiebe:
Warum so viel Angst? So viel Abwehr? So viel Verleugnung des Todes? Wird die Erinnerung an die Zeit, da mein Vater gesund und in vielem ein anderer war, durch ein Buch beschädigt, das seine letzten Stationen nachzeichnet? Ist die Veröffentlichung einer in vieler Hinsicht exemplarischen Krankenakte tatsächlich Vatermord -und wäre, anders herum, das Verstecken seiner schweren Demenz ein Beweis der Vaterliebe? Worin, bittschön, liegt das Verbrechen?
Ich komme langsam zum Schluss. Es geht hier nicht darum, ein Selbsterfahrungsbuch nicht schreiben zu dürfen. Nein, hier geht es allein um prominente Leute, die, so mächtig ihre gesellschaftliche Stellung auch ist, über sie nicht geschrieben werden darf. Doch auch diese Leute sind verletzbar und in ihrer Existenz angreifbar. Auch sie werden von Krankheiten heimgesucht, das Schicksal schließt diese hohen Herren nicht aus. Auf mich macht es den Eindruck, als dürfen die Mächtigen nicht verletzlich sein, und weil sie es aber doch sind, dann soll wenigstens nicht darüber gesprochen werden.

Am Ende des Lebens kehrt der sog. Mensch, der sich politisch und gesellschaftlich über seine beruflichen Titel definiert, zum Menschen zurück, denn hier zählen diese Titel nicht mehr. Der Krankheit und dem Tod sind diese Titel gleichgültig, und nehmen keine Rücksicht darauf. Wenn es auf Erden wenig Gerechtigkeit gibt, dann wenigstens hier auf der Ebene von Krankheitsausbrüchen und Tod. 

Zum Abschluss ein letztes Zitat:
Söhne von Dichtern und Denkern enden gern tragisch, die Hanswürste der kulturellen Klatschgesellschaft, die reichlich Stoff liefern für Dramen und schaurige Possen. Dem prominentesten Vertreter dieser Sorte Mensch wurde gar ein Marmor-Monument gesetzt (…). 
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Das Einzige, was man besitzt, ist die Liebe, die man gibt.
(Isabel Allende)

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