Donnerstag, 25. Dezember 2014

Abraham Verghese / Rückkehr nach Missing (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


Das Buch hat mir eigentlich recht gut gefallen. Allerdings liest es sich an vielen Stellen wie ein medizinisches Buch. Viel zu ausführlich, könnte locker gerafft werden. Der Autor ist von Beruf selbst Arzt und mutet den LeserInnen sein medizinisches Wissen zu. Was gehen mich die detaillierten Praktiken im Operationssaal an? Der Autor hat wohl noch nichts von Schweigepflicht gehört? Hihihi ...

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Äthiopien in den sechziger Jahren: Marion und Shiva Stone, eineiige Zwillingsbrüder, wachsen als Waisenkinder in einem Missionshospital in Addis Abeba auf, der Kaiserstadt Haile Selassies. Ihre Mutter, eine schöne indische Nonne, starb bei ihrer Geburt, ihr Vater, ein britischer Chirurg, verschwand spurlos. Marion und Shiva sind unzertrennlich, und sie verbindet die Faszination für die Medizin, doch als sie zu jungen Männern heranwachsen, treibt die Liebe, ihre Leidenschaft für dieselbe Frau, einen Keil zwischen die beiden. Marion muss aus seinem von politischen Unruhen geschüttelten Heimatland fliehen, kommt nach Amerika und geht in seiner Arbeit in einem New Yorker Krankenhaus auf. Doch dann holt ihn die Vergangenheit ein, und er muss sein Leben ausgerechnet in die Hände der beiden Männer legen, denen er am wenigsten vertraut: seinem Vater, der ihn im Stich gelassen, und seinem Bruder, der ihn betrogen hat. Rückkehr nach Missing erzählt die unvergessliche Geschichte einer großen Liebe: zu den Menschen und zur Medizin. Eine packende Familiensaga über Afrika und Amerika, Ärzte und Patienten, Exil und Heimat.
Die Medizin steht neben den Leben der Figuren thematisch im Vordergrund. Alle Protagonisten sind mit dieser verbunden.

Alles andere fand ich gut. Flüssig geschrieben, literarisch anspruchsvoll, die Handlungen und Charaktere der Figuren fand ich differenziert und auch gut getroffen.

Das Buch verfügt über viele Facetten und ich überlege mir, zu welchem Protagonisten ich ein paar Sätze schreiben möchte.

Mich hat das Schicksal der Nonne Schwester Mary Joseph Praise ziemlich beschäftigt. Davon steht aber schon genug im Klappentext. Das Leben der Zwillinge? Die Liebesbeziehung zwischen Marion, Shiva und dem Mädchen? Viel zu facettenhaft. Ich beginne einfach mal mit meinem ersten Zitat:
Der Feind da drinnen war mehr ein Fremdkörper, ein Krebs als ein Fötus. Zweifellos war das Geschöpf tot. Ja, er würde den Schädel anbohren, seinen Inhalt ausleeren, ihn zerquetschen, wie er einen Blasenstein zerquetschte, und dann würde er den geleerten Kopf, der im Becken festklemmte, herausziehen. Falls nötig, würde er den Halswirbeln mit der Schere, den Rippen mit dem Skalpell beikommen, würde den Teil des Fötus, der den Durchgang versperrte, packen, zerhauen, aufschlitzen und zertrümmern, denn nur wenn er es raus holte, erlöste er auch Mary von ihrem Leiden und brachte die Blutung zum Stillstand. Besser draußen als drinnen, unbedingt. 
Dr. Thomas Stone, der einzige Chirurg der Klinik, wird nun als Geburtshelfer gebraucht, obwohl er nichts von Frauenheilkunde versteht. Aber weil die Gynäkologin gerade nicht im Haus war, wurde er von der Oberin dazu bestimmt, einzuschreiten. Durch zu spätes Einlenken starb nicht nur die Mutter der Zwillinge, sondern auch die Zwillinge wären zusätzlich durch eine falsche Behandlung fast umgekommen. Stone hatte tatsächlich keine Ahnung von Geburtshilfe. Während der Behandlung schleuderte er wutentbrannt die Instrumente durch die Gegend. Schwester Oberin ist völlig entsetzt:
Ein humaner Geburtshelfer hatte diese Instrumente für Mütter in verzweifelter Lage erfunden, nicht für verzweifelte Ärzte. In Stones Händen hatten die Instrumente das Kommando übernommen und erledigten das Denken für ihn. Daraus konnte nichts Gutes werden, das wusste die Schwester Oberin. 
Hema, die Gynäkologin, betritt rechtzeitig den Kreißsaal und rettet die beiden eineiigen Babys Marion und Shiva durch Kaiserschnitt. Stone konnte die Kinder nicht als sein Eigen nennen und rennt schließlich davon, so tief war die Trauer um seine verstorbende Mary. Sein Wegrennen hatte zur Folge, dass er nicht nur seine beiden Kinder verließ, nein, er verließ auch den Kontinent und emigrierte nach Amerika, um sich dort in einer Klinik als Chirurg niederzulassen. Stone war auf seinem Fachgebiet ein guter Arzt, aber ein schlechter Mensch (603). Wie passt das zusammen? Stone sah nur die Organe / Körperteile der Patienten, die er behandelte, aber nie den ganzen Menschen.

Stone bekommt eines Tages ein verzweifeltes Schreiben von einer Mutter, die ihren Sohn verloren hatte. Sie beklagt die Kälte mancher Mediziner. Das Schreiben möchte ich unbedingt hier festhalten:
Dr. Stone, als Leiter der Chirurgie, vielleicht auch selbst als Vater, empfinden Sie es dann nicht als Ihre Pflicht, Ihre Mitarbeiter anzuhalten, dem Patienten Trost zu spenden? Ginge es dem Patienten nicht besser, wenn man seine Sorgen und Ängste etwas milderte? Die letzte bewusste Erinnerung meines Sohnes wird sein, dass man ihn ignoriert hat. Meine letzte Erinnerung ist die an meinen kleinen Jungen, der in panischem Entsetzen mit ansehen musste, wie seine Mutter aus dem Raum geführt wird. Dieses Schreckensbild werde ich bis auf mein Sterbebett mit mir tragen. Dass Menschen sich um seinen Körper gekümmert haben, ist kein Ersatz dafür, dass sie den Menschen, dem dieser Körper gehört, ignoriert haben. 
Gosh und Hema wurden die Ersatzeltern der beiden Jungen. Gosh, auch ein Inder, war Internist und durch das Fernbleiben des Chirurgen Stone musste er nun seinen Platz in der Chirurgie einnehmen. Viel Einsatz und Weiterbildung waren hier gefragt. Gosh machte seine Arbeit gut, zeigte auch psychologisches Verständnis für die Nöte der Menschen. Er tätigte z.B. bei Mister Etien eine Darm-OP und fand die richtigen Worte, als der Patient sich über den neuen Darmausgang verzweifelt zeigte:
Etien, stell dir mal vor, alle Menschen werden mit dem Anus am Bauch geboren und da kämen bei allen die Ausscheidungen heraus. Und dann überleg, wenn dir jemand sagen würde, du wirst operiert und dein Darm damit so verlegt, dass der Ausgang dann hinter dir liegt, zwischen deinen Gesäßbacken, an einer Stelle, wo du ihn nicht siehst, höchstens im Spiegel, und wo du kaum hinkommst und Mühe hast, ihn sauber zu halten.
Interessant fand ich natürlich auch die unterschiedliche Entwicklung der beiden Zwillingsbrüder. Die vielen anderen Figuren, das Leben in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, das Land, das im späten 19. Jahrhundert von den Italienern kolonialisiert, aber von den Einwohnern wieder zurückerobert wurde, fand ich spannend. Trotzdem wandelt Äthiopien noch immer auf den Spuren Italiens ...
Die politischen Ereignisse über den Kaiser Haile Selassie fand ich ebenso lesenswert.

Dem Anhang ist zu entnehmen, dass das Buch nicht auf wahre Begebenheiten beruht, lediglich die politischen Besonderheiten wurden realitätsnah wiedergegeben.

Das Buch erhält von mir acht von zehn Punkten. Auch, weil viele Schreibfehler enthalten sind.
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Das Einzige, was man besitzt, ist die Liebe, die man gibt.
(Isabel Allende)

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