Sonntag, 1. Dezember 2019

Simone Lappert / Der Sprung (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Mir hat das Buch im Ganzen recht gut gefallen, wenn mich auch nicht alle Szenen überzeugen konnten, weil sie mir etwas zu dick aufgetragen waren. Mir hat die Sprache sehr gut gefallen und auch der tiefe Blick in die Thematik hat mich sehr angesprochen. An manchen Stellen erwies sich mir die Geschichte etwas zu langatmig, man hätte deutlich abkürzen können. Einige Figuren haben mitunter nicht dazu gepasst.

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Gleich zu Beginn der Handlung bekommt man mit, wie an einem heißen Sommertag eine junge Biologin mit dem Kurznamen Manu auf dem Dach eines Mietshauses steht, um einen Suizid zu begehen. Die Handlung spielt in einem kleinen Dorf namens Thalbach. Warum will Manu springen? Was ist passiert? Welche Verzweiflungstat führt sie in diese Handlung? Fragen, die mich gleich zu Beginn beschäftigt haben. Lange bekommt man keine Antwort. Ich musste geduldig abwarten, durch viele Charaktere anderer Figuren wandeln, bis ich erfahren konnte, was mit Manus Psyche tatsächlich los war. Manu ist eigentlich eine recht interessante Persönlichkeit, die verwaiste oder schlecht geführte Pflanzen anderer Leute stiehlt, um ihnen bei sich ein besseres, artgerechteres Zuhause zu schenken. Viele Menschen halten allerdings Manu für verrückt, glotzen sich die Augen aus ihren Köpfen raus, und können den Sprung nicht abwarten, bis er endlich vollzogen wird, denn Manu lässt sich damit viel Zeit. Polizei und Feuerwehr schreiten ein, und je mehr Profis zum Einsatz kommen, desto mehr sollte sich der Sprung in die Länge ziehen. Die Menschen unten schreien ihr böse Worte zu, dass sie z. B. eine Memme sei.
>>Spring doch endlich, du Pussy! (…) Na los, spring runter!<< (154)

Manu wurde immer unsicherer, und fing an, Dachziegel auf die Menschen zu werfen. Selbst die Polizei hat es nicht geschafft, die ganze Sache unter den neugierigen Menschen zu entschärfen, sodass sich der Platz trotz Absperrung immer mehr zu füllen begann ...

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Darunter befanden sich einige Szenen. Aber vor allem hat mir nicht gefallen, dass die Polizei die neugierigen Menschen nicht zu unterbinden wusste. Einige Leute hatten sich auf Klappstühlen gesetzt, um nichts von dem Spektakel zu verpassen. Sie zückten Kameras, drehten Videos … Ist das tatsächlich so passiert?

Mir hat auch nicht gefallen, dass die Polizei so ausgerüstet war, als hätte sie es nicht mit einer verzweifelten Person zu tun, sondern mit einer Schwerverbrecherin.
>>Kein Wunder, dass sie Angst hat, runterzukommen. (…) Die sehen ja zum Fürchten aus mit ihren Schildern und Helmen. (229)

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Es waren zwei Szenen. Finn, ein junger Mann, der Manu kannte und sie mochte, zeigte Zivilcourage und stellte sich gegen die Lästerer, die Manu für eine Verrückte hielten.
>>Die Verrückten sind immer die anderen, nicht wahr? (…) Findet ihr das geil, da draußen zu hocken und Sandwiches zu essen und Eis und Kekse und euch überlegen zu fühlen und die Ärmel hochzukrempeln, damit ihr beim Gaffen schön braun werdet, he? Findet ihr das geil? Gibt euch das ein gutes Gefühl? Erbärmlich seid ihr, einfach erbärmlich! << (164)

In einer weiteren Szene hat mir die Teenie Winnie gefallen, die einer Gleichaltrigen geholfen hat, ihren Freund auszutricksen, der sie unter Druck setzen wollte. Wenn sie nicht bald mit ihm schlafen würde, würde er ein Foto von ihr, auf dem sie oben ohne abgebildet war, öffentlich ins Netz stellen.  

Welche Figuren war für mich Sympathieträger*innen?
Das waren für mich Finn und Winnie.

Welche Figuren waren mir antipathisch?
Edna und der Polizeibeamte Blaser.
Aber die beiden italienischen Figuren, die haben gar nicht dazu gepasst. Rennen von Mailand nach Deutschland als Modedesigner einem Hut hinterher, und ich habe nicht herausfinden können, was damit ausgedrückt werden sollte.

Cover und Buchtitel
Seit ich das Buch habe, habe ich mich gefragt, wer die Figur auf dem Cover sein könnte? Auf jeden Fall nicht Manu, was ich gut finde, sonst würde die Person sich für mich wie ein Stigma anfühlen. Vor ein paar Tagen, auf dem Weg zur Arbeit, kam mir der Gedanke. Für mich hat sich die Figur Achtung Spoiler, als Finn herauskristallisiert.

Zum Schreibkonzept
Auf den 334 Seiten ist die Geschichte folgendermaßen gegliedert:
Das Buch trägt am Anfang eine Widmung. Anschließend gibt es auf der folgenden Seite ein Gedicht von Newton, das sich mit der Schwerkraft beschäftigt. Was tut ein Körper, der fällt?

Das zweite Gedicht von Gnarls Barkley ist auf Englisch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass alle Menschen verrückt sind, nicht unwahrscheinlich ist.

Dann geht es mit einem Vorspann weiter, das, was die noch Unbekannte vor dem Sprung auf dem Dach fühlt. Sie spielt den Sprung gedanklich minutiös durch.

Auf der nächsten Seite beginnt das Kapitel mit Der Tag davor. Danach lernen wir die erste Figur namens Felix kennen, der in anderen Abschnitten von vielen anderen Figuren im Wechsel abgelöst wird, aber immer wieder in weiteren Kapiteln in Erscheinung tritt.

Der erste Tag beginnt auf der Seite 65. Auf der Seite 287 setzt sich das Buch mit Zweiter Tag fort. Das Buch endet technisch, wie es begonnen hat. Aber anstelle eines Vorspanns endet es mit einem abschließenden Bericht über den Sprung. Ganz am Schluss gibt es eine Danksagung.

Meine Meinung
Ein wirklich sehr interessantes Buch, wenn mich auch die Handlung nicht ganz überzeugen konnte. Dass dieser Akt des Sprunges sich über viele Stunden in die Länge zog, ohne dass die Polizei etwas zur Verhinderung beitragen konnte, hat mich ein wenig stutzig werden lassen. Mit etwas geschulter Psychologie schafft man es in der Regel schon, einen Menschen von einem Suizidversuch dieser Art abzuhalten, denn auch die Polizei wird regelmäßig psychologisch gebildet. Schwierig wird es bei Menschen, die ihre Verzweiflungstat ohne großes Nachdenken in die Tat umsetzen. Hierbei würde tatsächlich jede Hilfe zu spät kommen. Aber mit Manu hätte die Polizei fertig werden können. Wie Profis kamen sie mir nicht vor. Unglaublich war für mich auch, dass sich die Gaffer, nachdem sie sahen, dass die Frau sich mit dem Sprung viel Zeit lassen würde, sie sich auf Klappstühlen gemütlich gemacht haben. Das ist eigentlich strafbar. In der Regel unterbindet die Polizei solch ein Verhalten. Zumindest hier in Deutschland. Hat die Autorin das wirklich so erlebt?
Manche hatten sich auf dem Platz gemütlich eingerichtet, die Liegestühle von den Balkonen heruntergetragen, Badetücher und Picknickdecken ausgebreitet. (155)

Warum tun Menschen das?
Leute, die sich durchs Zuschauen, überlegen fühlen, ihre Kraft aus der Schwäche anderer entwickeln. (Ebd)

Könnte eine Antwort auf die Frage sein, wobei Lappert nicht nur eine mögliche Antwort dazu geliefert hat. Es bleibt aber noch viel Spielraum für eigene Gedanken.

Ich denke hierbei an das Mittelalter, in dem z. B. kriminelle Straftäter öffentlich am Galgen hingerichtet wurden, und eine Masse an sensationshungrigen Menschen es nicht abwarten konnte, bis der Kopf endlich zum Rollen gebracht wurde. Wir Menschen haben uns technisch weiterentwickelt, aber unsere Gefühle sind trotz besserer Schulbildung noch genauso primitiv geblieben wie einst.

Mein Fazit
Auf jeden Fall ist dies ein wichtiges Buch, das sich für mehr Mitmenschlichkeit und für mehr Empathie ausspricht. Tolle Sprache und viele schöne Sätze, die mit vielen weisen Bildern und Gedanken verziert waren. Man merkt ganz deutlich, dass Simone Lappert sich viele Gedanken über diese brisante Thematik gemacht hat. Hierbei fällt mir ein, dass sie auf der diesjährigen Buchmesse gesagt hat, dass sie, um eine Manu wirklich verstehen zu können, selbst auf ein Dach gestiegen ist, und sie sich einen Sprung nach unten versucht hat in allen Details vorzustellen.

Dies in sich hineinfühlen einer anderen Person ist ihr gelungen. Sie weiß absolut, wovon sie schreibt.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen,Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Elf von zwölf Punkten.

 Vielen herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars. 
________________
Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

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Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)


Mittwoch, 27. November 2019

Simone Lappert / Der Sprung

Klappentext  
Eine junge Frau steht auf einem Dach und weigert sich herunterzukommen. Was geht in ihr vor? Will sie springen? Die Polizei riegelt das Gebäude ab, Schaulustige johlen, zücken ihre Handys. Der Freund der Frau, ihre Schwester, ein Polizist und sieben andere Menschen, die nah oder entfernt mit ihr zu tun haben, geraten aus dem Tritt. Sie fallen aus den Routinen ihres Alltags, verlieren den Halt – oder stürzen sich in eine nicht mehr für möglich gehaltene Freiheit. Dienstagmorgen in einer mittelgroßen Stadt. Manu, eine junge Frau in Gärtnerkleidung, steht auf dem Dach eines Mietshauses. Sie brüllt, tobt, wirft Gegenstände hinunter, vor die Füße der zahlreichen Schaulustigen, der Presse, der Feuerwehr. Die Polizei geht von einem Suizidversuch aus. Einen Tag und eine Nacht lang hält die Stadt den Atem an. Für Finn, den Fahrradkurier, der sich erst vor kurzem in Manu verliebt hat, bleibt die Zeit stehen. Genau wie für ihre Schwester Astrid, die mitten im Wahlkampf steckt. Den Polizisten Felix, der Manu vom Dach holen soll. Die Schneiderin Maren, die nicht mehr in ihre Wohnung zurückkann. Für sie und sechs andere Menschen, deren Lebenslinien sich mit der von Manu kreuzen, ist danach nichts mehr wie zuvor. Ein lebenspraller Roman über eine eigenwillige Frau und über die Schicksale, an denen wir voreingenommen oder nichtsahnend vorübergehen. Mit Esprit, Sinnlichkeit und Humor erzählt Simone Lappert vom fragilen Gleichgewicht unserer Gegenwart.

Autorenporträt
Simone Lappert, geboren 1985 in Aarau in der Schweiz, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Mit ihrem Debütroman ›Wurfschatten‹ stand sie auf der Shortlist des ›aspekte‹-Preises. Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel und Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt ›Babelsprech.International‹. 2019 erschien der Roman ›Der Sprung‹, der für den Schweizer Buchpreis nominiert ist. Sie lebt und arbeitet in Basel und Zürich.

Meine ersten Leseeindrücke

Ich habe bisher 152 Seiten gelesen und mir gefällt das Buch ganz gut. Ein recht flüssiger Schreibstil und die Figuren finde ich auch alle spannend. Simone Lappert habe ich auf der diesjährigen Buchmesse kennengelernt. Wenn ich ihr Foto im Umschlag sehe, erinnere ich mich gerne daran. Bin echt gespannt, wie es weitergehen wird mit der Geschichte. Lediglich mit dem Buchtitel hatte ich ein Problem. Ständig hatte ich den Sturz vor meinen Augen. Eine frau, die sich vom Dach stürzen möchte. Deshalb wahrscheinlich hat sich mir innerlich der Sturz und der der Sprung festgesetzt. Aber jetzt habe ich den richtigen Titel verinnerlicht.  

Weitere Informationen zu dem Buch
·         Gebundene Ausgabe: 336 Seiten
·         Verlag: Diogenes; Auflage: 1 (28. August 2019)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 3257070748

Hier geht es zu der Verlagsseite von Diogenes.


Sonntag, 24. November 2019

Proust und die Kunst

Weiter geht es mit den Seiten von 359 bis 369  

Auf den folgenden zehn Seiten nimmt man wieder an verschiedenen geistreichen Konversationen in Briefform teil. Auch ist die Ruskin – Übersetzung noch lange nicht abgeschlossen, und man merkt, wie sehr er sich damit quält. Wiederholt gibt es Beschwerden zu seiner Übersetzung, auf die ich aber nicht näher eingehen möchte.

An Robert de Montesquiou
März 1904? (Proust ist hier 32 Jahre alt)

Der erste Brief geht an Robert de Montesquiou. Proust antwortet hier auf den Brief seines Freundes, den er als einen Diamanten betrachtet hat. Entnommen hat Proust den Vergleich aus der Korrespondenz von Victor Hugo an Paul-Saint Victor. Im nächsten Satz zitiert Proust Schopenhauer.
Haben Sie tausend Dank für den wundervollen Brief. >Das ist kein kleiner Diamant nur zum Spaß, das ist ein faustdicker Diamant.< Und niemals war der Satz >man schriebe ein ganzes Buch, damit Sie auch nur eine Seite schreiben< wohl zutreffender. Welch Jammer nur, dass diese großartige Seite, dieses tiefsinnigere Gegenstück nur mir allein vorbehalten ist. (359)
Mir gefällt die Wertschätzung, die Proust seinem Freund entgegenbringt.
Weiter im Brief ärgert sich Proust über namhafte ausländische Schriftsteller, die wenig Verständigkeit für die französische Kultur haben aufbringen können.  
Unsere Urteile über Personen sind so sehr dem Wandel der Zeiten und der Verschiedenheit der Länder unterworfen, dass wir etwas bei Goethe lesen können, die französische Literatur, was auch nur entfernt heranreiche an die Lieder von Béranger, bei Stendhal, dass die gotischen Kathedralen die Schande Frankreichs seien, bei Nietche [sic], dass ein Jahrhundert, dass Schriftsteller wie (es sind darunter auch einige unserer Freunde, deren Namen ich nicht zu nennen wage) hervorgebracht habe, das größte aller Jahrhunderte sei, bei Tolstoi, dass Wagners Erfindungen lächerlich seien, und tausenderlei andere absurde Urteile über unsere Zeitgenossen. (360)
Aus der Fußnote ist allerdings zu entnehmen, dass Nietzsche eigentlich derjenige war, der in Ecce Homo 1888 Frankreich als das reiche Jahrhundert mit seinen vielen Psychologen bezeichnet hat. Aber wahrscheinlich war Proust eher auf die Wertschätzung von Literaten, Architekturen und andere aus, während Goethe 1828 die Lieder von Béranger sehr hochgelobt hatte.

An Auguste Marguillier
März 1904

Von diesem Freund bekommt Proust einen Bildband zu Albrecht Dürers Meisterwerken geschenkt. Dürer hat von 1471 bis 1528 gelebt und ist ein deutscher Künstler und Naturwissenschaftler gewesen. Proust ist ganz angetan davon und bedankt sich in einer überschwänglichen Form. Das fand ich so schön, bin neidisch, dass Proust aus einer Zeit kommt, in der man Büchergeschenke so hoch zu würdigen weiß und er seine Freude darüber so offen zu zeigen weiß.
Ich werde mit diesem Buch angenehme Stunden verbringen, denn Dürer gehört zu den Genies, die die größte Anziehungskraft auf mich ausüben und die ich am schlechtesten kenne. Ich kann fast schon sagen, dass ich nichts von ihm weiß und alles über ihn wissen möchte. Ihr Buch ist mir der beste Weg, auf bezauberte und gesicherte Weise, etwas über ihn zu erfahren. Und so will ich Ihnen aufrichtig danken und Sie beglückwünschen. (362)
Prousts Übersetzungsarbeit sind noch lange nicht abgeschlossen. In dem Brief an Maurice Barrés ist in den letzten Zeilen zu entnehmen, dass er noch zwei Ruskins vor sich habe. Hätte er sie nur schon hinter sich. Mitleid habe ich mit diesem Proust, wie sehr er sich damit quälen muss.
Vor mir liegen noch zwei Ruskins, und danach werde ich versuchen, meine eigene arme Seele zu übersetzen, wenn sie bis dahin nicht gestorben ist. (364)
Das klingt sehr traurig, finde ich. Zur Erinnerung; Proust benötigt ganze fünf Jahre für diese Übersetzungsarbeit.

An Marie Nordlinger
Ende Mai 1904

In dem Brief an Marie Nordlinger geht es auch wieder um Kunst, allerdings in einer anderen Form. Proust schreibt, dass seine Mutter eine Büste über seinen Vater anfertigen lassen möchte, die sie auf sein Grab setzen möchte. Proust fragt seine Briefpartnerin, ob sie diese Büste anfertigen würde?
Mama wünscht, so schmerzlich die Gegenüberstellung eines notwendig unähnlichen Kunstwerks mit dem so genauen und so geliebten Bild, das sie von meinem Vater bewahrt hat, auch sein mag, Mama wünscht also, dass für die, die nach uns kommen und sich fragen werden, wie mein Vater gewesen sein mag, eine Büste auf dem Friedhof so einfach und so exakt wie möglich Zeugnis ablegt. Und sie hat die Absicht, sich an irgendeinen jungen, begabten und willigen Bildhauer zu wenden, der sich auf den Versuch einlassen möchte, anhand von Photographien, die Züge meines Vaters in Gips, Bronze oder Marmor mit jenem Maximum an Genauigkeit nachzubilden, das zwar immer noch weit hinter unseren Erinnerungen zurückbliebe und vielleicht schmerzlich für uns sein wird, aber denjenigen, die ihn nicht gekannt haben, doch, über den einfachen, in Stein gemeißelten Namen hinaus, eine ungefähre Vorstellung von ihm geben kann.- (368)
Madame Proust hegt das dringende Bedürfnis, ihren Mann unsterblich zu machen. Aber der Sohn möchte auch unsterblich sein, weswegen wir und zahlreiche andere Proustianer*innen gegenwärtig seine Briefe lesen.

Da ich nächstes Jahr im Frühjahr für ein paar Tage nach Paris reisen möchte, um auf Prousts Spuren zu wandeln, bin ich sehr neugierig, das Grabstein der Familie Proust zu besichtigen. Ich war in jungen Jahren schon mehrmals auf dem Père Lachaise gewesen, auf dem viele andere Schriftsteller begraben liegen, wie z. B. auch Oscar Wilde. Marcel Proust kannte ich damals noch gar nicht. 

Mein Fazit

Ich finde es dennoch bewundernswert, dass Proust so viele Briefpartner*innen hat, mit denen er sich auszutauschen weiß. In jedem Brief schwingen Gedanken der Freude und Gedanken der Trauer mit, je nach dem, was ihn beglückt oder was ihn verstimmt hat. Er ist einfach authentisch, selbst mit über dreißig Jahren noch. Und am wohlsten fühlt er sich in geistigen Gesprächen. Er lässt seine Mitmenschen in sein Innenleben ein, er lässt sie wissen, wie sehr er geistige Geschenke zu würdigen weiß, wofür wir heute größtenteils kaum Zeit haben, diese Freude und diese Würdigung anderen zu offenbaren. Oftmals frage ich mich, wie Büchergeschenke oder Ähnliches bei meiner Gegenüberin angekommen sind, und ob sie damit in ihrem geistigen Leben etwas umsetzen konnten.

Anne vermisste bei Proust die Benennung von weiblichen Künstlerinnen. Würdigt er sie zu wenig? Wie steht er zu Frauen? Hierbei müssen wir uns noch etwas gedulden, aber ich bin sicher, dass sich Proust hierzu noch outen wird. In diesen Briefen hat er immerhin Kontakt mit Marie Nordlinger, die Bildhauerin ist. 

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 370 bis 379.

__________________
Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)

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Donnerstag, 21. November 2019

Juli Zeh / Unterleuten (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre   

Das Buch habe ich vor drei Tagen beendet, komme erst jetzt dazu, die Buchbesprechung zu schreiben.

Mir hat das Buch recht gut gefallen, wo ich anfangs ein wenig ungeduldig war, siehe Buchvorstellung, Meine ersten Leseeindrücken. Es hat ein wenig gedauert, bis ich hinter die Fassade der Protagonist*innen eindringen konnte. Da dies als ein Gesellschaftsroman deklariert ist, kann man sich denken, dass man es mit überaus vielen Figuren zu tun bekommt. Aber Juli Zeh kommt uns Leser*innen entgegen, in dem sie hinten im Anhang zum Nachschlagen eine Personenliste erstellt hat, was ich sehr nützlich und hilfreich fand.

Wegen der Vielzahl an Leuten in Unterleuten werde ich meine Buchbesprechung dieses Mal ein wenig anders aufziehen, werde mehr über meine Eindrücke schreiben.

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.


Die Handlung
Unterleuten ist ein sehr kleines fiktives Dorf aus der ehemaligen DDR, das sich nicht weit von Berlin befindet. Viele Menschen sind nach der Wende weggezogen aber andere sind der Idylle wegen hinzugezogen. Die Handlung spielt im Jahr 2010/2011. Für die Dagebliebenen ist Unterleuten eine Herausforderung. Zu DDR – Zeiten kämpften sie gegen den Kommunismus, nach der Wende kämpfen sie gegen den Kapitalismus. Richtig glücklich sind sie nie gewesen, wenn sie sich auch wieder nach alten Zeiten zurücksehnten.

Die Zugezogenen erleben in Unterleuten durch die malerische Landschaft eine Idylle. Eine Figur ist von Beruf Pferdeflüsterin und benötigt, um ihren Beruf auch ausführen zu können, dafür viel Weideland. Mit eigenen Pferden möchte sie anderen Menschen den richtigen Umgang zu den Tieren beibringen. Ein anderer ist Vogelschützer, und möchte alles tun, außergewöhnliche Vogelarten, die es in Unterleuten gibt, in ihrer Art zu erhalten. Dieser setzt sich für die Vögel, damit sie ihren gesunden Lebensraum erhalten können, wären da nicht die Windräder, die wiederum eine andere Figur unbedingt bauen möchte.

Der Roman spitzt sich zu einem Drama ab, da jede Figur andere Ziele verfolgt, die auch politisch nicht unter einem Hut zu bringen sind. Man hat den Eindruck, dass jede wie ein Band mit der anderen verbunden ist, da sie, um ihre Pläne umsetzen zu können, von den anderen Dorfbewohner*innen angewiesen ist.

Welche Szene hat mir so gar nicht gefallen?
Mir hat gar nicht gefallen, dass Gerhard Fließ, 50 Jahre alt, von Beruf Soziologe und Hochschuldozent, zusammen mit seiner jungen Frau Jule und ihrem kleinen Säugling Sophie die ganze Zeit passiv geblieben sind, als der Nachbar absichtlich Brände gelegt hat, um ihnen zu schaden. Der Nachbar hieß Schaller, den Juli Zeh aber lange Zeit nur als das Tier von nebenan bezeichnet hat. Ich war etwas irritiert. Was meinte sie mit Tier? Erst sehr viel später verriet den Namen dieser grässlichen Person, die die Luft seiner Nachbarn verpestet. Schaller ist von Beruf Automechaniker. Absichtlich verbrennt er Autoreifen und anderes, sodass die Luft der Familie Fließ einfach verpestet wird. Die Familie kann die Räume im Haus nicht mehr lüften, da sie sonst die ganzen Schadstoffe einatmen würden. Der Rasen war nicht mehr grün, sondern pechschwarz. Mich hat gewundert, dass die Familie hinter verschlossener Türe ihren Frust zollte, aber sonst lange Zeit nichts dagegen unternahmen. Erst am Ende wird Fließ gegenüber Schaller gewalttätig und schlägt den Mann krankenhausreif. Mir schien diese Szene partout nicht glaubhaft. Jeder normale Mensch würde schon viel früher etwas unternehmen, um dem Mann Einhalt zu gebieten. Und wenn es über eine Anzeige bei der Polizei auslaufen würde, wenn sonst nichts anderes greifen würde. Aber wie das Dorf eben so eingestellt ist, regeln die Menschen hier ihre Probleme selbst, und zur Not greifen sie zur Selbstjustiz. Die Zugezogenen haben sich dem Milieu der langansässigen Dorfbewohner*innen angepasst. Trotzdem fand ich es widernatürlich, dass das Paar nicht einen Versuch unternommen hat, sich beim Nachbar zu beschweren.

Für mich war zudem auffallend, dass die Autorin in der Personenbeschreibung sehr viele Vergleiche zu Tieren aufgestellt hat. Leider haben die Tiere dabei sehr schlecht abgeschnitten. Doch es gibt keine bösen Tiere und das größte Monster ist nicht das Tier, sondern ganz allein der Mensch.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Dass am Ende jede Figur das bekommen hat, was er verdient hat. Ich habe mit einem offenen Ende gerechnet.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Keine, da auf mich alle Figuren irgendwie gestört gewirkt haben, mit Ausnahme von Schallers Tochter Miriam, die sich mit Erfolg für Familie Fließ gegenüber ihrem Vater eingesetzt hat.

Welche Figur war mir antipathisch?
Ein wenig alle.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel
Beides passend. Der Vogel auf dem Cover zeigt diese besondere Vogelart, die in Unterleuten leben.

Zum Schreibkonzept
Auf den 650 Seiten besteht das Buch aus sechs Teilen und insgesamt aus 62 Kapiteln. Zu Beginn eines jeden Teils bekommt man einen kleinen einleitenden Spruch zu lesen, den ich immer gut fand. Das Buch endet mit einem Epilog. 

Meine Meinung
Wie ich eingangs schon geschrieben habe, bin ich zu Beginn schlecht in die Handlung reingekommen. Erst später nahm für mich die Spannung zu, als mir die Figuren von Seite zu Seite immer vertrauter wurden. Ich habe den Schreibstil sehr bewundert und viele tolle Gedanken, die ich mir im Buch alle markiert habe. Schade, dass ich es aus Zeitgründen nicht schaffe, sie hier herauszuschreiben, wie ich es sonst immer getan habe. Juli Zeh hat mit ihrem Buch sehr neutral die Missstände der Menschen aus der Zeit der DDR aufzeigen können, aber auch die Missstände aus dem Westen Deutschlands. Viele Westdeutsche denken, dass in der DDR alles schlecht verlief, während sie die BRD im Gegenzug idealisieren und vergessen dabei die eigene Geschichte und die eigenen Mängel im Land. Nein, auch in Westdeutschland gibt es viele Missstände. Und dies ist Juli Zeh gelungen, die Probleme beider Welten aufzuzeigen. Und das hat mir eigentlich am meisten imponiert.

Mein Fazit
Beharrlichkeit hat sich hier gelohnt. Nicht jedes Buch hat es verdient, bis zum Ende durchzuhalten. Doch hier freue ich mich sehr, dass ich dieses Buch gelesen habe, und habe es gleich meiner Freundin Anne weiterempfohlen, die das Buch auch lesen wird. Ich hoffe bald, dann können wir uns darüber noch austauschen.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen,Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zehn von zwölf Punkten.

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Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

Gelesene Bücher 2019: 27
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Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.
Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)













Freitag, 15. November 2019

Juli Zeh / Unterleuten

Klappentext  
Der große Gesellschaftsroman von Juli Zeh
Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf "Unterleuten" irgendwo in Brandenburg. Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten, von den kleinen Häusern, die sich Stadtflüchtlinge aus Berlin gerne kaufen, um sich den Traum von einem unschuldigen und unverdorbenen Leben außerhalb der Hauptstadthektik zu erfüllen. Doch als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist …
Mit „Unterleuten“ hat Juli Zeh einen großen Gesellschaftsroman über die wichtigen Fragen unserer Zeit geschrieben, der sich hochspannend wie ein Thriller liest. Gibt es im 21. Jahrhundert noch eine Moral jenseits des Eigeninteresses? Woran glauben wir? Und wie kommt es, dass immer alle nur das Beste wollen, und am Ende trotzdem Schreckliches passiert?
„Juli Zehs furchtlos vor jedem Klischee ins Herz der bundesrepublikanischen Wirklichkeit zielender Gesellschaftsroman ist ein literarischer Triumph.“


Autorenporträt
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Studium des Europa- und Völkerrechts, Promotion. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015), und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln. 2018 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde sie zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt.

Meine ersten Leseeindrücke

Ich habe nun 200 Seiten gelesen und die Handlung hat sich richtig gezogen, bis ich es geschafft habe, hinter die Fassade der Protagonisten zu schauen. Im ersten Kapitel lernt man das Paar Gerhard und Jule Fließ kennen, die einen gemeinsamen Säugling haben. Jule kam mir merkwürdig vor, weil sie zu sehr an dem Kind geklammert hat, und nicht bereit war, das Kind auch an ihren Mann abzutreten.

Wer ist Schaller? Die Beschreibung kam mir merkwürdig vor, bis ich später erfahren habe, wer er wirklich ist. Ein menschliches Wesen mit Persönlichkeit.

Weiter auf den folgen Seiten habe ich lange nichts mehr von Gerhard und Jule gelesen, dafür folgten jede Menge anderer Namen, die mich ein wenig überfordert hatten. Nun erst zeichnen sich mir die ersten Charaktere ab.

Viele, die das Buch schon gelesen haben, baten mich um Geduld und nicht aufzugeben. Ich glaube, sie hatten Recht. Ich bin jetzt so weit, dass mir die Handlung nicht mehr so fragwürdig fremd erscheint.

Die Sprache finde ich sehr schön, nicht zu trocken, und sehr kreativ im Ausdruck und in der Auswahl von Metaphern, wie zum Beispiel das Feuer mit Öl löschen 😱.

Weitere Informationen zu dem Buch
·         Taschenbuch: 656 Seiten
·         Verlag: btb Verlag; Auflage: 01 (11. September 2017)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 3442715733

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