Montag, 15. Februar 2016

Joachim Meyerhoff / Wann wird es endlich so, wie es nie war (1)

Alle Toten fliegen hoch

Teil 2


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich war mit dem Buch schon fast durch, als es dann um das Einschläfern des Hundes ging, und die Art und Weise, wie dieses vollbracht wurde, hat mich arg geärgert und sehr traurig gestimmt, sodass ich nicht mehr weiter lesen konnte.

Schon am Anfang bekam ich fast das Würgen, als es darum ging, wer von den fünfköpfigen Familienmitgliedern welche Innereien eines Tieres gerne isst. Alle waren ganz versessen auf die Innereien, aber jeder bevorzugte ganz andere. Igitt.

Ich stellte mir als Leserin die Frage, was denn ein Autor davon hat, die Essvorlieben in solche Details zu packen.



Dann hat mich gestört, dass der Autor Begriffe benutzt, die politisch nicht mehr korrekt sind. Negerküsse. Natürlich war das früher in den 1970er Jahren der Jargon für Schokoküsse. Aber der Autor ist nun kein Kind mehr und wir leben mittlerweile im 21.Jahrhundert.

Das sagt der DUDEN dazu:

Besonderer Hinweis

Wegen der Anlehnung an die diskriminierende Bezeichnung Neger sollte das Wort Negerkuss ebenfalls vermieden und durch Schokokuss oder Schaumkuss ersetzt werden.
 Auch bezüglich der Südländer pflegt der Autor recht klischeehafte Vorstellungen.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Der junge Held in Meyerhoffs zweitem Roman wächst zwischen Hunderten von Verrückten als jüngster Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie auf – und mag es sogar sehr. Mit zwei Brüdern und einer Mutter, die den Alltag stemmt – und einem Vater, der in der Theorie glänzt, in der Praxis aber stets versagt. Wer schafft es sonst, den Vorsatz, sich mehr zu bewegen, gleich mit einer Bänderdehnung zu bezahlen und die teuren Laufschuhe nie wieder anzuziehen? Oder bei Flaute mit dem Segelboot in Seenot zu geraten und vorher noch den Sohn über Bord zu werfen?Am Ende ist es aber wieder der Tod, der den Glutkern dieses Romans bildet, der Verlust, der nicht wieder gutzumachen ist, die Sehnsucht, die bleibt – und die Erinnerung, die zum Glück unfassbar pralle, lebendige und komische Geschichten hervorbringt
Aber wir, der Autor und ich, haben auch Gemeinsamkeiten. So wie Meyerhoff bin auch ich auf einem Psychiatriegelände groß geworden. Meine Mutter war dort als Krankenschwester tätig. Die Anstalt stellte für die Kinder der MitarbeiterInnen einen Kindergarten und einen Kinderhort zur Verfügung. Auch ich wurde sehr früh von den Bildern psychiatrischer und geistig behinderter Menschen geprägt.

Es waren mir sehr viele Erfahrungen, die der Autor in seinem Buch über das Anstaltsleben beschreibt, mehr als vertraut. Auch weil er zu meiner Generation zählt und damals sahen alle psychiatrischen Krankenhäuser so ziemlich gleich aus. Hohe Backsteingebäude mit dicken Mauern, großes Gelände mit vielen Gebäuden, Parkanlagen, Stationen und Arbeitswerkstätten wie z. B. die Gärtnerei, die Werkstatt, Wäscherei, Großküche und die Bäckerei waren vertreten. Mittlerweile sind diese Arbeitsstätten nach und nach wegrationalisiert worden ... Diese Insel galt als ein kleines Dorf für sich. 
Damals wurden psychisch kranke Menschen zusammen mit geistig behinderten Menschen verwahrt  und sie galten alle als verrückt, wie man schon im Klappentext entnehmen kann ... Auch im Buch wird nicht differenziert und dies scheint wohl der Grund zu sein, weshalb psychisch kranke Menschen in der Gesellschaft mit geistig behinderten Menschen gleichgesetzt werden. Psychisch kranke Menschen sind keineswegs geistig behindert …

Ansonsten hat mir die literarische Sprache nach wie vor gut gefallen. Manche Szenen fand ich recht lustig und gut beschrieben. Doch nach zwei Büchern von Meyerhoff bin ich nun mehr als gesättigt. Ich habe keine Lust mehr auf den dritten Band. Werde überlegen, den wieder abzutreten.

Das Buch erhält von mir sieben von zehn Punkten.

Nachtrag, 16.02.2016
Ich habe mich heute mit meiner Lesepartnerin, die nicht mit Namen benannt werden möchte, da sie selbst auch psychisch krank ist, über das Buch kurz ausgetauscht.. Sie habe das Kapitel mit dem Hund übersprungen, weil ihr das auch zu heftig war. Nein, ich wollte nicht überspringen. Es ist immer gut zu wissen, wie sich Menschen in bestimmten Abschnitten ihres Lebens verhalten. Nicht nur Menschen, sondern auch Tieren gegenüber. Ansonsten sprach meine Lesepartnerin viel über das damalige psychiatrische Anstaltsleben und über eine junge Frau aus dem Buch, die sich wiederholt das Leben versucht hatte zu nehmen, bis der Suizid schließlich gelang. Meine Lesepartnerin kennt diese Suizidversuche aus eigener Erfahrung. Und durch das Buch hat sie erleben dürfen, dass solche Versuche eben tatsächlich mit dem Tod enden können.

Ob wir den dritten Band lesen werden, entscheiden wir, wenn es so weit ist. Mitte März dieses Jahres. 
_____
Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)


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Samstag, 13. Februar 2016

Joachim Meyerhoff / Wann wird es endlich so, wie es nie war

Alle Toten fliegen hoch

Teil 2

Klappentext
Der junge Held in Meyerhoffs zweitem Roman wächst zwischen Hunderten von Verrückten als jüngster Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie auf – und mag es sogar sehr. Mit zwei Brüdern und einer Mutter, die den Alltag stemmt – und einem Vater, der in der Theorie glänzt, in der Praxis aber stets versagt. Wer schafft es sonst, den Vorsatz, sich mehr zu bewegen, gleich mit einer Bänderdehnung zu bezahlen und die teuren Laufschuhe nie wieder anzuziehen? Oder bei Flaute mit dem Segelboot in Seenot zu geraten und vorher noch den Sohn über Bord zu werfen?Am Ende ist es aber wieder der Tod, der den Glutkern dieses Romans bildet, der Verlust, der nicht wieder gutzumachen ist, die Sehnsucht, die bleibt – und die Erinnerung, die zum Glück unfassbar pralle, lebendige und komische Geschichten hervorbringt.


Autorenporträt
Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, ist seit 2005 Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters. In seinem sechsteiligen Zyklus Alle Toten fliegen hoch trat er als Erzähler auf die Bühne und wurde zum Theatertreffen 2009 eingeladen. 2007 wurde er zum Schauspieler des Jahres gewählt. Für seinen Debütroman wurde er mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis 2011 und dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Weitere Titel bei Kiepenheuer & Witsch: Alle Toten fliegen hoch. Amerika, Roman, 2011, KiWi 1277, 2013, Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war, Roman, 2013, KiWi 1383, 2015.
Teil 1 habe ich zusammen mit einer Lesepartnerin im Januar gelesen. Im Februar folg der zweite Teil und Teil 3 lesen wir im März, wobei die Reihenfolge völlig unwichtig ist. Im ersten Teil bekommt man es mit dem Jugendlichen Joachim zu tun, im zweiten Teil ist Joachim gerade mal acht Jahre alt.

Na gut, den vorliegenden zweiten Band finde ich auch recht gut. Ich befinde mich gerade auf der 110. Seite, sodass ich mir schon ein Bild zu dem Buch machen konnte ...
Der Autor verfügt über jede Menge Potenzial, mit der literarischen Sprache spielerisch umzugehen. Mir gefällt sie recht gut. Oftmals ist sie auch sehr humoristisch.

Schon den Titel finde ich genial gewählt. Wann wird es endlich so, wie es nie war? 
Und Alle Toten fliegen hoch, so rechne ich auch in diesem Band mit einem Todesverlust. Im ersten Band verstarb ein Bruder von Joachim. Wer stirbt hier?

Ich lasse mich gerne überraschen. Vielleicht täusche ich mich auch.




Donnerstag, 11. Februar 2016

Astrid Lindgren / Zum Donnerdrummel (1)

Ein Werk-Porträt 

Hrsg. Paul Berf und Astrid Surmatz

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

  
In dem Buch sind sehr viele Kinderbücher von Astrid Lindgren in gekürzter Form abgedruckt, die im Anschluss besprochen werden. Da ich sowieso die Absicht habe, mir die Kinderbücher später erneut vorzunehmen, habe ich einige Geschichten darin übersprungen. Diese werde ich auf später verschieben, so mache ich es dann Henning Mankell gleich, der auch die Lindgren-Bücher im erwachsenen Alter ein weiteres Mal gelesen hat. Die Bücher nochmals zu lesen, im Alter, wo man dem kindlichen Humor schon längst entwachsen ist, stelle ich mir wundervoll vor, vor allem, wenn man innerlich selbst ein bisschen Kind geblieben und offen für diese Art von Humor ist.

Astrid Lindgren hatte eine glückliche Kindheit. Dieser glücklichen Kindheit haben wir die vielen schönen Kinderbücher von ihr zu verdanken. Nur wenige Menschen hatten zu ihrer Zeit dieses Glück. Pippi Langstrumpf war ihr erstes Kinderbuch. Wer wünschte sich nicht, ein bisschen wie Pippi zu sein? Souverän, autonom, sozial, reich, gutmütig, tierlieb, stark, klug und gerechtigkeitsempfindend. Alles, was man braucht, um sich gegen diese engstirnige Erwachsenenwelt durchzusetzen, und trotzdem ein gutes Leben haben. 
Eine kleine Pippi sollte eigentlich jeder in sich bewahren. Zu schnell ordnet man sich Regeln unter, die andere für einen machen. Und wie oft gibt man sich zu leicht zufrieden. Pippi hingegen ist eine Rebellin - sie macht Sachen, die sie richtig findet. Als Kind versteht man zuerst gar nicht, was sie eigentlich Verbotenes oder Falsches tut. Erst wenn man älter wird und sich anpasst, erst wenn man die Bevormundung und die gängigen Normen akzeptiert hat, wundert man sich über Pippi. Es ist schade, dass Kindern durch Erziehung ihre Wildheit und Unverstelltheit genommen wird. Dabei ist gerade dieses Unbändige der Kinder so herrlich!
Ich unterscheide zwischen der Film-Pippi und der Buch-Pippi. Beide Medien haben mich geprägt. Doch der Humor, so finde ich, kommt im Buch viel stärker zur Geltung als im Film. Im Film wird man zu sehr von den absurden filmischen Spektakeln abgelenkt, als dass man auf die Wortwahl achtet. Auf einigen Seiten wurde ich so zum Lachen angeregt, dass ich mich richtig darauf freue, die Bücher wieder zu lesen.

Als Annika und Tommi die neunjährige Pippi kennengelernt haben, wundern sie sich, dass Pippi so ganz ohne Eltern in der Villa Kunterbunt lebt:
>>Wohnst du hier ganz allein?<<
>>Aber nein, Herr Nielsson und das Pferd wohnen ja auch hier.<<
>>Ja aber ich meine, hast du keine Mama und keinen Papa hier?<<
>>Nein, gar nicht.<<
>>Aber wer sagt dir, wann du abends ins Bett gehen sollst und all so was?<<
>>Das mach ich selbst. (…) Erst sage ich es ganz freundlich, wenn ich nicht gehorche, dann sage ich es noch mal streng, und wenn ich dann immer noch nicht hören will, dann gibt es Haue.<<
Auch dieser Dialog brachte mich so richtig zum Lachen.

Nächstes Beispiel:
>>Am besten, ihr geht jetzt nach Hause, (…) damit ihr morgen wiederkommen könnt. Denn wenn ihr nicht nach Hause geht, dann könntet ihr nicht wiederkommen. Und das wäre schade.<< 
Diese Form von kindlicher Logik finde ich einfach genial. Auch die Szene, als Pippi sich als Sachensucher bezeichnet, amüsierte mich. Hier werden die Wertvorstellungen, die von den Erwachsenen aufgeladen werden, ein wenig verschoben. Pippi hat Freude auch an Gegenständen, die in den Augen der Erwachsenen eigentlich völlig wertlos sind.

Auf Seite 165 bezeichnet sich Pippi als schüchtern. Kann man sich nicht vorstellen. Pippi und schüchtern. Pippi ist zu einem Kaffeekränzchen bei den Settergrens eingeladen, Settergrens, so heißen Annika und Tommi mit dem Familiennamen. Pippi bemüht sich sehr, anständig aufzutreten, um das Geschwisterpaar nicht zu blamieren. Sie schenkt der Frau Settergren einen Knicks und sagt:
>>Ich bin nämlich sehr schüchtern, und wenn ich mich nicht selber kommandiere, dann würde ich in der Diele stehen bleiben und nicht wagen, hereinzukommen.<< 
Sich selber kommandieren. :).

Pippi Langstrumpf wurde in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Für die einen stellte sie eine Revolution im Kinderzimmer dar, andere sahen in Pippi eine unangenehme Figur, die an der Seele kratzt. 
Welch ein Glück für mich, dass die Kinder nichts dagegen hatten, von Pippi an ihren Seelen gekratzt zu werden. Aber es gab Erwachsene, die baten, Gott möge sie vor Pippi bewahren. Um das zu verstehen, braucht man bloß die Leserbriefspalten der Zeitungen damals zu studieren.
Für viele war sie nicht erwünscht. Mit einigen bösen Fantasien wurde Lindgren zudem noch konfrontiert: 
Da gab es beispielsweise einen Mann, der vorschlug, man solle mir einen Mühlstein um den Hals binden, damit man mich in der Tiefe des Meeres versenken könne. Und da war die Frau, die im Radio eine Sendung über >>diesen wahrlich widerwärtigen Frechdachs<< gehört hatte. Verhämt wollte sie nun wissen: >>Gibt es bei uns wirklich so wenig gute Kinderliteratur, dass man einen solchen Nonsens veröffentlichen muss?<< 
Während die einen das Buch vehement zurückgewiesen hatten, haben es andere umso mehr willkommen geheißen. In Deutschland wurde Lindgren von dem Hamburger Verlag namens Friedrich Oetinger mit Handkuss umworben. Friedrich Oetinger war Ende der 1940er Jahre noch ein recht kleiner Verlag und schwamm in roten Zahlen. Mit Astrid Lindgrens Erstlingswerk hatte er einen guten Riecher und riskierte die Veröffentlichung der Pippi Langstrumpf. Und  hierzu aus der Sicht Lindgrens: 
Friedrich Oetinger muss Menschenkenntnis besitzen - denn sonst könnte er nicht mit überempfindlichen, leicht erregbaren, umständlichen und schwierigen Individuen, wie es die Autoren sind, umgehen. Er muss literarisches Verständnis haben - denn sonst könnte er ein gutes Buch nicht erkennen. Und er muss ein guter Kaufmann sein - denn sonst hätte er bald keinen Verlag mehr. Friedrich Oetinger besitzt diese drei Eigenschaften, meine ich. Welch ein Glück, dass solch ein Mann an jenem Vorfrühlingstag 1949 zu mir kam. 
Und Oetinger hatte sich nicht getäuscht. Noch heute zählt er zu einem bedeutenden Kinder- und Jugendbuchverlag. Und als klein kann man ihn nun wahrlich nicht mehr bezeichnen.

Das Werk Pippi Langstrumpf wurde von vielen Literaturwissenschaftlern, Pädagogen, Lehrern und Eltern belächelt und abgelehnt. Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Diese verhalten sich oft, als wären sie die Päpste der Literatur.
Viele Erwachsene machten sich Sorgen, dass die Kinder Pippi nachahmen würden. Doch wer Pippi Langstrumpf verbieten wollte, der sollte auch Märchen verbieten. Kein Kind der Welt ahmt den Figuren aus dem bösen Märchen nach ...
Im >Trostbuch<, wie Lindgren die >>Brüder Löwenherz<< nennt, wird er jedoch zur >>recht gefährlichen Spielsache für junge Menschen<<. Als am gefährlichsten wird freilich Astrid Lindgren empfunden und das ist sicher richtig. Denn hier ist eine Frau, die unbeirrt zuerst an die Kinder denkt, für die sie schreibt, und die genau weiß, was die Kinder brauchen und >>dass ich die Kinder auf meiner Seite habe. Aber alle anderen?<<Allen anderen ist zu raten, es wie die Kinder zu machen, Bücher selbst zu lesen und sich so wenig wie die Kinder eine Meinung aufreden zu lassen. 
In dem Buch Brüder Löwenherz thematisiert die Autorin ein Tabuthema und zwar den Tod. Und wieder regt sich die halbe Welt darüber auf, dass der Tod in den Kinderbüchern nichts zu suchen habe ... In dieser Geschichte verarbeitet Lindgren ein wenig den Tod ihres frühverstorbenen Sohnes ...

Astrid Lindgren wurde mit Vorstellungen konfrontiert, dass z. B. eine „freie Erziehung“ den Kindern schaden könnte. Sie, selbst Mutter von zwei Kindern, konnte diese Sorgen aus eigener Erfahrung nun nicht bestätigen. Sie habe ihre Kinder frei erzogen und trotzdem hätten sie Pippis Lebensstil nicht nachgeahmt. Kinder würden Bücher anders lesen als Erwachsene, für die hauptsächlich alles vernünftig, logisch, und gut durchdacht sein müsse. Es seien eher ganz andere Missstände, die die Kinder in Wirklichkeit negativ beeinflussen würden, Missstände, über die sich niemand aufregen würde, wie z. B. starre Regeln, permanente Reglementierungen und Gewalt im TV.

Die Achtung vor dem Kind sei genauso wichtig wie die Achtung vor dem Erwachsenen.
Behandelt eure Kinder mit ungefähr der gleichen Rücksicht, die ihr wohl oder übel euren erwachsenen Mitmenschen zeigt. Schenkt den Kindern Liebe, mehr Liebe und noch mehr Liebe, dann kommen die Manieren von allein. 
Lindgren vermutet hinter jedem Diktator das mal einst gewesene Kind, das z. B. aus einer Gesellschaft kommt, die körperliche und seelische Züchtigungen in der Erziehung verherrlicht hat.

1978 erhielt Astrid Lindgren den Friedenspreis. Sie sprach sich gegen jede Form von Gewalt aus, äußerte pazifistische Ambitionen. Auch die autoritäre Erziehung lehnt sie kategorisch ab. Lindgren setzt sich für den Weltfrieden ein, kommuniziert via Briefkontakt auch mit Politikern, z.B. mit Gorbatschow, indem beiden das Hauptanliegen ist, die   Kinder politisch in den Mittelpunkt zu stellen.
An den Frieden denken heißt an die Kinder denken. Niemand hat das Recht, auf internationaler Ebene so zu handeln, dass die Kinder, wo sie auch leben, der Zukunft beraubt und Opfer der unbedachten Politik der Erwachsenen werden. (Aus einem Brief Gorbatschows an Astrid Lindgren)
Es seien nicht die Kinderbücher, nicht die antiautoritäre Erziehung, die die Kinder verderben würden:
Sie sehen und hören und lesen es täglich, und schließlich glauben sie gar, Gewalt sei ein natürlicher Zustand. Müssen wir ihnen dann nicht wenigstens daheim durch unser Beispiel zeigen, dass es eine andere Art zu leben gibt? 
Astrid Lindgren war ihrer Zeit um einiges voraus. Ich denke dabei an die 1968er Studentenrevolte, in der sich die jungen Intellektuellen für eine bessere Welt eingesetzt haben. Eine Welt, die frei von Kriegen ist. Auch forderten sie eine gewaltfreie Erziehung …

Lindgren hat den Kampf schließlich als Kinderbuchautorin international gewonnen. Die Bücher wurden in vielen Sprachen übersetzt. Man konfrontierte sie mit der Frage, ob sie sich nun als eine erfolgreiche Autorin wie eine Heilige fühlen würde? Die Frage fand ich schon recht merkwürdig, vor allem den Begriff >Heilige< fand ich unpassend gewählt. Umso mehr gefällt mir die Antwort dazu: 
Nein, warum sollte ich das tun. Ich habe nicht das Gefühl, über einem einzigen Menschen zu stehen. Was du da anscheinend sagen willst, geht mich nichts an. Das alles ist doch nur Eitelkeit und vergebliche Liebesmühe. Wir sind doch alle gleich und alle sind kleine süße Kinder gewesen, die erwachsen geworden sind und sterben werden. Was hat man da schon davon, in über 50 Sprachen übersetzt zu sein? Aber wenn >>the big bang<< kommt und kein Mensch mehr weiß, dass es einmal jemanden wie zum Beispiel Mozart gegeben hat, darüber kann man schon traurig sein. 
Mein Fazit?

Dieses Werk-Porträt habe ich ein wenig wie eine Astrid-Lindgren-Bibel erlebt. Ich werde sie sicher, wenn ich ihre Bücher neu gelesen habe, immer mal wieder herauspacken und mir die Buchgespräche vornehmen und diese mit meinen Leseerfahrungen vergleichen.

Und es gibt sogar einige Bücher, die ich gar nicht gekannt habe, wie z.B. das Märchen von Pomperipossa in Monismanien, die Kati-Werke oder Ronjas Räubertochter. Ronjas Räubertochter kenne ich nur vom Hörensagen, ist erst in den 1980er Jahren hier in Deutschland erschienen. 1980 hatte ich mit Lindgren längst abgeschlossen. Welcher Jugendliche liest noch Kinderbücher? Aber im fortgeschrittenen Alter kann das Interesse neu entfacht werden.

In dem Werk-Porträt erfährt man auch die Entstehungsgeschichten, wie z.B. der von Pippi Langstrumpf. Pippi Langstrumpf feiert dieses Jahr ihren 71. Geburtstag. Wer erfand die Pippi Langstrumpf?
Die Tochter Lindgrens lag sehr krank im Bett, mit hohem Fieber, im Delirium bat sie ihre Mutter, eine Geschichte über Pippi Langstrumpf zu erzählen. Das hat mir schon sehr imponiert.

Diskutiert werden noch jede Menge anderer Fragen und Themen, z.B. auch über die kritische Haltung von Nutztieren … Auch den Tieren gibt Lindgren ihre Stimme.

Des Weiteren findet man neben Mankell noch andere bekannte AutorInnen, die selber mit den Lindgrenbüchern groß geworden sind. Und jede Menge Interviews und viele, viele Fotos sind in dem Buch enthalten. Das macht das Ganze noch ein wenig lebendiger.

Nun habe ich aber genug geschrieben. Ich möchte nicht mehr verraten und verweise auf das Buch, das von mir zehn von zehn Punkten erhält.

In meinem Regal befinden sich noch drei ungelesene Autobiografien, werde demnach noch viel Gelegenheit haben, mehr über Lindgrens Leben zu berichten, weshalb ich mich in dieser Buchbesprechung mehr auf die Werke bezogen habe. Das Buch heißt im Untertitel nicht umsonst Ein Werkporträt. Leserinnen und Leser, die sich mehr für das Leben Lindgrens interessieren, und die Kinderbücher eher zweitrangig betrachten, werden hier auf jeden Fall auch fündig werden. Ansonsten rate ich zu echten Auto/Biografien.
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Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)


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Samstag, 6. Februar 2016

Astrid Lindgren / Zum Donnerdrummel!

Ein Werk-Porträt 

 Hrsg. Paul Berf und Astrid Surmatz

Klappentext
Eine Fundgrube für alle, die Astrid Lindgren lieben. Auf fast 1.000 Seiten versammelt das Werk-Porträt Ausschnitte aus den Kinderbüchern von Astrid Lindgren sowie Briefe, Reden und Aufsätze der engagierten Autorin. Erstmals gibt es Teile der "Ur-Pippi" auf deutsch. Frühe Rezensionen zeigen, wie umstritten Pippi Langstrumpf war, als das Buch erschien. Henning Mankell, Kirsten Boie, Per Olov Enquist, Otfried Preußler und viele andere schreiben über Astrid Lindgren und zeichnen ein umfassendes und vielschichtiges Bild der berühmten Erzählerin. Mit vielen Fotos, Illustrationen und Abbildungen von Originaldokumenten sowie dem kompletten Text von "Ronja Räubertochter". www.astridlindgren.de


Autorenporträt
Astrid Lindgren wurde 1907 im schwedischen Smäland geboren und starb 2002 in Stockholm. Die berühmteste Kinderbuchautorin  des 20. Jahrhunderts wurde unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dem alternativen Nobelpreis und dem Schwedischen Staatspreis ausgezeichnet. 
Das Buch ist schon älter. Es kam 2002 auf dem Buchmarkt. 2002 war Astrid Lindgrens Todesjahr. Ich selbst habe es beim Bücher-Oxfam erworben. Ich nehme alles mit, worauf Astrid Lindgren steht.

Ich habe schon viele Seiten gelesen und habe die Ur-Pippi kennengelernt. Ich kannte die Ur-Pippi zuvor gar nicht. Pippi Langstrumpf war zu der Zeit, als sie erschien, sehr umstritten.

Viele ihrer Kinderbücher sind in dem Buch abgedruckt. Ich werde nicht alle lesen, da ich mir die Bücher eher für später vornehmen möchte.  Mich interessieren viel mehr Informationen zu Astrid Lindgren. Wie sie zu den Ideen gefunden hat. Wie sie zu dieser Zeit selbst gelebt hat, und wie sie es geschafft hat, ihren Weg als Kinderbuchautorin international durchzuboxen. Sie ist weltweit bekannt. Auf den zweihundert Seiten, die ich schon gelesen habe, habe ich auch sehr viel Weisheit finden können. Astrid Lindgren gibt immer wieder den Kindern eine Stimme. Sie ergreift immer Partei für die jungen Leute, die sich der Welt der Erwachsen beugen müssen:
"Es ist nicht leicht, Kind zu sein. (Denn die Erwachsenen) ahnen Fürsten, wo sie Kinder sehen, aber erwachsene Könige nirgends stehen".
Gefreut habe ich mich auch zu lesen, dass Astrid Lindgren 1985 sich für den Tierschutz eingesetzt hat. Sie protestierte gegen die Massentierhaltung. In ihren Artikeln erschienen die Tiere als Lebewesen mit dem Recht auf freie Entfaltung und sexuelle Selbstbestimmung.

Nun bin ich auf Weiteres gespannt.






Freitag, 5. Februar 2016

David Foenkinos / Charlotte (1)

Lesen mit Anne ...


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ein sehr schwermütiges Buch, eines von der heftigsten Sorte, eines, das ich bisher in dieser Art noch nicht gelesen habe. Schon das Cover ist von einer tiefen Traurigkeit gezeichnet ... Und in der Tat, es lastet eine seelische Schwere in den Lebensläufen mancher ProtagonistInnen …

Beginnen möchte ich gleich vorneweg mit Charlottes Großmutter mütterlicherseits, bevor ich erneut den Klappentext reingebe, in dem alles Notwendige drinsteht, da ich selbst nicht allzu viel verraten möchte:

Das Drama um ihre beiden Töchter. Es war nur der Höhepunkt einer ganzen Serie von Selbstmorden. Schon ihr Bruder war ins Wasser gegangen. Weil er so unglücklich in seiner Ehe war. Er war promovierter Jurist, und erst 28, als er starb. Tagelang blieb sein Leichnam im Wohnzimmer aufgebahrt. Und die Familie schlief an seiner Seite.
Sie wollte ihn nicht gehen lassen.Die Wohnung sollte sein Grab sein.

Diese Vorstellung, das Wohnzimmer zu einer Grabstätte umwandeln zu wollen, fand ich schon außergewöhnlich von der Idee her, wäre nicht dieser Verwesungsgeruch, der sich in dem Raum breitmachte, denn ... 

… erst der Verwesungsgeruch bereitete dem Spektakel ein Ende. Als man ihn wegtrug, versuchte die Mutter, ihren Sohn zurückzuhalten. Den Tod konnte sie hinnehmen, nicht aber, dass man ihn fortschaffte.

Der Tod der vielen Suizidentinnen und Suizidenten basierte nicht aus den Folgen des Nationalsozialismus´, wie ich erst kurz zu glauben versucht habe. Die Unglücklichen schieden aus dem Leben, da gab es den Hitler in Deutschland noch nicht. Es ist wirklich eine sehr tragische Lebensgeschichte, in der sich die Depression von einer Generation in die nächste schleicht und sich an deren Seele festkrallt. Nicht zu vergessen, dass das Leben der Charlotte Salomon keine fiktive Figur ist, sondern eine sehr begabte Malerin, die es wirklich gegeben hat, die von den Nazis 1944 vergast wurde.

 Nun wird es Zeit, zur  Erinnerung erneut den Klappentext reinzugeben:

„Das ist mein ganzes Leben“ – mit diesen Worten übergibt Charlotte 1942 einem Vertrauten einen Koffer voller Bilder. Sie sind im französischen Exil entstanden und erzählen, wie sie als kleines Mädchen, damals im Berlin der 1920er, nach dem Tod der Mutter das Alleinsein lernt, während sich ihr Vater, ein angesehener Arzt, in die Arbeit stürzt. Dann die Jahre, in denen das kulturelle Leben wieder Einzug hält bei den Salomons. Die Stiefmutter ist eine berühmte Sängerin; man ist bekannt mit Albert Einstein, Erich Mendelsohn, Albert Schweitzer. Charlotte beginnt zu malen, und es entstehen Bilder, in denen dieses einzelgängerische, verträumte Mädchen sein Innerstes nach außen kehrt, Bilder, die von großer Begabung zeugen. Doch dann ergreift 1933 der Hass die Macht, es folgen Flucht, Exil, aber auch Leidenschaft und Heirat. Nur ihre Bilder überleben – Zeugnis ihrer anrührenden Geschichte, die David Foenkinos nahe an der historischen Realität entlang erzählt.

Charlotte, die schon recht früh diese menschlichen Verluste hat hinnehmen müssen, fühlt sich von der Welt nicht ausreichend geliebt. Sie bewundert ihre beste Schulfreundin, die ihre Zeit nun lieber mit einer neuen Schulkameradin verbringt. Charlotte wundert sich, wie schnell die neue Schulkameradin Freundschaften zu schließen in der Lage ist:

Manche haben eben die Gabe, geliebt zu werden.Charlotte hat Angst, von allen im Stich gelassen zu werden. Am besten gar keine Freundschaft mehr schließen. Es ist doch sowieso nichts von Dauer. Man muss sich vor möglichen Enttäuschungen schützen. 

Charlotte erfährt erst sehr spät, dass die Mutter den Freitod wählte. Der Vater wollte seine Tochter emotional schonen. Als sie klein war, fünf Jahre alt, bereitete ihre Mutter sie auf das Weggehen vor. Sie würde zu den Engeln fliegen und sie würde ihr Kind vom Himmel aus immer beschützen. Als die Mutter schließlich tot war, war die fünfjährige Charlotte nicht traurig, denn sie glaubte fest daran, dass ihre Mutter bei den Engeln sei und sie von oben hinunterschauen würde. Das Kind tröstete mit diesen Worten den weinenden Vater.

Dies waren ein paar Szenen, die mich sehr beschäftigt haben, so sehr betroffen haben sie mich gestimmt.

Charlotte ist als Nachwuchskünstlerin mehr als erfolgreich. An der Kunsthochschule sollte sie mit ihren Bildern den ersten Preis erwerben, aber durch den Nationalsozialismus konnte sie als die beste Malerin nicht nominiert werden, da sie jüdischer Abstammung war, also ging der Preis unverdientermaßen an ihre Kommilitonin, die ihn ausgiebig zu feiern wusste. Man wollte Charlotte vor den Nazis schützen. Und so konnte Charlotte nur zugucken, wie ihr Preis an jemand Arisches verliehen wurde. 

Dann verkündete der Professor mit tonloser Stimme: Der erste Preis geht an Charlotte Salomon. Augenblicklich macht sich Unbehagen breit. Unmöglich, dass sie den Preis bekommt. Das würde zu viel Aufsehen erregen. Die Schule sei von jüdischen Elementen unterwandert, hieße es. Die Gewinnerin würde ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Sie könnte das Ziel von Anfeindungen werden. Womöglich würde man sie sogar ins Gefängnis bringen. 

Charlotte ist ein sehr introvertierter junger Mensch. Innerlich zurückgezogen, verträumt und auch recht nachdenklich. Sie lässt andere Menschen an ihrer Innenwelt nur über ihre gemalten Bilder teilnehmen. Man kommt schwer an sie heran. Selbst die Großeltern finden kaum Zugang zu ihr. Charlotte entwickelt immer mehr ernste Charakterzüge ihrer suizidierten Mutter, die wiederum den Tod ihrer Schwester nicht hat verwinden können. Obwohl schon viele Jahre dazwischen lagen. Charlotte trägt schon alleine durch ihren Vornamen eine große Last, denn ihre suizidierte Tante, Mutters Schwester, ist ihre Namensvetterin.

Charlottes Vater, der als angesehener Chirurg in seine Arbeit flüchtet, heiratet neu. Eine Sängerin namens Paula, die in der Öffentlichkeit einen guten Ruf genießt. Paula ist keinesfalls eine Stiefmutter, wie sie im bösen Märchen beschrieben wird. Sie ist sehr um Charlotte bemüht und ersetzt ihr die Mutter bestmöglich. Es entwickelt sich eine recht liebevolle Mutter-Kind-Beziehung.

Da der Nationalsozialismus immer weitere Kreise zieht, und das Leben in Deutschland für die Juden immer enger zu werden droht, reist Charlotte auf den Druck ihres Vaters und ihrer Stiefmutter hin ihren Großeltern nach Frankreich nach und lebt dort im Exil. Charlottes Vater wurde einmal von der Gestapo abgeholt und ins Arbeitslager gebracht. Dank Paula, die es schaffte, ihn da wieder rauszuholen, doch er war nicht mehr derselbe. Zuviel hatte er im Arbeitslager gesehen, weshalb er nun darauf bestand, dass Charlotte Deutschland so schnell wie möglich verlassen sollte.

Charlotte lässt nicht nur ihre Eltern zurück, sondern auch ihre erste große Liebe.

Was danach kommt, ist dem Buch zu entnehmen.

Mein Fazit?

Der Autor David Foenkinos hat supergut über das Leben der Charlotte Salomon recherchiert und gekonnt über ihr Schicksal und das ihrer Angehörigen geschrieben. Sehr ausdrucksstark und empathisch habe ich das Buch erlebt. Er konnte sich wirklich gut in diese Menschenschicksale hineinversetzen.

Der Schluss hatte mich auch recht nachdenklich gestimmt. Die Eltern flohen in die Niederlande und hatten Glück, dass sie dort den Nationalsozialismus überleben konnten. Dass Charlotte in Frankreich nicht dasselbe Glück ereilte, erfüllte sie mit tiefer Trauer und mit lebenslangen Schuldgefühlen.

Für mich sehr gewöhnungsbedürftig war allerdings der Schreibstil. Der Autor wählte die Prosa in Versen, sodass das flüssige Lesen nicht möglich war. Absicht? Wahrscheinlich, damit man nicht rasend zu den nächsten Seiten eilt. Mir kam das Lesen ein wenig stockend vor, hat aber nichts an der Qualität des Inhalts eingebüßt. Das Stocken habe ich als angenehm empfunden; kurz aufhören zu lesen, um das Gelesene innerlich wirken zu lassen.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.


Nachtrag: Telefonat zwischen Anne und mir:

Wir haben beide dasselbe empfunden, ein sehr trauriges Buch, das einen emotional aufwühlt. Auch Anne stimmte die Biografie sehr nachdenklich. Ein Plädoyer an die Nachwelt, die Welt menschlicher zu machen, indem man aus der Geschichte lernt. Nicht weggucken, nicht vergessen, sondern das Schicksal dieser Opfer mittragen und emotional aushalten. Das ist man ihnen schuldig. 

Und hier geht es zu Annes Buchbesprechung

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Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)


Gelesene Bücher 2016: 06
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
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Montag, 1. Februar 2016

David Foenkinos / Charlotte

Lesen mit Anne ...

Und wieder ist ein Monat vergangen. Meine Bücherfreundin Anne und ich lesen gemeinsam ein Buch. Diesmal bin ich mit dem Aussuchen der Lektüre dran und habe mich bei der zweiten Wahl für die Charlotte entschieden, die erst am vergangenen Samstag bei mir eingezogen ist. Meine erste Wahl fiel auf die Autobiografie von Astrid Lindgren. Doch nachdem unsere gemeinsame Bücherfreundin Claudia Kowalski, die das Buch schon vor längerer Zeit gelesen hat, auf unsere Leseerfahrung neugierig ist, habe ich dann schließlich die Charlotte vorgezogen. Dadurch, dass ich mir dieses Buch angeschafft habe, ist Claudia zu verdanken, die mich durch ihre Rezension auf das Buch neugierig gestimmt hat.



Klappentext
„Das ist mein ganzes Leben“ – mit diesen Worten übergibt Charlotte 1942 einem Vertrauten einen Koffer voller Bilder. Sie sind im französischen Exil entstanden und erzählen, wie sie als kleines Mädchen, damals im Berlin der 1920er, nach dem Tod der Mutter das Alleinsein lernt, während sich ihr Vater, ein angesehener Arzt, in die Arbeit stürzt. Dann die Jahre, in denen das kulturelle Leben wieder Einzug hält bei den Salomons. Die Stiefmutter ist eine berühmte Sängerin; man ist bekannt mit Albert Einstein, Erich Mendelsohn, Albert Schweitzer. Charlotte beginnt zu malen, und es entstehen Bilder, in denen dieses einzelgängerische, verträumte Mädchen sein Innerstes nach außen kehrt, Bilder, die von großer Begabung zeugen. Doch dann ergreift 1933 der Hass die Macht, es folgen Flucht, Exil, aber auch Leidenschaft und Heirat. Nur ihre Bilder überleben – Zeugnis ihrer anrührenden Geschichte, die David Foenkinos nahe an der historischen Realität entlang erzählt.


Autorenporträt
David Foenkinos ist ein französicher Autor, ist 1974 geboren, lebt als Schriftsteller und Drehbuchautor in Paris. Seit 2002 veröffentlicht er Romane, darunter den Millionenbestseller „Nathalie küsst“, der von Foenkinos selbst (zusammen mit seinem Bruder Stéphane) mit Audrey Tautou und François Damiens in den Hauptrollen verfilmt wurde. Seine Bücher werden in rund vierzig Sprachen übersetzt. Sein neuer Roman, „Charlotte“, wurde 2014 mit dem Prix Renaudot und dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichnet und hat sich allein in Frankreich rund eine halbe Million Mal verkauft.

Und hier geht es zu unserer gemeinsamen Bücherliste 



Sonntag, 31. Januar 2016

Bruce Chatwin / Traumpfade (Abbruch)

Abgebrochen

Dieses Buch musste ich gestern wieder abbrechen. So einen langweiligen Reisebericht habe ich bisher noch gar nicht gelesen. Brrrrr. Das Buch erhält von mir nur vier Punkte. Da ich morgen mit Anne zusammen wieder ein Buch lesen werde, habe ich gestern meine Zeit mit zwei Literaturfilmen gefüllt und habe mit einem recht dicken Buch über Astrid Lindgren, das als ein Werkporträt deklariert ist, begonnen. Werde es am Montag dann wieder vorübergehend zur Seite legen, bis Anne und ich unser Buch ausgelesen haben.

Sicher gibt es das Eine oder Andere zu dem Buch zu sagen. Aber wenn mir ein Buch so gar nicht gefallen hat, dann fehlt mir doch die Muse, darüber zu schreiben. Vier von zehn Punkten habe ich bisher noch keinem Buch vergeben.

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Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)

Gelesene Bücher 2016: 05
Gelesene Bücher 2015: 72
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Gelesene Bücher 2011: 86



Mittwoch, 27. Januar 2016

Bruce Chatwin / Traumpfade

Klappentext
Traumpfade – das sind die unsichtbaren labyrinthischen Wege, die den australischen Kontinent duchziehen und entlang derer, so will es der Schöpfungsmythos der Ureinwohner, die Ahnen wanderten und mit ihren Liedern die Welt erschlossen. Chatwin geht diesen Fußspuren in seinem faszinierenden Buch nach, das, Roman und Reisebericht zugleich, ein Glücksfall der zeitgenössischen Literatur ist.



Autorenporträt
Bruce Chatwin, 1940 in Sheffield geboren, arbeitete als Jour-nalist bei der ›SundayTimes‹, dann als Leiter derAbteilung für Impressionismus bei Sotheby's. Ausgedehnte Reisen seit 1962 führten ihn nach Afghanistan, in die Sowjetunion, nach Ost-europa, Westafrika, Lateinamerika, Australien. Chatwin starb 1989 in Nizza.

Bruce Chatwin ist mir nicht bekannt. Habe ihn in der Buchhandlung entdeckt. Mich hat das Cover angesprochen. Und auch der Inhalt machte mich neugierig. Mentales Reisen nenne ich das. Seit ich Haustiere habe, bin ich nicht mehr gereist.



Dienstag, 26. Januar 2016

Amos Oz / Der dritte Zustand (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich bin mit dem Buch nicht warm geworden. Oder vielmehr mit den Protagonisten. Sie waren mir nicht besonders sympathisch. Irgendwie denke ich, dass es die Chemie war, die zwischen uns nicht gestimmt hat.
Ich habe viele Zettelchen zwischen den Buchseiten kleben, aber ich werde sie nicht bearbeiten. Ich habe schon viel getan, dass ich das Buch, ohne es abzubrechen, bis zur letzten Seite durchgehalten habe.

Manche Szenen fand ich aber schon bemerkenswert, auch viele Gedanken fand ich gut. Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext ein:

Mit dem ironischen Porträt des sich selbst quälenden Intellektuellen Fima ist Amos Oz nicht nur eine Diagnose der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft gelungen, sondern zugleich ein äußerst humor- und liebevolles Porträt der täglich mit den Fragen von Leben und Tod konfrontierten einzelnen Israelis. Denn hier werden die Hoffnungen wie Ängste der Israelis auf das genaueste dargestellt: Jerusalem erscheint als völlig verrottet, nichts funktioniert, jeder »zweite Typ ein halber Prophet und ein halber Ministerpräsident«, kurz: »ein Irrenhaus«.
Die politischen Themen sind recht interessant, die der Autor in seinem Buch mithilfe seiner Figuren behandelt. Vor allem der Protagonist Efraim Nissan, die Kurzform Fima, scheint ein Pazifist zu sein, denn nur Pazifisten sehnen sich nach Frieden ohne Gewalt. Vor allem sehnt er sich nach Frieden zwischen Israel und Palästina. Er stellt sich oft die Frage, ob die Juden genauso schlecht wären wie die Nazis, mit dem, was sie den Arabern an Gewalt zufügen würden. Fimas Vater dagegen ist anderer Meinung. Man müsse kein Mitleid mit den Arabern haben, denn schließlich würden sie über bis zu 37 (arabische) Staaten verfügen, während den Juden mit Israel nur ein einziger Staat gehört.

Fima ist Mitte fünfzig und von Beruf Historiker. Er ist journalistisch tätig, arbeitet allerdings nebenbei in einer gynäkologischen Praxis als Sprechstundengehilfe.

Fima kam mir ein wenig gestört vor. Er ist nicht in der Lage, eine freundschaftliche Beziehung einzugehen, geschweige denn eine partnerschaftliche. In seinen jungen Jahren hatte er drei Bewerberinnen. Er konnte sich nicht entscheiden und so stellte er alle drei Frauen seinem Vater vor. Der Vater wählte aus und so wurde Fima mit dieser Auserwählten vermählt. Nur leider hielt die Ehe nicht lange und sie wurde wieder geschieden. Aber der Kontakt bleibt zu den drei Frauen, auch sexuell, noch weiter bestehen. Fima heiratet nicht wieder, geht immer mal wieder Seitensprünge ein. Also nichts Festes.

Fima lebt recht einsam, einsam auch, wenn er unter Leuten ist. Nie hatte ich die Chance gehabt, ihn mal authentisch zu erleben. Mit seinen politischen Ideen steht er auch alleine da. Aus seinem Umfeld gesehen scheint er der Einzige, der sich mit der politischen Problemlage seines Landes befasst.

Neben der Politik spricht er viel über Sex, in der Frauenarztpraxis hat er oft sexuelle Visionen Frauen gegenüber. Schon allein die gynäkologische Praxis kann einen Mann dazu verleiten.

Bekanntschaft macht Fima auch in der Küche mit einer Kakerlake. Er hatte schon einen Schuh in der Hand, um auf diese zu schlagen. Aber er unterließ es schließlich und ließ die Kakerlake am Leben. Zwei Tage später lag sie tot in der Küchenecke und Fima wundert sich. Sie konnte nicht verhungert sein, da es in seiner Küche genug Lebensmittel geben würde. Er fragte sich, was er nun mit der toten Kakerlake anstellen sollte? In das Klo werfen und sie hinunterspülen? Nein, das wollte er partout nicht. Er suchte stattdessen eine Begräbnisstätte für sie. Und schon hatte er eine Idee. Er bestattete dieses Insekt in der Erde seiner Pflanze, die in einem großen Blumentopf steckte. Die Idee fand ich recht originell. Ich habe diese Szene mit Anne besprochen und sie sagte, Fima solle aufpassen, dass die Eier in der Erde nicht ausschlüpfen …

Für mich ist Fima ein Mensch, der nicht wirklich erwachsen geworden ist. Und vielleicht hat er mich deshalb ein wenig gelangweilt.
Er wirkte auf mich ein wenig pubertär, auch, dass sein Vater ihm die Frau ausgesucht hat.

Vielleicht fehlte ihm die Mutter, die an einer Gehirnembolie verstarb, als Fima gerade mal zehn Jahre alt war. Der Vater gab dem Jungen keine Zeit, über den Tod seiner Mutter zu trauern. Es wurden sämtliche Objekte aus dem Haus entfernt, die an die Mutter/Ehefrau erinnern ließen. Lediglich ein Foto ließ der Vater in der Wohnung zurück. Auf dem Foto war die Mutter als Abiturientin abgebildet. Das verrät ein wenig die Werte, die der Vater vertritt, leistungsbezogener Maßstab … Der Vater ist ein großer Unternehmer, besitzt eine Fabrik, in der Kosmetika hergestellt werden.

Der Autor lässt ein wenig an Franz Kafka erinnern. In der Tat wurde ein paar Seiten später in einem gewissen Zusammenhang Kafka erwähnt, was ich vorher aber nicht hätte wissen können. Ich habe oftmals einen recht guten Riecher. Zu dem Kafkaesken; im Folgenden ein Zitat. Es behandelt eine Szene im Krieg, in dem eine Großmutter durch die Kriegsfolgen den Verstand verloren zu haben scheint. Ihr Neffe ist derjenige, der permanent auf sie achtgibt, damit sie in ihrer Wirrheit nicht wegläuft. Das bringt die beiden Soldaten, die diese Szenen beobachten, in Erstaunen und sie erklären sich das geistige Verhalten der alten Dame mit folgender naiver Theorie:
Der Verstand im Kopf drinnen sieht aus wie ein Stück Käse. Etwas gelb, etwas weiß. Mit allen möglichen Rillen. (…) Und der Gedächtnisschwund, da wissen die Wissenschaftler heute schon, dass das von Dreck kommt. Das kommt von Würmern, die da reinkriechen und langsam den Käseverstand auffressen. Bis er faulig wird. Manchmal kann man das sogar ein bisschen riechen.
Naserümpfen.

Mein Fazit?
Sollte es ein politisches Buch werden? Das ist gelungen, doch nebenbei tauchen viele psychologische Themen auf, die ein wenig für Verwirrung sorgen. Fima ist ein sehr intellektueller und gebildeter Mensch, er trägt z.B. die gesamte Weltkarte in seinem Kopf, aber seine seelische Verfassung kommt mir im Vergleich zu seiner stark ausgeprägten kognitiven Entwicklung recht unreif vor, obwohl Fima sich schon mit seiner Psyche auseinandersetzt, indem  er sich mit seinen nächtlichen Träumen befasst. Er führt regelmäßig ein Traumtagebuch … Fimas Vater war es wichtig, den Sohn auf gute Schulen zu schicken und gute Abschlüsse zu erreichen. Doch die seelische Bildung blieb dabei auf der Strecke.

Da das nicht die Schuld des Autors ist, dass mich seine Figuren nicht faszinieren konnten, erhält das Buch von mir trotzdem neun von zehn Punkten.

Ich habe von Amos Oz noch ein weiteres ungelesenes Buch im Regal stehen. Das stimmt mich neugierig, welche Figuren er darin behandelt. Sollten mir die Figuren auch darin nicht behagen, dann war es das letzte Buch von dem Autor, das ich gelesen haben werde.

Und was hat der Buchtitel zu bedeuten? Das erfährt man in der Hälfte des Bandes.

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Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)


Gelesene Bücher 2016: 04
Gelesene Bücher 2015: 72
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Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86







Sonntag, 24. Januar 2016

Amos Oz / Der dritte Zustand

Klappentext
Mit dem ironischen Porträt des sich selbst quälenden Intellektuellen Fima ist Amos Oz nicht nur eine Diagnose der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft gelungen, sondern zugleich ein äußerst humor- und liebevolles Porträt der täglich mit den Fragen von Leben und Tod konfrontierten einzelnen Israelis. Denn hier werden die Hoffnungen wie Ängste der Israelis auf das genaueste dargestellt: Jerusalem erscheint als völlig verrottet, nichts funktioniert, jeder »zweite Typ ein halber Prophet und ein halber Ministerpräsident«, kurz: »ein Irrenhaus«.


Autorenporträt
Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 als Amos Klausner in Jerusalem geboren und verbrachte dort seine Kindheit. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Von 1960 bis 1963 studierte er Literatur und Philosophie an der Hebräischen Universität von Jerusalem und kehrte nach seinem Bachelor-Abschluss in den Kibbuz zurück. Seit dem 6-Tage-Krieg ist er in der israelischen Friedensbewegung aktiv und befürwortet eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Er ist Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now). Seit 1987 lehrt er Hebräische Literatur an der Ben-Gurion Universität von Negev, Beesheba. Die Werke von Amos Oz wurden in 37 Sprachen übersetzt. Er hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten.
Der Autor ist mir neu und habe schon ein paar Seiten gelesen und mit Zettelchen zwischen den Buchseiten versehen. So richtig mein Typ ist Oz allerdings nicht. Es gibt viel Gutes in seinem Werk. Zumindest zählt er für mich zu den anspruchsvollen literarischen AutorInnen. Den Stoff, den der Autor bearbeitet, finde ich sehr wichtig und trotzdem kann ich die Gründe (noch) nicht benennen, weshalb mir der Autor so wenig zusagt. Ob es anderen genauso geht? Auf Amazon habe ich gerade mal zwei Rezis gefunden. Sehr außergewöhnlich.




Samstag, 23. Januar 2016

Carola Stern / Doppelleben (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ein sehr politisches Buch, das die Autorin in ihrer Autobiografie von sich gegeben hat. Sie wurde auch in einer schwierigen Zeit, in einer Zeit voller politischer Umbrüche, geboren. Ihr Vater verstarb noch vor ihrer Geburt. In ihrer Kindheit idealisierte sie ihren Vater. Ihre Sehnsucht danach schien schier unstillbar. Die Mutter ging keine weitere Ehe ein. Niemand könne ihren verstorbenen Ehemann ersetzen.

Als junges Mädchen trat Stern der Hitlerjugend bei. Sie wurde Gruppenführerin im Bund junger Mädels. Mit der Sehnsucht nach einem Vater und nach Zugehörigkeit einer Gruppe hatte sie sich von Hitlers Ideologien verführen lassen. Hitler verkörperte nicht nur für sie eine Art Vaterfigur. Auch für viele Erwachsene stellte Hitler stellvertretend eine väterliche Autorität dar. Kritisches Denken war mit dieser Sehnsucht gar nicht möglich. Viele Menschen haben schon durch den Ersten Weltkrieg viele Verluste männlicher Art hinnehmen müssen. Außerdem war Stern dafür noch zu jung, um das System zu durchschauen.

Hitler verliert den Krieg und die Autorin wird desillusioniert und distanziert sich von dem Nazideutschland. Sie geht auf die andere Seite Deutschlands und wird im Aufbau und Gründung der DDR aktiv.

Carola Stern schreibt über ihre DDR-Erfahrung, hauptsächlich auch über die SED und über die Kontakte mit den Amerikanern aus West-Berlin, die einen Spionage-Nachrichtendienst vertreten:
Viele bezahlten einen hohen Preis, um in die Parteielite aufgenommen zu werden. An den Zugangstoren waren abzugeben: Spontanität und Unbefangenheit. Auch die Nachdenklichkeit wurde konfisziert, ebenso die Kreativität. Freund oder Feind! Was wussten wir von Einfühlungsvermögen und Vielschichtigkeit, von dem Untergründigen und der Vielfalt menschlicher Motive? 
Wer ist Carola Stern? Immerhin trägt sie einen jüdischen Familiennamen. Im Nationalsozialismus nicht ganz ungefährlich.

Carola Stern hieß ursprünglich Erika Assmus. Und wann ist aus Erika Assmus Carola Stern geworden?
Sie, im November 1925 geboren, kam aus Ahlberg, Wiesenburg, Potsdam, Kleinmachnov und in Berlin ist sie endgültig Carola Stern geworden. Woran erkennt man noch immer Erika? Was ist neu an Carola? Was steckt von der Assmus in der Stern und was von der Stern in der Assmus? Wie hat sich das Mädchen sein Leben vorgestellt, und was ist aus diesen Vorstellungen geworden? 
An diesem Zitat wird auch der Buchtitel Doppelleben deutlich. Doch wie kam es denn nun mit dem Namen Carla Stern?

Die Autorin, knapp dreißig Jahre alt, wurde journalistisch tätig und in den Anfängen ihrer Tätigkeit wollte sie in ihren Artikeln als Frau anonym bleiben, man riet ihr zu einem Pseudonym. Damals hatte man es bei der Zeitung schwer, sich Autorin zu nennen und so unterzeichnete sie ihre Artikel mit drei Sternen, sonst wären ihre Zeitungsberichte von den männlichen Lesern erst gar nicht ernst genommen worden. Aber das änderte sich. Sie tauschte ihren weiblichen Namen gegen einen anderen weiblichen Namen ein.
Carola! Die Wahl des Vornamens fiel nicht schwer, sie drückte meine Bewunderung für die Polly Brechts Dreigroschenoper, für Carola Neher, aus. Doch wie weiter? Hilfesuchend wandte ich mich einer neben mir stehenden Institutskollegin zu. >>Na, wenn Sie bisher unter drei Sternen geschrieben haben<<, meinte diese, >>nennen Sie sich doch künftig einfach Stern!<< So geschah es: In diesem Augenblick kam Carola Stern zur Welt. 
Eine Zeitlang existierten die beiden Damen friedlich nebeneinander. Doch mit der Zeit zog sich die eine zurück in einen kleinen Kreis von Verwandten und sehr alten Leuten. Erika Assmus kannte kaum noch einer. Carola Stern hingegen trieb es in das öffentliche Leben, in den Hörfunk, vor die Fernsehkamera.  
Interessant fand ich, wie Carola Stern insgesamt auf Männer wirkte. Man konnte sie sich schlecht als Mutter, Haus- und Ehefrau vorstellen.
Ich war damals Mitte zwanzig und Fritz mein erster >fester< Freund. Die meisten Männer meinten, ich sei zu intelligent, um eine >richtige Frau zu sein.<
Ha, was würden dazu die vielen intellektuellen Frauen sagen, wenn sie dieses Zitat lesen würden? Intellektuelle Frauen, die trotzdem Mutter und Ehefrau geworden sind, gibt es zuhauf. Diese merkwürdige Vorstellung kann nur von Männern kommen.

Bei der Partnerwahl war Carola Stern eher auf ältere Männer aus:
Vaterlose Frauen, die sich Väter halten wollen, müssen lange suchen. Oft geraten sie an altgewordene Söhne, die nach Müttern suchen. J 
Auch dieses Zitat fand ich äußerst interessant. Die Konstellation an Partnerwahl ist mir schon öfter begegnet. Aber dass altgewordene Söhne nach Müttern suchen, das hat die Autorin sehr schön ausgedrückt. Beeindruckend, wenn beide in der Partnerwahl ein Elternsubstitut   suchen ...

Viele politische Themen, die die Autorin in ihrer Zeit durchlebt hatte, erinnern mich an unsere aktuelle politische Lage, bezogen auf die Flüchtlingsproblematik. Damals wurde das deutsche Volk als Herrenvolk gefeiert, Juden wurden diffamiert und wir müssen aufpassen, davor warnt auch die Autorin, dass wir nicht wieder ein neues Feindbild kreieren, wenn wir die Vorstellung entwickeln, dass alle Menschen aus den islamischen Ländern rückständig seien, alle fundamentalistisch geprägt, die Männer würden  alle Frauen schlecht behandeln ... In Wirklichkeit gibt es auch in diesen Ländern sehr viele Menschen mit einer aufgeklärten, westlichen Auffassungsgabe. Es gibt auch viele Frauen mit einem Kopftuch, die eine moderne Sichtweise pflegen und nicht alles was westlich ist, muss immer gut sein. Ich beobachte vermehrt, dass die westlichen Länder sehr unkritisch ihrer eigenen kulturellen Lebensweisen und Gewohnheiten sind, während sie anderen Kulturen mehr als kritisch gegenüberstehen. Demnach alle Flüchtlinge unter einem potenziellen terroristischen Generalverdacht zu stellen, halte ich für sehr gefährlich.  
Wir müssen nach menschlichen Verhältnissen streben, die die Menschen nicht in Versuchung bringen, sich gegen andere Menschen schäbig zu benehmen. Das gilt auf andere Weise als zur Zeit des Kalten Krieges auch für unsere Gegenwart.  (…) Wer Frieden will, darf keine Feindbilder aufbauen! 
Carola Stern begab sich selbst in einen Reflexionsprozess, in dem sie sich als erwachsene Frau ihrer politischen Vergangenheit zu stellen wusste. (Nationalsozialismus, die Idealisierung Hitlers, Kommunismus im neuen Deutschland, DDR: Die Idealisierung eines besseren und faschistenfreien Deutschlands … In dem Prozess zählte auch, sich der eigenen Angst zu stellen. Das hat Carola Stern getan, wofür viele Menschen sie für ausgesprochen mutig gehalten haben. Aber dies stellte sich als eine Lebensaufgabe dar …
Je älter ich wurde, umso häufiger kam es vor, dass mich Menschen besonders mutig und energisch nannten. Manchmal versuche ich, so einem Wohlgesonnenen  zu erklären, dass meine Energie aus der Überwindung meiner Angst entsteht. Nur wer weiß, was Angst bedeutet, und versteht, sie zu beziehen, kann auch mutig sein. Darum schäme ich mich meiner Angst nicht mehr. Umsetzung von Angst in Energie, auch in Zivilcourage, bedeutet Bei Sich Sein, ist immer ein Stück Selbstverwirklichung.
Auf die heutige Problemlage müsste es lt. der Autorin heißen:
Fürchtet euch! Vor Waffen, Krieg und Hunger! Vor Überbevölkerung, Umweltzerstörung, Arbeitslosigkeit! Vor dem Ende unserer Welt! 
Carola Stern schreibt auch viel über ihre DDR-Erfahrung hauptsächlich auch innerhalb der SED.

Viel Privates hat die Autorin nicht von sich geschrieben. Umso mehr bewundere ich ihre Gedanken, die sie zur Freundschaft hegte.
Diese Gedanken möchte ich auch noch gerne festhalten, sie ähneln so ein bisschen auch meinen Gedanken dazu:
Ich hoffe sehr, dass alle Menschen, die ich gerne habe, wissen, was Freundschaft mir bedeutet. Die Liebe, hat Bertolt Brecht einmal an seine Frau Helene Weigel geschrieben, ist nur so viel wert, >>als sie Freundschaft enthält, aus der allein sie sich wiederherstellen kann<<. Das gilt auch für meine Ehe und für den Umgang mit den Menschen, die mir besonders nahe stehen. Freundschaft wärmt. Sie gewährt, was der Mensch in diesen ungewissen Zeiten, in denen vertraute Sicherheiten bröckeln, nötig braucht: Halt und Verlässlichkeit, Zuneigung und Achtung, Freiheit und Sicherheit. 
Und besonders in Zeiten der Nöte wird eine Freundschaft unter eine harte Prüfung gestellt. Nicht jeder besteht sie.

Auch Gedanken zu der Liebe zu Büchern fand ich recht schön.
Carola Stern und ihr Mann Heinz Zöger sind große Bücherliebhaber gewesen. Auf die Frage hin, was ihr Mann   bedauern würde, wenn das Leben plötzlich zu Ende wäre?
Ohne zu überlegen antwortete er: >>Dass die Welt voller Bücher ist-und wie wenige hat  man lesen können! Für  wie viele hat die Zeit nicht ausgereicht!<< Bis in seine letzten Tage blieb für ihn Lesen Leben und Leben Lesen. 
Solche Leseerfahrungen schreibe ich mir auch so gerne raus, denn sie decken sich mit meinen. Wie oft diskutieren Anne und ich darüber, ob wir alle unsere Bücher schaffen werden zu lesen, bzw. auch die, die noch zusätzlich angeschafft werden wollen und was mit unseren Büchern nach unserem Ableben geschieht, bereitet gerade auch mir große Sorgen ...

Am Ende des Buches lässt uns die Autorin noch an ihren Gedanken über das Alter und das Noch-Älter-Werden teilnehmen:
Wenn ich ob meines Alters melancholisch werde, ziehe ich aus meinem Schreibtischfach ein Blatt Papier, auf dem ich ganz genau verzeichnet habe, was Menschen selbst im hohen Alter noch geleistet haben. Bedenke, sage ich dann zu mir, Fontane schrieb mit siebenundsiebzig Effi Briest! Chagall begann mit achtzig seine Arbeit an den Chorfenstern in Mainz! Picasso und Bertrand Russell führen die Aufzählung der produktiven Neunzigjährigen an. 

Mein Fazit?
Die Autorin ist aus meiner Sicht eine wichtige Zeugin des nationalsozialistischen Deutschlands und der ehemaligen DDR. Sie hat sich sehr selbstkritisch und aufrichtig ihren Themen gestellt und leistet damit aus meiner Sicht einen großen Beitrag zum Weltfrieden. Die Art, wie sie sich mit ihrem Stoff auseinandergesetzt hat, finde ich sehr mutig und nachahmenswert. Die Autorin lebt nicht mehr, sie verstarb im Januar 2006 in Berlin und ich hoffe, dass ihre Bücher eines Tages nicht auch sterben werden.

Carola Stern hatte ein sehr bewegtes Leben und sie hatte durch ihre journalistische Tätigkeit viele berühmte und kritische AutorInnen kennengelernt, wie z.B. Bert Brecht, Elias Canetti, Günter Grass, Erich Fried u.v.m. Sie bezeichnete diese Freunde als ihre Wahlverwandte. Seelische und geistige Verbundenheit, wie auch Goethe diese in seinem Werk Die Wahlverwandtschaft, beschrieben hat, könne steter und solider als die Blutsverwandtschaft sein.

Man findet in ihrem Werk jede Menge Gedichte von großen Dichtern, die sie auch persönlich kennengelernt hat. Welch ein Glück sie hatte.

Carola Stern hat nicht nur als Autorin ihre zehn Punkte verdient, sondern auch als Mensch. Das Buch empfehle ich allen politisch denkenden Frauen und allen Männern, die sich vor starken Frauen nicht fürchten.

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Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)


Gelesene Bücher 2016: 03
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86




Freitag, 15. Januar 2016

Carola Stern / Doppelleben

Klappentext
Nach Kriegsende heuert die einstige Jungmädelführerin Erika Assmus in einem Raketeninstitut der Russen im Harz als Bibliothekarin an. Sie träumt vom kleinen beschaulichen Glück und lässt sich zur Lehrerin ausbilden. Doch dann taucht ein 'Mr. Becker' vom amerikanischen Geheimdienst auf, und ihr Leben nimmt einen ganz anderen Verlauf: 'Eka' tritt in die SED ein, damit ihre kranke Mutter medizinisch versorgt wird. 1950 wird sie auf die Parteihochschule geschickt. Sie lernt die kommunistischen Phrasen und Parolen, aber nicht den Glauben an die Partei. Eines Tages wird sie denunziert. Eka flieht nach Westberlin, wird Assistentin am Institut für Politische Wissenschaft und beginnt unter dem Pseudonym Carola Stern zu schreiben. Doch mit dem Leben in der freien Welt kommt sie nicht zurecht. Aus einer tiefen Lebenskrise taucht sie mit der Erkenntnis auf, dass sie lernen muss, mit der Angst zu leben. Ihr 'drittes Leben ' beginnt...


Autorenporträt
Carola Stern, früher Verlagslektorin, dann Redakteurin beim WDR und Mitbegründerin von amnesty international, lebt heute als freie Autorin. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, unter anderem Biografien über Dorothea Schlegel und Rahel Varnhagen. Carola Stern starb 2006 in Berlin.
Von der Autorin habe ich das Buch Kommen Sie, Cohn gelesen, das mir recht gut gefallen hatte. Die Autorin kann wirklich gut schreiben.

Das Buch kam durch meine Bücherfreundin Anne zu mir.