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Sonntag, 28. Oktober 2018

Jorge Bucay / Komm, ich erzähle dir eine Geschichte (1)

Lesen mit Tina    
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Mir haben die vielen therapeutischen Geschichten recht gut gefallen. Es war nur etwas anstrengend, die Geschichten hintereinander zu lesen. Eigentlich ist das ein Buch für zwischendurch.

Hier geht es zum Klappentext, Autorenporträt und zu den Buchdaten. 

Die Handlung
Demian ist ein junger Student, der sich in Therapie begibt, da er mit seinem Leben nicht wirklich zufrieden ist. Er landet bei Jorge, ein Gestalttherapeut, der sich in seiner Methode völlig unkonventionell gibt, da Demian es langweilig findet, bei einem Analytiker sich auf die Couch zu legen. Jorge arbeitet tatsächlich anders als seine Kolleg*innen, denn er erzählt Geschichten. Immer wenn Demian in der Therapiestunde sein Problem erläutert, packt Jorge eine passende Geschichte aus seinem Petto, und überreicht sie in Erzählform Demian. Dabei bekommt Demian von Jorge auch zu jeder Therapiestunde eine Tasse Matetee angeboten. Es sind weise Geschichten und Parabeln, die aus Märchen, aus dem Buddhismus, Geschichten aus der Gegenwart und Geschichten aus der griechischen Mythologie bestehen.

Das Schreibkonzept
Zu dem Schreibkonzept gibt es nicht viel zu sagen. Zusammen mit dem Epilog sind es 51 Geschichten. Das Inhaltverzeichnis befindet sich auf der letzten Seite. Gewidmet ist das Buch an die Tochter des Autors.

Cover und Buchtitel?
Passt wunderbar. Aber ob sich der angebundene Zirkuselefant physisch betrachtet wirklich von dem Balken befreien könnte, wenn er wollte, das wage ich zu bezweifeln.

Identifikationsfigur
Mit manchen Geschichten konnte ich mich sehr gut identifizieren.

Meine Meinung
Mir haben nicht alle Geschichten gefallen. Nicht alle haben mich überzeugen können und bei einigen lustigen Geschichten fehlte es mir an Humor. In vielen anderen Geschichten konnte ich mich gut hineinversetzen. Sechs Geschichten haben mir besonders gut gefallen.
1.    Der wahre Wert des Rings
2.    Die taube Ehefrau
3.    Die Exekution
4.    Wer bist du?
5.    Das weiße und das schwarze Zimmer
6.    Der gerechte Richter

Welche von den sechs Geschichten fand ich außerordentlich gut?
Der gerechte Richter und Der wahre Wert des Ringes.

Welche Geschichte fand ich gar nicht gut?
Zwei Nummern kleiner. Sich ein paar Schuhe zu kaufen, die zwei Nummern zu klein sind, damit man den ganzen Tag in beengten Schuhen sein Leben fristen kann, um abends, wenn man die Schuhe zu Hause wieder auszieht, eine Wohltat zu empfinden. Furchtbar. Nichts für mich. Dabei fällt mir der Film Barfuß ein, in dem die Hauptfigur immer barfuß lief, weil sie ihre Füße nicht in Schuhen einsperren wollte. 

Aber meinen Kolleginnen habe ich die Geschichte Der wahre Wert des Rings auf meiner Dienststelle vorgelesen, weil diese Geschichte zu deren Lebensphase und Problematik gepasst hat. Sie fanden die Geschichte richtig gut, haben sich bedankt, und mich danach wohlwollend umarmt. Und ich fand es wunderbar, den richtigen Riecher für meine Kolleginnen gehabt zu haben.

Mein Fazit?
Ein Buch, das für jeden Menschen für den Alltag die passende Geschichte bereithält.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichten
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
11 von 12 Punkten

Und hier geht es zu Tinas Buchbesprechung
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Gelesene Bücher 2018: 46
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86







Sonntag, 29. Juli 2018

John Irving / Bis ich dich finde (1)

Lesen mit Tina
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Was für ein Mammutwerk. Viel zu viele Seiten. Man hätte den Stoff um Längen straffen können. Trotzdem habe ich mich bemüht, das Buch bis zur letzten Seite auszulesen. Mich hat die Handlung nicht wirklich überzeugt, weshalb ich mich in dieser Besprechung kurzhalten werde. Aber für alle LeserInnen, die gerne in die Welt der Tätowierer eintauchen möchten, wären mit diesem Buch gut beraten.

Hier geht es zum Klappentext, Autorenporträt und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Im ersten Teil lernen wir den vierjährigen Jack Burns kennen. Jack wurde 1965 geboren, ist Kanadier, lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter Alice in Toronto.  Alice Stronach kommt ursprünglich aus Schottland, wo sie den Kindsvater namens Callum Burns kennengelernt hat. Callum Burns, von Beruf Organist, hatte während seines Musikstudiums seinen Vornamen geändert und sich seit dem für den Namen William entschieden. Der Vater von William heißt Alasdair. Nach Williams Geschmack viel zu schottisch, weshalb er den Namenswechsel vorgenommen hat.
Alice` Vater war von Beruf Tätowierer. Alice tritt beruflich in die Fußstapfen ihres Vaters. Sie beherrscht ihr Kunstwerk perfekt, sie hatte immer Kundschaft, ganz unabhängig davon, wo sie sich geografisch zeitweise niedergelassen hat. Der kleine Jack wird 1970 an der St. Hilda, ein anglikanisches Mädcheninternat, angemeldet. An dieser Schule hat auch sein Vater Musik unterrichtet, nur weiß das Jack nicht. Doch bevor es mit diesem Kapitel weitergeht, findet erst mal an Alice` Hand eine mehrjährige Reise nach Nordeuropa statt, mit der Absicht, Jacks Vater zu finden. Die ersten Länder waren Dänemark, Niederlande, Finnland, etc.

William Burns ist am ganzen Körper tätowiert. Überall ließ er seine Musiknoten auf die Haut ritzen. Ganze Kompositionen sind dort abgedruckt. In Amsterdam spielte er in einer Kirche für die Prostituierten, was sich als zu aufseherregend erwiesen hat. Obwohl Jack noch so klein ist, lernte er hier die Rotlichtfrauen kennen …  Alice versuchte erst gar nicht, Jack vor diesen an Lebensweise außergewöhnliche Frauen zu schützen, und so fragte der Kleine immer wieder seine Mutter, was z. B. eine Hure sei, als er mit diesem Sprachjargon in Berührung kommt. Eine Hure sei eine Prostituierte, eine Ratgeberin … 
Auf diesen Buchseiten bekommt man als Leserin den Eindruck vermittelt, dass William vor Alice flüchtet, und nichts von ihr und dem Kind wissen möchte, denn sobald Alice mit ihrem Sohn in das Land kommt, wo William sich aufhält, verschwindet er wieder. Aber das ist alles nur arrangiert, denn William musste Alice das Versprechen abnehmen, sich nicht dem Kind vorzustellen. William darf seinen Sohn sehen, aber nicht der Sohn den Vater. Jack konnte damals nicht wissen, dass er häufig seinem Vater gegenübergestanden hat … Als Jack größer wird, und immer wieder bei der Mutter nachfragt, wer denn sein leiblicher Vater sei, bekommt er keine Antwort ... Schwierig für ein Kind, sich eine Identität aufzubauen, zu der die Mutter einen Riegel vorgeschoben hat. 

Die Europareise endet kurz vor Jacks Einschulung. Die Reise wird erneut aufgenommen, als Jack erwachsen ist und seine Mutter an einem Hirntumor gestorben ist. Doch dafür sorgen andere Personen, die ihn auf diese Suche ermuntern. 

In der Zwischenzeit kommt es zu vielen Ereignissen. Auf dem Mädcheninternat lernt Jack, fünf Jahr alt, die zwölfjährige Emma kennen. Emma ist ein außergewöhnliches Mädchen, die Jack sexuell missbraucht. Sie grapscht immer wieder nach Jacks Penis´ aber ohne ihm Schmerzen zuzufügen. Und dies über seine gesamte Kindheit hinweg. Als Erwachsene setzt sich das Penisgrapschen fort. Trotzdem entsteht eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen beiden, sodass dieser sexuelle Missbrauch sich für Jack nicht wie ein sexueller Missbrauch angefühlt hat. Emma kann nicht anders, sie fühlt sich zu Jungen hingezogen, die jünger als sie selbst sind. Jungen, die alle noch Jungfrau sind. Später erfährt man als Leserin, was mit Emmas Kindheit passiert ist, denn auch sie erlitt einen sexuellen Missbrauch vonseiten ihres Stiefvaters, der allerdings nicht mehr bei der Mutter lebt.

Beide Kinder, sowohl Jack als auch Emma, haben keinen Schutz von ihren Müttern erfahren … Ihre psychischen Probleme schleppen beide mit in das erwachsene Leben.

Nach der Schule ergreifen beide einen Künstlerberuf. Emma wird Schriftstellerin und Jack Schauspieler. Häufig übernimmt Jack Frauenrollen und geht als solche auf der Bühne auch gekleidet. Nicht selten wird Jack mit einem Transvestiten verwechselt.

Jack schafft es nicht, eine längere Bindung zu einer Frau aufzubauen, und bleibt, ähnlich wie auch Emma, beziehungsunfähig. Emma kann nach wie vor Sex nur mit minderjährigen Jungen auf ihre Weise genießen, da sie unter einem Vaginismus leidet.

Jack hat immer wieder Kontakt zu einer Frau, die, ähnlich wie Emma, auch ständig seinen erigierten Penis in ihren Händen hält …

Später begibt sich Jack in Psychotherapie und arbeitet nach dem Konzept der Therapeutin seine Kindheit in chronologischer Reihenfolge auf. Hier soll er auch lernen, seinem Vater zu verzeihen, dass er angeblich nicht für ihn gesorgt habe. Auf den Schlusskapiteln begibt Jack, nachdem er sich erneut auf die Europareise aufgemacht hat, in ein psychiatrisches Sanatorium, wo er auf eine wichtige Bezugsperson trifft. Nach dem Tod der Mutter begibt er sich auch auf Wahrheitssuche, die ihn freimacht von den Urteilen seiner Mutter. Hier lernen wir Alice neu kennen, denn Jack trifft jede Menge Leute, die er zu seiner Mutter hin interviewen kann und merkt, dass das Bild zu ihr recht verzerrt ist. Ob Jack es schafft, von seinen seelischen Störungen geheilt zu werden und ob er es schafft, seinen Vater zu finden, möchte ich hier offenlassen.

Das Schreibkonzept
Auf den 1140 Seiten bekommt man es mit fünf Teilen zu tun, die in 39 Kapiteln gegliedert sind. Vor dem Inhaltsverzeichnis sind zwei prosaische Verse abgedruckt. Der erste Vers ist Irvings Sohn und dessen Kindheit gewidmet. Der zweite Vers ist von William Maxwell, amerikanischer Journalist und Schriftsteller, der Also dann bis morgen, über das Geschichtenerzählen geschrieben hat.

Bis ich dich findeCover und Buchtitel?  
Das Cover und den Buchtitel finde ich sehr gut getroffen. Bis ich dich finde, hat sich Jacks Mutter Alice als Tattoo auf ihren Körper einritzen lassen. Doch der Titel passt auch zu Jacks Lebenssituation.

Identifikationsfigur
Keine

Meine Meinung
Es ist ja bekannt, dass John Irving ein Faible für schräge Figuren hat. Hier in diesem Buch sind es die Transvestiten, Homosexuellen, und sexuell andersgeartete Figuren ... Aber manchmal fand ich die Figuren nicht wirklich treffend. 
Ich habe das Buch als viel zu sexistisch erlebt. Ständig dieses Sexualisierende an den Figuren fand ich zu viel, viel zu dick aufgetragen. Jack sitzt zum Beispiel mit zwei Frauen im Kino und beide Frauen wollen seinen Penis halten. Der Roman ist sehr penislastig, sehr sexualisierend. Frauen, die sich ihrem unteren Genital ein Tattoo stechen lassen, haben keine Probleme, sich vor den Kindern Jack und Emma nackt zu zeigen. Wie ging es Irving damit, ständig die Genitalien, männliche und weibliche, vor sich zu sehen, während er dieses Buch geschrieben hat? Sind das reine Männerfantasien? Ich fand das alles nicht authentisch, nicht glaubwürdig genug. Die Figuren in diesem Buch scheinen alle über eine sehr geringe Schamgrenze zu verfügen.
Auch Jack lässt sexuell alles mit sich machen. Jede Frau kann kommen, und ihm an den Penis fassen. Lediglich die Schlusskapitel sind etwas von dieser Art von Sexualisierung befreit.

Mein Fazit?
Die ersten zwei bis dreihundert Seiten fanden Tina und ich richtig spannend. Doch zur Mitte hin flachte das Niveau ab. Dann kam glücklicherweise die Lesepause, die mir gutgetan hat, sonst hätte ich es nicht geschafft, das Buch bis zum Ende zu lesen.
Für mich insgesamt ein anstrengendes Buch, das ich lieber quer hätte lesen sollen, da es für mich viel zu zeitaufreibend war. So bin ich nun vor dem nächsten voluminösen Irving gewappnet und werde mich im Vorfeld erkundigen, ob die vielen Seiten es wert sind, gelesen zu werden.

Ich werde später die Buchbesprechung mit Tinas verlinken, die es auch bei weniger schönen Titeln schafft, ihre Rezension gründlich zu schreiben, da, wo es mir einfach an Geduld fehlt.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
1 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
9 von 12 Punkten.

Hier geht es zu Tinas Buchbesprechung. Leider haben wir uns dieses Mal nicht so ausführlich ausgetauscht. Das lag sicher an der Länge des Buches und wir zu unterschiedlichen Zeiten mit dem Buch durch waren. Bei mir selbst war nach der Besprechung die Luft raus. 
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Die Vernunft hat ihre Grenze gestoßen.
Nur der Glaube wächst immerdar.
              (John Irving)

Gelesene Bücher 2018: 29
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Samstag, 23. Juni 2018

Liane Cornelius / Ich fühle so tief ich kann (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Gestern Abend habe ich das Buch ausgelesen: Es ist eine ganz andere Form von Literatur gewesen, wie ich sie sonst gewohnt bin ... Das Buch hat psychologischen Tiefgang auf der Ebene von Selbsterfahrung.

Hier geht es zum Klappentext und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Man bekommt es in dieser Geschichte mit zwei Menschen zu tun, die in der Kindheit ein schweres seelisches Trauma erlitten haben. Die Icherzählerin Liane, 57 Jahre alt, beschreibt aus ihrer Perspektive ihre gesamte psychische Lebenssituation und in Ansätzen auch die ihres Gefährten. Liane ist körperlich nicht ganz gesund und hat einige schwere Hürden zu überwinden. In kurzen Zeitabständen musste sie sich mehrere Operationen unterziehen. Liane, und sicher jeder andere Mensch in ihrer Lage, stellt sich die Frage, weshalb sie in diesem Alter schon so viele Gebrechen zu erleiden habe? Um die Antwort zu finden, geht sie weit zurück in ihre Kindheit und hinterfragt das Familiensystem, in das sie hineingeboren wurde und sie geprägt hat. Leider erfuhr Liane von ihren Eltern nicht die Liebe, die ein Kind braucht, um gesund aufwachsen zu können. Sehr kühle Eltern, die ihr materiell zwar nichts haben fehlen lassen, allerdings kam die emotionale Zuwendung, die Liebe, viel zu kurz. Liane ist mutig, sie gräbt und gräbt und gräbt tief in ihrer Psyche, um Antworten auf die vielen Fragen zu finden, die sich ihr stellen. Dabei erfährt man ein wenig von der Herkunft der Eltern, und dass auch sie selbst wenig Liebe von ihren Eltern bekommen haben. Dies zu wissen genügt Liane allerdings nicht, denn jeder Mensch sei mit dem Eintreten in das erwachsene Alter für sich selbst verantwortlich, ganz besonders, wenn man eigene Kinder bekommen möchte, um sie nicht mit ihren seelischen Defiziten zu belasten.

Nach den vielen Operationen bekommt Liane häusliche Krankengymnastik verordnet, da sie körperlich stark beeinträchtigt ist. Schon in der ersten Stunde kommen sich Liane und der Physiotherapeut namens Andreas recht nahe. Beide fühlen sich zueinander hingezogen, obwohl sie Lebenspartner haben. Liane ist mit Toni verheiratet, und Andreas liiert mit Laura. Wenn diese Anziehung fast magisch wirkt, dann spielen äußere Differenzen, wie zum Beispiel der Altersunterschied, keine Rolle, denn Andreas ist gerade mal Anfang dreißig, während Lianes Gemahl Toni schon Ende siebzig ist. Liane und Andreas kommen sich mit der Zeit immer näher, bis Liane entdeckt, was die Gründe dieser Anziehung sein könnten? Beide erlitten in ihrer Kindheit ein schweres seelisches Trauma, doch beide gehen unterschiedlich damit um. Während Liane sich intensiv damit befasst, macht Andreas lieber einen großen Bogen um alles, was mit unangenehmen Gefühlen zu tun hat. Es ist Andreas, der Liane von der ersten Behandlungsstunde anfängt zu duzen. Liane macht dies nachdenklich und vermutet dahinter einen Mutter-Sohn-Konflikt. Und in den weiteren Behandlungsstunden werden beide mit alten emotionalen Konflikten konfrontiert. Liane entgeht nichts. Sie ist aufmerksame Leserin ihrer Gefühle, aber auch die von Andreas, der ihre duale Seele zu sein scheint ...

Zwischendrin wird man immer wieder zurück in Lianes gefühlskarge Kindheit geführt, die auch geprägt war von Entwertung und mangelnder Wertschätzung vonseiten ihrer Eltern …

Andreas wird das zu viel, dieses wiederholte Hinterfragen seiner seelischen Blockaden, die er durch Liane widergespiegelt bekommt, und versucht, sich von ihr zurückzuziehen …

Liane ist adipos, und das schon von Kind auf, da sie das Essen unbewusst als ein Hungern ihrer Seele empfunden habe. Sie kompensiert ihren elterlichen Liebesmangel mit dem Essen.

Wie es mit den beiden weitergeht, ob Liane es schafft, sich und Andreas mit Hilfe von Selbstanalysen zu heilen, und woraus Andreas´ erlittener Missbrauch besteht, ist dem Buch zu entnehmen …

Das Schreibkonzept
Das Buch beginnt mit einem Prosavers und endet mit demselben Vers wieder. Eine Identifikation der Icherzählerin mit dem Fluss … Hier wird man etwas vorbereitet, dass der Roman sich mit tiefen Gefühlen beschäftigt. Man findet in dem Buch viele Reflexionen und Gedanken. Dialoge allerdings sind hier recht rar.

Anschließend beginnt der Roman, der auf 395 Seiten aus 31 Kapiteln besteht. Der Schreibstil ist in einer selbstreflektiven Form konstruiert, indem man hauptsächlich in die Perspektiven der Icherzählerin geworfen wird, die ihre Gefühle und ihre Gedanken und die ihres Partners schon fast detektivisch unter die Lupe nimmt …

Ich fühle so tief ich kannCover und Buchtitel?
Das Cover finde ich etwas zu abstrakt, denn es kann alles Mögliche bedeuten, ist aber trotzdem passend, denn man weiß oftmals nicht, was sich in der tiefen, menschlichen Seele so alles verbirgt, wenn man sich auf die innere Reise begibt. Der Buchtitel hat gehalten, was er versprochen hat. 

Ungeklärte Fragen
Dadurch, dass es kein Autorenporträt gibt, konnte ich meine Frage nicht klären, ob die Autorin aus der eigenen Betroffenheit dieses Buch geschrieben hat? Ich vermute eher schon. Außerdem deckt sich der Name der Autorin Liane, ein Pseudonym, mit dem der Protagonistin.

Meine Meinung
Die Auseinandersetzung mit den Abgründen der Psyche und den vielen blinden Flecken eines Menschen fand ich einerseits ganz interessant, andererseits erlebte ich diesen Leseprozess als etwas zu langatmig. Irgendwann hat man genug von den vielen recht persönlichen Psychoanalysen, auch wenn mir bewusst ist, dass die psychologische Auseinandersetzung in dieser Form viel Mut erfordert. Ich verstehe aber auch Menschen, die sich scheuen, an sich zu arbeiten, nicht, weil sie zu bequem sind, sondern weil sie einfach Angst davor haben, in eine Krise zu geraten, aus der sie selbst mit professioneller Hilfe nicht mehr herausfinden. Nicht jeder hat die Kraft dazu, tief, so tief es geht, in sich zu graben, um die Leichen im tiefsten Keller zu bergen. So manche Psychose entwickelte sich bei einigen Menschen durch die Auseinandersetzung mit ihrer Psyche, mit der sie nicht fertig geworden sind. Ein Selbstschutz, der uns von der Natur mitgegeben worden ist, wird häufig aktiviert, und es gut ist, dass es ihn gibt.

Mein Fazit?
Dies ist ein Buch für alle mit einer verletzten Psyche und für die, die Bereitschaft aufbringen möchten, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, um an sich zu arbeiten, damit ein gesundes Leben auch mit Hilfe von Selbstheilungskräften möglich wird. Ein Buch für alle, die auf gedruckten Seiten erfahrbare Psychologie erleben möchten.

Liane Cornelius lässt anhand ihrer Figuren den psychologischen Selbsthilfeprozess vorleben. 

Vielen Dank an die Autorin für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
0 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Neun von zwölf Punkten.
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Gelesene Bücher 2018: 26
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Sonntag, 11. März 2018

Anne Reinecke / Leinsee (1)

Leinsee
Eine Buchbesprechung der o. g. Lektüre

Die Suche nach der verlorenen Kindheit


Die Leserunde
Mir hat das Buch gut gefallen. Es hat Tiefgang, ganz nach meinem Geschmack. In der Leserunde gibt es dazu eine ausgiebige Diskussion. Leider habe ich mit dem Buch wegen der Zeitknappheit erst später begonnen zu lesen ... Viele schöne Gedanken sind im Bücherforum geschrieben, dass ich nichts mehr Neues einfügen kann, weil alles schon gesagt wurde.
Aber Vorsicht, in der Leserunde wird viel verraten, denn anders lässt sich eine Diskussion nicht führen. Meine Buchbesprechung versuche ich abzukürzen, verweise mit einem Link am Ende meiner Rezension auf die Leserunde, für die LeserInnen, die gerne die Details erfahren möchten.

Zum Schreibkonzept
Die Autorin beschäftigt sich in ihrem Stoff auch mit Themen, die in unserer Gesellschaft tabu sind ... Z.B. mit dem Tod und mit dem Umgang damit. Einer der Protagonisten lässt die Leiche seines Vaters aus dem Grab heben, damit diese zusammen mit seiner etwas später verstorbenen Mutter, die Ehefrau des Verstorbenen, eingeäschert werden kann. Meine Frage zu diesem Bild; Was geschieht im Auge des lesenden Betrachters, wenn der Sarg geöffnet wird, um die Leiche herauszuholen? Von selbst entsteht das Bild einer Leiche, deren Verwesungsprozess längst in Gang gesetzt war. Es sticht außerdem in der Nase der Leserin, aber womöglich tragen die Totengräber eine Maske vor dem Gesicht, wenn sie den gehobenen Sarg öffnen und die Leichenteile mit bedeckten Händen herausnehmen.

Das Buch behandelt einen Künstlerroman. Jedes Kapitel ist mit einer bestimmten Farbe nuanciert, dass ich erst nicht wusste, was dies zu bedeuten hat. Im Forum habe ich entnommen, dass diese bildhafte Ausdrucksweise zu einem Künstlerroman passen würde. Ein farbenfroher Roman.
Die Kapitel sind alle relativ kurzgehalten.

Zum Inhalt
Man bekommt es hier mit einem symbiotischen Eltern- und Künstlerehepaar namens August und Ada Stiegenhauer zu tun, die beruflich alles gemeinsam gemacht haben, bis Ada einen schweren körperlichen- und geistigen Zusammenbruch erleidet, und man ihr eine globale Aphasie diagnostiziert hat. August bekommt es mit der Angst zu tun, das Leben ohne seine Ehefrau fortsetzen zu müssen und nimmt sich das Leben ... Das Künstlerehepaar hat einen 26-jährigen Sohn namens Karl, der keinen Kontakt zu den Eltern hat aufbringen können, da er sich von den Eltern vernachlässigt gefühlt hat. Karl wurde einst auf´s Internat geschickt und er wurde dort mit einem Pseudonym angemeldet. Karl Sud, damit niemand dahinterkommen konnte, dass Karl das Kind des berühmten Künstlerehepaars Stiegenhauer sei ..
.
Selbst die Geburtstage des Jungen ignorieren die Eltern, da sie egozentrische, berufliche Ziele nachgingen. Karl verlässt das Internat nach dem Abitur und bricht den Kontakt zu den Eltern ab.

Gleich auf den ersten Seiten bekommt man es mit einer Ladung heftiger Problemen zu tun. Karl, auf dem Weg zu seinem Elternhaus, erbricht in dem ICE, als er sich den erhängten Vater vorzustellen versucht ...

In seiner Trauerphase versucht Karl sich an das Gesicht seines Vaters zu erinnern und es gelingt ihm nicht. Für die Eltern schien nicht wirklich Platz für ein Kind gewesen zu sein. Karl bekommt einen Abschiedsbrief des Vaters zu lesen, der Karls Rückzug anspricht, den er nie verstanden hätte ...

Karl betritt sein Elternhaus, eine Villa am Leinsee.
Er begeht eine Expedition durch dieses Elternhaus. Dies finde ich eine wunderschöne Metapher, und sie zeigt, wie fremd Karl in seinem Elternhaus ist. Die Eltern hatten einen Assistenten engagiert, der das Zimmer bewohnt hatte, was einst Karls Kinderzimmer war. Karl zieht erst mal ins Gästezimmer. Zwischen Karl und dem Assistenten entsteht ein Rollenkonflikt …

Ein weiterer Rollenkonflikt entsteht, als Karl seine Mutter in der Klinik besucht. Als die Diagnose sich geändert hat, die Mutter wurde wieder ansprechbar und konnte selbst erneut sprechen, verwechselte sie ihren Sohn mit ihrem Mann August. Ada litt an einer partiellen Amnesie, und es war nicht sicher, ob sie sich davon erholen würde. Von dem Tod ihres Mannes wurde sie nicht unterrichtet.

Karl kümmert sich um die Mutter und ist erstaunt, dass sie ihren Sohn nicht wiedererkennt. Er löst dieses Missverständnis nicht auf, und schlüpft in die Rolle seines Vaters. Scheinbar scheint er die vielen verbalen süßlichen Liebkosungen seiner Mutter zu genießen, Zärtlichkeiten, Zuwendungen, die er als Kind beider Elternteile vermisste ... Karl sitzt auf dem Krankenbett, als ihm die Tränen kommen. Die Mutter tröstete ihn, August müsse nicht traurig sein, denn alles würde wieder gut werden …

Auf der Seite 102 wird das Fremde nochmals deutlich, als es um Karls Familiennamen geht. Karl Stiegenhauer; er habe länger ohne diesen Namen gelebt als mit ihm. Durch den Tod seines Vaters betrachtet Karl sich gezwungenermaßen als den neuen Stiegenhauer ...

Es beginnt eine Bekanntschaft mit dem achtjährigen Kind Tanja, die im Garten häufig auf den Kirschbaum klettert und Karl beobachtet. Karl und das Kind fühlen sich stark zueinander hingezogen. Wenn Tanja nicht auf dem Kirschbaum sitzt, schmückt Karl die Äste mit verschiedenen Gegenständen, um Tanja zu beschenken. Es lässt vermuten, um durch die Geschenke auf sich aufmerksam zu machen. 

Zwischen ihnen beiden entwickelt sich eine Freundschaft, und man sich als Leserin die Frage stellt, was bringt diese zwei Menschen zusammen, wo Welten zwischen ihnen liegen, was das Leben und der Altersunterschied betreffen. Wer sind Tanjas Eltern? Was halten sie von dieser Freundschaft eines erwachsenen Mannes mit einem kleinen Kind? Sind die Eltern davon in Kenntnis gesetzt? Wird man bei dieser Beziehung als Eltern nicht misstrauisch? Hat man nicht Angst, dass der unbekannte Mann pädophile Neigungen haben könnte? Fragen über Fragen …

Beruflich ist Karl in die Fußstapfen seiner Eltern getreten, ohne dass er etwas von ihnen hatte, seelisch-emotional betrachtet. Geerbt hat er die künstlerische Begabung, aber nicht deren Liebe ... 
Seine Beziehung mit Mara Schlüter ist alles andere als stabil. Mara erinnert mich von ihrem Charakter und von ihren Ansprüchen her an denen von Karls Eltern. Hauptsächlich auf sich fixiert, egozentrische Ziele verfolgen, ohne an Karl zu denken. Mara strahlt eine seelische Kälte aus, die mir unangenehm war. Karl fühlt sich bei ihr unwohl. Zwischen ihm und Mara entsteht ein folgenschwerer Konflikt, der die Beziehung in Frage stellen lässt.

Mehr möchte ich nicht verraten.

Meine Meinung?
Schade fand ich, dass die gesamte Familie Stiegenhauer nichts getan hat, um die Konflikte, die sie untereinander hatten, zu klären. Aber das findet man in vielen Familien. Karl entwickelte sich zu einer instabilen Persönlichkeit mit depressiven Zügen, weil ihm die seelische Wärme seiner Eltern gefehlt hat. Dadurch ist er auch nicht wirklich beziehungsfähig gewesen. Eigentlich war er ein zu braves Kind. Er hätte rebellieren sollen, oder als Erwachsener die Eltern für ihr Versagen zur Rede zu stellen. Man bleibt nicht ewig Kind und man kann nicht ewig unter der Liebesarmut der Eltern leiden. Weil nichts geklärt wurde, schleppt Karl seine psychischen Probleme mit sich herum. Das Mädchen Tanja ist für mich eine Symbolfigur, die für innere Sicherheit und Stärke steht, sie steht auch für Liebe und Weichheit, sie steht für eine unbeschwerte Kindheit, weshalb sich Karl zu ihr hingezogen gefühlt hat. Tanja ist taff, sie weiß was sie will ... Und trotzdem bleiben Fragen offen, wie ich oben schon geschildert habe. Warum hat sich Tanja zu Karl hingezogen gefühlt? Stimmt etwas mit ihrem Vater nicht? Es gibt nur eine Szene, in der man Tanja zusammen mit ihrer Familie auf dem Flohmarkt gesehen hat. Ist dies ein Kunstfehler oder die Absicht der Autorin, Tanjas Eltern aus dem Spiel rauszuhalten? Ohne diese Hintergründe bleibt für mich das Verständnis dieses Romans allerdings ein wenig unbefriedigt.

Mein Fazit?
Ein facettenreicher Künstler- und Familienroman, über den man noch lange nachdenken wird, und immer wieder entstehen neue Fragen und neue Gedanken. 

Zum Buchcover
Das Cover ist total gelungen. Es ist wunderschön, passend zu dem Roman.

Meine Bewertung?
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
12 von 12 Punkten


Weitere Informationen zu dem Buch
·         Gebundene Ausgabe: 368 Seiten, 24,00 €
·         Verlag: Diogenes; Auflage: 1 (28. Februar 2018)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 3257070144

Hier geht es auf die Verlagsseite von Diogenes.
Leserunde auf Watchareadin.
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Gelesene Bücher 2018: 11
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86