Posts mit dem Label Deutschland werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Deutschland werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 6. September 2020

Karmen Jurela / Rauschliebe (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Gestern Abend konnte ich diese Lektüre beenden. Es ist eine ganz andere Form von Literatur, als ich sie bisher gewöhnt war. Der narrative Schreibstil ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, da man die Hintergründe und die Problematik der Protagonist*innen ausschließlich aus einer Perspektive erfährt. Dadurch lässt es auch wenig Raum für eigene Interpretationen. Dennoch ist es ein wichtiges Buch, wie ich weiter unten noch beschreiben werde.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Thematik dieses Buches ist eigentlich schnell erzählt.

Die beiden Protagonist*innen Stella und Pavlos kennen sich von Jugend an. Stella hat sich mit 15 schon zu Pavlos hingezogen gefühlt.

Pavlos fühlte sich für mich wie Familie an, wie ein großer Bruder, allerdings mit beträchtigem Sexappeal. (2020; 9) 

Pavlos Eltern kamen aus Griechenland, Stellas ihre aus Kroatien. Demnach sind beide in Deutschland mit mehreren Kulturen aufgewachsen, während die Eltern einst wieder in die Heimatländer zurückgekehrt sind. Die Handlung spielt hauptsächlich in Berlin. 

Was vermisst Stella, was sie in Pavlos sucht? Die Antwort könnte im obigen Zitat stecken. Pavlos ist fünf Jahre älter als Stella. Beide wurden im selben Krankenhaus geboren, beide studierten später Medizin. Beide gingen erst mal wieder getrennte Wege und sahen sich für viele Jahre nicht mehr. Pavlos gründete in der Zwischenzeit eine Familie, die aber in die Brüche geht. Zurück bleiben zwei kleine Kinder. Später stellt sich heraus, dass die Ehe an einer Alkoholsucht gescheitert ist ...

Stella und Pavlos kommen wieder zusammen. Stella ahnt noch nichts von den gescheiterten Problemen der ersten Ehe. Zwischen ihnen beiden entwickelt sich eine starke Anziehungskraft hauptsächlich sexueller Art. Unbedingt will Stella Pavlos heiraten, auch dann noch, als sich die Probleme nun auch zwischen ihnen beiden immer weiter zuzuspitzen drohen, da Pavlos hier immer weiter von der Alkohol- und Sexsucht mit anderen Frauen ergriffen wird. Rabiate Gewalteskalationen werden in dem Buch zum Dauerbrenner. Stella führt schier einen fast unlösbaren Überlebens- bzw. Liebeskampf mit dem Partner.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Ich fand die Szene grauenvoll, als Pavlos es schaffte, Stella zu überreden, sich vor ihm auf die Knie zu begeben und sie ihm eine runterhauen sollte. Obwohl sie es bescheuert fand, hat sie sich doch dafür breitschlagen lassen. Dann erfolgte wie erwartet eine potenzielle Retourkutsche mit schweren Folgen für Stella …

Welche Szene hat mir gefallen?
Mir hat gefallen, dass Stella sich nicht aufgegeben hat. Sie hat versucht, mithilfe von einer konstruktiven Selbstreflexion und diversen anderen Hilfsmitteln an die Problematik zur Überwindung heranzugehen. Gut fand ich, dass ihre Therapeutin ihr zu keiner Trennung geraten hat, da sie selbst einen Weg daraus hat finden sollen. Gefallen hat mir auch, dass ihr Freundeskreis hinter ihr stand. 

Welche Figur war für mich Sympathieträgerin?
Keine.

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine. Beide, sowohl Stella als auch Pavlos führten miteinander und gegeneinander einen heftigen Überlebenskampf. 

Meine Identifikationsfigur
Keine. Obwohl ich mich zeitweise an eine eigene komplizierte Paarerfahrung erinnern musste. Auch ich hatte mal einen Partner, der mich in einen Strudel von Destruktivität mitreißen wollte. Die Beziehung dauerte nur drei Monate, weil ich seine miese Masche, mit der er selber ziemlich verstrickt war, schnell durchschaut hatte. Ich löste mich von ihm durch einen radikalen Cut, nachdem er mir mehrmals deutlich zu verstehen gab, dass er nicht an seinen Problemen arbeiten wollte.

Ich hatte auch den Vorteil, dass ich durch mein Studium und durch meine Arbeit in einer Psychiatrie ziemlich viel Hintergrundwissen besaß, sodass ich erst gar nicht in diese Muster von Abhängigkeit jeglicher Form erst schlittern konnte.

Cover und Buchtitel 

Beides fand ich passend, wobei ich diesen freudschen Versprecher von Liebesrausch 
analysieren konnte. Darüber hatte ich in meiner Buchvorstellung geschrieben. Stella war so in der Liebe zu diesem Mann gefangen, dass es mir wie ein Liebesrausch mit bitterem Beigeschmack vorkam. Das Cover bereitet auf jeden Fall die Leser*innen auf Tabus vor, und die Realität, wie sie ist, nicht wirklich sehen wollen/können, sie nicht wahrhaben wollen.

Zum Schreibkonzept
Eigentlich ist das Buch als ein Roman deklariert. Finde ich aber nicht wirklich passend, da der Schreibstil eher eine Tagebuchform besitzt. Man hat den Eindruck, dass die Icherzählerin Stella sich schriftlich die Nöte von der Seele herausschreibt. Diese Art von Stil habe ich bei der Hälfte des Buches als anstrengend empfunden, weil sich die Thematik immerzu aus der selben Perspektive wiederholt hatte.

Das Buch zeigt auf den 251 Seiten wenig Struktur. Es gibt keine Kapitel, lediglich ein Epilog und eine übliche Danksagung zum Schluss. Insgesamt zwei Mal schreibt Stella einen Brief an Pavlos und an dessen Geliebte. Von der Art her aber nicht viel anders als der Erzählstil, nur dass die Personen hier direkt angesprochen werden. Aber man erfährt inhaltlich nicht viel Neues. Ein wenig über Pavlos Reaktion auf die Briefe aber auch wieder über Stella.

Meine Meinung
Mit der im  Klappentext beschriebenen Co-Abhängigikeit bin ich nicht ganz klargekommen, wenn ich so im Nachhinein darüber nachdenke. Warum ist Stella co-abhängig? Wo sind ihre Schwächen? Warum bindet sie sich dermaßen sklavisch an einen Partner, der sie schwerst misshandelt und missbraucht? Was kompensiert sie durch Pavlos? Stella ist für mich kein Opfer, sowie Pavlos auch kein Täter für mich ist. Sie sind für mich beide gleichwertig verantwortlich für ihre Handlungen, und beide sind krank, nicht nur der Partner. Warum entwickelten sich beide im Laufe ihres Lebens so, wie sie waren? Aneinandergekettet, niemand schafft es, sich über eine längere Zeit davon zu lösen, während Pavlos erste Frau sich sehr wohl von den Gewalteskapaden zu befreien in der Lage war. Warum hat Stella mit der Trennung solange gewartet? Was sind die tieferen und weniger die äußeren Hintergründe? Hier hätte man mehr Analysen aus der Kindheit mit einbeziehen sollen. Manchmal wirft Stella situativ bestimmt Schlagwörter durch den Raum, wie z. B. angedeutete Identitätsprobleme durch den Migrationshintergrund, oder die vorübergehende Arbeitslosigkeit des Partners.

Auf Seite 199 begeht die Autorin einen groben Fehler, in dem sie schreibt: 

Promiskuität gehört zum Repertoire Suchtkranker 

In der Arbeit mit psychisch und suchtkranken Menschen kann ich diese Pauschalisierung überhaupt nicht bestätigen. Das ist auch wissenschaftlich nicht belegt. Ich kenne nicht einen Suchtkranken, der auch sexsüchtig war. Und ich kenne viele Suchtkranken, die nicht co-abhängig waren. Einige lebten sogar ohne Beziehung, hatten noch nie in einer festen Partnerschaft gelebt. Hier wird ein Vorurteil forciert, das ich für gefährlich halte, wenn Leser*innen, die nicht vom Fach sind, dies einfach ungefragt hinnehmen und sie womöglich diesen Verdacht auf ihre Alkoholbeziehung auslegen.

Und zur Co-Abhängigkeit gibt es zu sagen, dass es diese in weiter Facon gibt, es würde aber den Rahmen sprengen, sie anhand von Beispielen zu benennen. 

Ansonsten halte ich das Buch absolut für lesenswert für Menschen, die ebenso Probleme mit der Paarbeziehung dieser Art haben. Vielleicht bekommt man durch dieses Buch die eigene Beziehung klarer gespiegelt und fühlt sich angespornt, sich endlich von ihr zu lösen. Es gibt viele Menschen, wie ich dies aus meiner Berufspraxis heraus kenne, die es nicht geschafft haben, sich von ihrer Abhängigkeit zu lösen. Ihnen, so denke ich, sollte dieses Buch gewidmet sein und ihnen helfen, sämtliche Ketten zu sprengen.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Die Autorin hatte mir eine Anfrage gestellt. Als ich den Klappentext gelesen habe, habe ich mich gefragt, ob ich das Buch in meiner Freizeit wirklich lesen möchte?, da es mich an meine eigene Klientel erinnern würde und ich mich privat nicht auch noch mit diesen belastenden Problemen befassen wollte. >>Ich habe Feierabend<<, hatte ich mir gedacht. Aber weshalb hatte ich mich doch entschlossen, das Buch anzunehmen? Weil ich dadurch die Hoffnung hegte, dieses Buch an meine betroffene Klientel weiterzureichen. Es ihnen zu empfehlen, weil es sich so schön flüssig lesen lässt, so richtig aus dem Leben gegriffen. Genau für Menschen, die nicht so viel mit Theorien anfangen können. Dies war mein Ziel und ich finde, dass dieses Ziel mit diesem Buch erreicht wurde.

Mein Fazit
Die Liebe geht häufig seltsame Wege und man sollte vorsichtig sein mit vorschnellen Urteilen bei Menschen, die aus schwierigen Beziehungsverhältnissen kommen.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte. (Sie war sehr facettenarm trotz komplexer 
   Problematik)

0 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt (Wenig
   Phantasie, da realistischer Erlebnisbericht über die Stella)

1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Sieben von zwölf Punkten.

Dankeschön an Karmen Jurela für das Leseexemplar. 

________________

Jeder kann die Welt mit seinem
Leben ein kleinwenig besser machen.
(Charles Dickens)

Gelesene Bücher 2020: 16
Gelesene Bücher 2019: 34
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)

Freitag, 22. Mai 2020

Saša Stanišić / Herkunft (1)

Foto: Geralt / PIxabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Leider konnte mich der fiktionale autobiografische Roman zum Ende hin nicht mehr überzeugen. Den letzten Teil hätte man auch weglassen können, da ich von der Thematik der an Alzheimer erkrankten Großmutter des Autors über die Seiten hin reichlich gesättigt war. Saša Stanišić hätte zwei Bücher schreiben sollen, denn zwei Hauptthemen, Herkunft und Alzheimer, waren mir definitiv zu viel, auch wenn mir bewusst ist, dass die Großmutter zur Herkunft dazugehört, sie aber nicht ihr ganzes Leben an Alzheimer litt. Aber sie nahm immer mehr Raum ein, dass ich schließlich die Hauptthematik zum Ende hin aus dem Blickfeld verloren hatte. Ich hatte so viele tolle Gedanken zu dem Buch, die am Ende verblasst waren, weil ich mit der kranken Großmutter abgelenkt wurde. Außerdem ließ die Konzentration in den letzten Kapiteln immer mehr nach. Es gibt so viele Bücher über Alzheimer, egal, in welchem Land sie sich bei einem Menschen ausbreitet, vom Krankheitsbild her sind sie alle gleich. Was sie unterscheidet sind die Charaktere der dementen Menschen.

Ich sehe ein, dass der Autor von einer großen Fabulierlust erfasst wurde, dass er Schwierigkeiten gehabt haben muss, einen Punkt zu setzen. Und dennoch ist es insgesamt ein gelungenes und ein absolut lesenswertes Buch, wie in der Besprechung weiter unten noch zu entnehmen ist.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Handlung ist eigentlich schnell erzählt, auch wenn sie sehr komplex ist, noch dazu, weil sie  aus Fragmenten besteht.

In dieser Autobiografie geht es um die Flucht der Kleinfamilie von Saša Stanišić aus dem ehemaligen Jugoslawien. Der junge Saša ist gerade mal 14 Jahre alt, als er zusammen mit seiner Mutter über Serbien, Ungarn und Kroatin nach Heidelberg flüchtet, während sein Vater wegen seiner an Demenz erkrankten Mutter erst noch zurückbleibt. Sechs Monate später kam schließlich auch der Vater nach, nachdem er alles Notwendige für seine Mutter besorgt hatte. Sašas Vater ist serbischer Abstammung, seine Mutter kommt aus einer bosnischen-muslimischen Familie. Die Familie lebte vor der Flucht in dem Dorf namens Višegrad.
Es ist so: Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es heute nicht mehr. Solange es das Land noch gab, begriff ich mich als Jugoslawe. Wie meine Eltern, die aus einer serbischen (Vater) bzw. einer bosniakisch-muslimischen Familie stammten (Mutter). Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats, Ertrag und Bekenntnis zweier zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion. (2019, 14)

Die Mutter hat Politologie studiert, der Vater Betriebswirt.
Mutter schrieb sich für Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Marxismus in Sarajewo ein. 1980 kehrte sie nach Višegrad zurück mit knapp den besten Abschlussnoten ihres Jahrganges, wurde Marxismus-Dozentin am Gymnasium und stand von überteuerte Waren von fragwürdiger Qualität. Sie echauffierte sich über die unfähige Regierungsriege und soziale Ungleichheit. Fürchtete sich vor dem erstarkten Nationalismus und nahm ihn nicht wirklich ernst. (119f)

Rassistische Auswirkungen gegen Muslime nahmen in dem Land weiter zu, gegen die sich die Mutter zu widersetzen versuchte.
Als der Polizist ihr im April 1992 nahelegte, aus Višegrad zu verschwinden, weil es den Muslimen bald an den Kragen ginge, lautete ihre Antwort in einem Leben, das ich für sie geschrieben hätte: > Wer hat entschieden, dass ich eine Muslima bin? < (121)

In Deutschland angekommen wurden die Eltern allerdings nicht in ihren Berufen eingesetzt. Die Mutter bekam einen Job in der Wäscherei, der Vater auf dem Bau. Der Asylantrag der Eltern wurde nach ein paar Jahren dennoch abgelehnt. Saša konnte in Deutschland bleiben, hat sich sein Bleiberecht über Studium und als freischaffender Künstler erwirkt.

Zurückgeblieben ist die an Demenz erkrankte Großmutter, mit der im Roman alles beginnt, und er mit ihr endet.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Ich fand es sehr, sehr traurig, dass der Asylantrag der Eltern in Deutschland abgelehnt wurde und die Familie ein weiteres Mal getrennt wurde. Wie muss das für den jungen Saša
 
gewesen sein, dass er erst seine Großmutter, sich dann von den Eltern trennen musste? Wie muss es für die Eltern gewesen sein, nach Amerika ohne den Sohn zu emigrieren? Was macht die Politik mit Menschen, die ganze Familien auseinanderreißt?

Auf der Seite 36 fand ich eine Szene, die sich wiederholt mit der Frage beschäftigt, wo ein Mensch mit dieser inneren Zerrissenheit hingehört? Mutig, dass Saša ohne die Eltern in Deutschland ein Leben wagte, das zu seiner neuen Heimat wurde.
Man will gelegentlich von mir wissen, ob ich in Deutschland zu Hause sei. Ich sage abwechselnd ja und nein. Die Leute meinen es selten ausgrenzend. Sie sichern sich ab. Sie sagen: >Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, meine Cousine hat einen Tschechen geheiratet. <

Diese Erfahrung machen sogar Menschen, die nicht nach Deutschland geflüchtet sind, sondern hier mit etwas Ausgrenzendem geboren sind, um bei dem Ausdruck zu bleiben. Fremder Name, andere Religion, andere Hautfarbe ... Viele müssen sich ein Leben lang ausgrenzende Bemerkungen anhören. In der vierten sogenannten Migrantengeneration wird man in Deutschland immer noch ausgegrenzt, man wird daran erinnert, dass man in ihren Augen nicht zu den Deutschen zählt.  

Welche Szene hat mir gefallen?
Manche Szenen habe ich als recht surreal erlebt, die mir aber total gut gefallen haben. Schon auf der ersten Seite wird man mit einer davon konfrontiert. Die Großmutter Kristina, 87 Jahre alt, die ein kleines Mädchen sieht, es ruft, es hinter ihr herläuft, bis sie das kleine Mädchen aus den Augen verliert, weil es vor ihr wegläuft. Das kleine Mädchen war sie selbst.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Nur eine Nebenfigur? Und doch zeigt mir folgende Szene über den Vater eines Freundes innere Größe gegenüber einem geflüchteten Kind. Mir war Rahims Vater sehr sympathisch. Rahim selbst ist ein Jugendlicher mit drei weiteren Geschwistern, der mit seiner Familie in Heidelberg in geordneten Verhältnissen lebte, während Saša mit seinen Eltern noch in einer Notunterkunft wohnte, für die er sich geschämt haben muss, da er sich gewünscht hatte, dass die Familie mal seine Eltern besuchen kommen würde, er aber einen Besuch nicht zusammenbringen konnte, obwohl Rahims Eltern nach Auskunft des Autors sich über eine Einladung gefreut hätten. Rahim war mit Saša befreundet. Seine Eltern sind fränkische Atheisten und Geisteswissenschaftler. Der Vater ist Semitist. Saša hatte die Familie durch die ruhige und respektvolle Art innerhalb der Familienmitglieder sehr bewundert. Doch was mir gefallen hatte, war Folgendes:
Nachdem (Rahims Eltern) erfahren hatten, dass ich vor dem Bosnien-Krieg geflohen war, erzählten die beiden weder von einem Kroatien-Urlaub in den Achtzigern auf der „Wie-hieß-die-Insel- noch-mal?“, noch eröffneten sie einen Mentalitätskurs über die >Serben<.Der Vater sagte: > Tut mir leid, dass du das erleben musstest, Saša. Ich lese mich gern ein, und wir sprechen über den Konflikt, wenn du wieder vorbeikommst. Falls du das möchtest. < (188)

Diese Empathie hat mich total beeindruckt. Außerdem hat dieser Mann dem Kind Interesse bekundet, sich in die Materie erst einzulesen, statt loszuplappern, und zu prahlen, was er über das Land über triviale Urlaubserfahrungen an Halbwissen verfügt. Der Ausdruck Mentalistätskurs fand ich zudem wahnsinnig gut getroffen.

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel 
Der Buchtitel wird leider zu sehr von der demenzkranken Großmutter eingenommen, wie ich eingangs schon beschrieben habe. Das Cover? Die vielen Wappen darauf sind mir unbekannt, die wohl zu der Herkunft des Autors gehören. Sie sind wahrscheinlich mit dem ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien in Verbindung zu bringen.

Zum Schreibkonzept
Das Buch ist auf den 360 Seiten chronologisch und stilistisch nicht wie ein Roman verfasst, wie man das sonst gewohnt ist. Man muss sehr viele Zeitsprünge vor und zurück hinnehmen. Der Stoff ist zudem in Fragmenten gepackt, sodass es schwierig ist, eine Beziehung zu den Figuren herzustellen. Die jeweiligen Kapitel sind nicht nummeriert, ich weiß also nicht, aus wie vielen Kapiteln das Buch besteht, ich werde sie nicht zählen, und sie sind außerdem noch recht kurzgehalten. Eigentlich gibt es ein Epilog, der allerdings mit einem weiteren Teil des Buches Der Drachenhort anschließt. Das etwaige Ende, das aus verschiedenen möglichen Ausgängen bestehen kann, welcher, das entscheiden die Leser*innen selbst, ist sehr außergewöhnlich, das ich ein wenig verspielt erlebt habe. Der Erzählstoff besteht aus einem Mix zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Meine Meinung / Meine Gedanken
Bis zu dem letzten Abschnitt war ich total fasziniert von dem Buch. Es hat mich nachdenklich gestimmt, wobei die Thematik nicht neu für mich ist. Nachdenklich bin ich immer wieder, was die Herkunft eines Menschen betrifft, weil man nicht so eindeutig bestimmen kann, woher ein Mensch kommt. Für viele Menschen weltweit, die aus einer homogenen Herkunft stammen, für sie ist alles glatt, übernehmen die kulturellen und nationalen Zuschreibungen, die sie von Kindesbeinen an übermittelt bekommen, ohne diese später zu hinterfragen. Doch auch bei diesen Menschen würde sich ein Weiterdenken lohnen, denn, wie selbst der Autor schreibt, ist die Herkunft durch Zufall determiniert. Kein Kind, das genau in diese Familie, in dieses Land, in jene Gesellschaft, geboren wird, hat selbst diese Wahl treffen können. Selbst eine homogene Herkunft ist, wenn man sie sich genau betrachtet, differenziert zu einer anderen homogenen Herkunft. Sašas Eltern hatten sich entschieden, das Kriegsland zu verlassen, andere sind dortgeblieben, weil sie nicht bedroht wurden, oder sich woanders versteckt haben, etc. Die Eltern hatten entschieden, nach Deutschland zu fliehen, andere fliehen in andere Länder. Deutschland ist nicht das einzige Land, in das Menschen flüchten, wenn auch die Medien uns dieses Gefühl vermitteln. Wer wäre man geworden, wäre man im Land geblieben? Wer wäre man geworden, wäre man in ein anderes Land geflüchtet? Man könnte den Gedanken noch unendlich weiterspinnen. Wer wäre man geworden, wäre man in einer anderen Familie geboren? Auf jeden Fall immer ein ganz anderer Mensch, der aus sich das zu machen gezwungen ist, was er nach der Geburt an Werkzeug für sein Leben vorfindet, um sich zu formen.
In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet. Es hätte ebenso gut Osloer Regen sein können. Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will. Glück hat, wer sich geographische Wünsche erfüllt. Das gibt dann vorzügliche Sprachreisen, Alterswohnsitze in Florida und Auswanderinnen in die Dominikanische Republik zu besser aussehenden Männern. (123)

Auch für mich ist die Herkunft, homogen oder different, immer eine komplexe Frage. Die einen sind Adoptivkinder, andere Kinder wurden abgetrieben und bekamen nie eine Chance, ein Mensch zu werden, andere wurden in armen Familien geboren, andere in reiche, etc. Wer sucht sich das aus? Schaut man sich die homogenen Väter an, unterscheiden sie sich von anderen homogenen Väter. Die Mütter ebenso. Die eine Mutter trinkt, der andere Vater ist ein Schläger, andere sind auf unterschiedliche Weise wohlwollend, etc. Stolz auf ein Land zu sein, das wir als das unsrige bezeichnen, ist als sterbliches Wesen, das ein Land aus diesem Grund niemals besitzen kann, genauso ein Nonsens. Und trotzdem denken viele, anders sind nur die, die woanders herkommen, weil sie angeblich über andere Sitten und andere Gene verfügen würden.

Auch für den Autor lässt sich eine Herkunft nicht nur in eine Blutgruppe pressen.
Also doch, Herkunft, wie immer, (…) eine komplexe Frage: Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. (32f)

Da wir gerade europaweit wieder eine Tendenz zum Nationalismus erleben, sind sich Menschen, die das Land, das sie als ihr eigenes bezeichnen, nicht bewusst, dass das Land, auf das sie so stolz sind, auch Früchte anderer Länder trägt. Der Autor macht dies aus eigener Erfahrung / Beobachtung anschaulich:
Ausgerechnet hier! Auf diesem Balkan, Mann! An der Kreuzung zwischen Orient und Okzident! Alle sind hier irgendwann aufmarschiert, alle! Alle haben sich breitgemacht, wurden besiegt, (oder auch nicht) zogen sich zurück. Und sie alle ließen etwas da. Rom, Venedig, die osmanischen Heere, Österreich-Ungarn. Und all die Slawen. Juden kamen von der iberischen Halbinsel und blieben. Roma-Enklaven existieren im gesamten Raum. Die Deutschen schliefen in Betten meiner Vorfahren. Alle waren hier, wo du dasselbe Lied in verschiedenen Tonarten anstimmst (…). Hier, wo du türkischen Kaffee trinkst, deutsche und arabische Lehnwörter selbstverständlich benutzt, mit urslawischen Vilen in den Wäldern tanzt und auf Hochzeiten zu gleichermaßen miesen kroatischen oder serbischen Schlagersongs. Hatten wir nicht die Tore von „Roter Stern“ gemeinsam bejubelt? Offenbar nicht. (99f)

Mein Fazit
Ein sehr lesenswertes Buch, das mich total bereichert hat. So viele Zitate hätte ich gerne noch herausgeschrieben. Toll, es gelesen zu haben. Am schönsten fand ich allerdings die Sprache; sehr verspielt, sehr ideenreich, sehr kreativ. Wundervoll.

Eine klare Leseempfehlung!!!

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Als Mitglied bei der Büchergilde stand erneut ein Quartalskauf an. Dort im Laden ausgelegt ist mir das Buch sofort ins Auge geschossen. Da es mir schon auf der Frankfurter Buchmesse 2019 aufgefallen ist, war es klar, dass ich dieses Buch erwerben wollte. So kam mir die Büchergilde entgegen, die es in ihrem Bestand zum Verkauf angeboten hatte.

Es ist ein bepreistes Buch. Ich mache mir aber nichts mehr aus Buchpreisen, da ich schon häufig damit enttäuscht wurde, und ich deshalb mit Buchpreisen so etwas auf Kriegsfuß stehe. In letzter Zeit scheine ich Glück zu haben, denn auch dieses Buch hat meinen Geschmack treffen können und hat auch aus meiner Sicht absolut seinen Preis verdient. Er erhielt den Deutschen Buchpreis.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Der Autor hätte allein der Sprache wegen seine 12 Punkte verdient. Wenn alles andere minderwertiger ausgefallen wäre, hätte ich dem Buch trotzdem 12 Punkte vergeben.

Deshalb zwölf von zwölf Punkten, auch wenn es von der Rechnung her elf Punkte sind.

________________
Jeder kann die Welt mit seinem
Leben ein kleinwenig besser machen.
(Charles Dickens)

Gelesene Bücher 2020: 12
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)


Freitag, 1. Mai 2020

Hendrik Lambertus / Das Erbe der Altendiecks (1)

Foto: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Mir hat dieser historische Roman sehr gut gefallen. Obwohl der Band über 600 Seiten umfasst, fand ich ihn nicht übertrieben ausschweifend. Die Uhrmacher-Familiendynastie Altendieck ist mir über mehrere Generationen durch ihre warme Art sehr ans Herz gewachsen, wenn auch deren Lebensläufe besonders am Anfang nicht besonders einfach waren, da ihr Schicksal von bösen Intrigen dominiert und erfasst wurde, und ich die Befürchtung hatte, diese Widrigkeiten würden sich über die gesamte Geschichte hinziehen.

Ich empfehle jedem, der nicht zu viel über dieses Buch erfahren möchte, nur die Handlung zu lesen, oder nur den Klappentext. Ich bemühe mich sehr, nicht zu viel zu verraten, aber es ist schwierig, eine Buchbesprechung zu schreiben, wenn viele Fakten ausgelassen werden, und man nur um den heißen Brei redet, wie man sie so häufig im Netz findet. Aber gerade eine längere Besprechung kann die Neugier und die Aufmerksamkeit im besonderen Maße wecken, wie ich so häufig rückgemeldet bekomme. 

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Man lernt hier die Familie Altendieck kennen, die 1766 in Bremen in drei Generationen unter einem Dach lebte. Der Uhrenmeister Johann Altendieck ist in den Vierzigern, ist Witwer und alleinerziehender Vater von drei Kindern. Mit im Haus lebt Johanns Vater Nicolaus, der aber aufgrund seines Alters nicht mehr in der Uhrenwerkstatt mitwirkt. Johann und sein Sohn Friedrich stellen Standuhren her und genießen in ihrer Heimatstadt durch ihre Präzisions- und Fleißarbeit einen angesehenen Ruf, bis zu dem Tag, als die neidvolle Konkurrenz Johann Altendieck mithilfe einer bösen Intrige in aller Öffentlichkeit diskreditiert hatte und ihn dadurch in den finanziellen Ruin stürzte. Nun steht Johann vor seiner Familie, die er nicht mehr ernähren kann, da seine Kundschaft ausbleibt. Er schickt seine beiden Töchter Clara und Gescha zum Arbeiten als Dienstmädchen in eine adlige Familie. Clara beugt sich ihrem Schicksal, um dem Vater die Last abzunehmen, der dadurch zwei Familienmitglieder weniger zu versorgen hätte, während Gescha es schwerer hat, denn Gescha ist ein ganz besonderes Mädchen, das eine ganz besondere Bindung zu ihrem Großvater und seinen Uhren hat. Gescha ist anders, sie interessiert sich nicht fürs Kochen, sie interessierte sich für keine Hausarbeit, stattdessen interessiert sie sich für Uhren. Sie will Uhrmacherin werden. Ihr Großvater bringt ihr alles bei, was sie dafür an Kenntnissen und an Fertigkeiten benötigt, wohingegen ihr Vater versucht, ihr diese Hirnspinnerei auszureden, da Frauen angeblich niemals Uhrmacherinnen werden können.

Gescha geht aber ihren Weg, selbst dann noch, als sie den Dienst einer Hausmagd betritt und sie sich mit harten, langweiligen Tätigkeiten abmühen muss. Dennoch schafft sie es, mit viel Unterstützung ihrer Schwester Clara heimlich ein Seechronometer herzustellen, da passable Seeuhren damals noch nicht auf dem Markt waren.

Bis zu fünf Generationen entwickelte sich die Uhrmacherfamilie weiter, die sich trotz harter Umstände nicht hat unterkriegen lassen. In dieser Familiendynastie lebt auch die Standuhr Hora, die auf mich gewirkt hat, als wäre sie beseelt. Mit viel Liebe und Sorgfalt wurde sie hergestellt, gepflegt und bis zum Schluss am Leben erhalten.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Es waren viele Szenen. Neben der Intrige zu Beginn gibt es noch eine Handlung, die ich als sehr, sehr traurig erlebt hatte, ich mich dazu aber bedeckt halten möchte, um anderen Leser'innen nicht zu viel vorwegzunehmen.

Ich greife nun eine Szene auf, die man überall und zu jeder Zeit erleben kann. Eine ganz banale Begebenheit, die ich aber als grausam empfand, als Gesche und Clara durch die Armut gezwungen wurden, Hausrat von ihrer verstorbenen Mutter zu verkaufen. Die Arroganz jener vornehmen Dame, die empathielos in der Wunde der beiden Mädchen sticht, sodass ich mich immer wieder fragen musste, warum Bildung nicht ausreicht, um Menschen zu besseren Menschen zu machen? Reiche Leute verfügten wegen der genossenen Bildung über genug Potenzial, das sie wegen ihrer Eitelkeit aber lieber verschwendeten, als es einzusetzen.
>> Ich suche einige schöne Stücke für meine Tochter Charlotte (…). Möglicherweise nehme ich die Truhe, wenn ich noch etwas dazu finde. … Vielleicht die nette Uhr auf der Diele?<<>> Unverkäuflich<<, knurrte Gesche.
>> Sie hat einen sentimentalen Wert<<, erklärte Clara. Die Ohlandt´sche nickte verständnisvoll. >>Von manchen Dingen mag man sich selbst dann nicht trennen, wenn ein Unheilsstern über der Familie aufgegangen ist. Wirklich furchtbar … <<>> Nicht furchtbarer als in den Angelegenheiten anderer Leute zu wühlen, weil die eigenen zu langweilig sind <<, erwiderte Gesche. Sie hatte plötzlich das Gefühl, am pudrigen Geruch der wehrten Frau Ohlandt zu ersticken. (2020, 141)
Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Gefallen hat mir, dass Gesche es tatsächlich geschafft hat, den Weg als Uhrmacherin zu gehen. Zu ihrem ersten Chronometer verhalf ihr der Großvater Nicolaus, der erkannte, dass seine Enkelin sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen lässt. Sie eröffnet ihm ihre Pläne, als dieser sich danach erkundigt:
>> Hast du konkrete Pläne? <<, fragte der Großvater neugierig.
>> Ich denke, ich werde ein Seechronometer konstruieren <<, erwiderte Gesche halb verlegen und halb trotzig.
>> Das wird gewiss eine reizvolle Übung. <<>> Ich habe nicht vor, nur zu üben <<, erklärte Gesche bestimmt. >> Ich werde ein Chronometer bauen. Ein besseres als alle anderen! Wollen sehen, ob dieses kleine Seefahrtsproblem noch lange besteht … <<>> Daran haben sich schon viele kluge Köpfe vor dir versucht <<, stellte Großvater bedächtig fest.>> Ich will keine neue Methode erfinden, sondern eine Uhr konstruieren, die den Ansprüchen auf See genügt. << Gesche verschränkt die Arme. >> Immerhin bin ich die Tochter von Johann Christian Altendieck, der die große Uhr im Bremer Rathaus gebaut hat. <<>> Und die Tochter von Magdalena Altendieck, die stets alles vollbracht hat, was sie sich in den Kopf gesetzt hat <<, ergänzte Großvater mit der Andeutung eines Schmunzelns.>> Und nicht zuletzt die Enkelin von Nicolaus Christioph Altendieck <<, schloss Gesche ernst, >> der mir alles beigebracht hat, was er weiß. <<>> Dann solltest du es wohl versuchen. << (160)
Mir hat diese Szene so gut gefallen, weil der Großvater so fortschrittlich dachte, indem er seine Enkelin, obwohl sie ein Mädchen war, trotzdem in der Technik jener Uhren gefördert und sie darin gestärkt hatte, ihr Ziel zu verfolgen. Man bedenke, dass sich dies in der Zeit des späten 18. Jahrhunderts abspielte. Auch wenn diese Szene nur ausgedacht ist, glaube ich schon, dass es solche Menschen im Stillen überall auf der Welt gegeben hat. 

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Das waren mehrere. Der französische Offizier Laurent de Mondtidier war mir sehr sympathisch, da er nicht wie ein Soldat wirkte. Er wurde durch die Auswirkungen der Französischen Revolution und durch die Napoleon - Kriege im Kampf mit Deutschland ins Ausland versandt. Die besetzten Bremer wurden politisch von den Franzosen gezwungen, in ihren Häusern Soldaten aufzunehmen. Die Altendiecks hatten durch die politischen Auswirkungen selbst nicht genug zu essen, und bekamen nun noch ein Maul mehr zu stopfen. Hierzu Gesches erwachsener Sohn Nicolaus:
>> Wir bekommen eine Einquartierung <<, erwiderte er ein wenig ratlos. >> Ein Offizier, weil wir ihn als wohlhabenden Bürgerhaus standesgemäß versorgen können. Wir haben ihm bei 50 Reichstalern Strafe ein Mittagessen mit Fleisch, ein Abendessen mit Bier und eine tägliche Ration Kornbrand zu stellen. << (392)
Gesche hatte es tatsächlich geschafft, die Werkstatt ihres mittlerweile verstorbenen Vaters zu übernehmen. Auf ihrem Fachgebiet entwickelte sie sich zu einer Koryphäe. Sie bestand auf die Fortführung ihres Mädchennamen Altendiecks. Nicolaus, ihr ältester Sohn, ist allerdings Künstler, und möchte eigentlich kein Uhrmacher werden, doch der autoritäre mütterliche Einfluss lässt keinen anderen Beruf zu, sodass Nicolaus es nicht schafft, sich ihr zu widersetzen.

Als schließlich der französische Leutnant in die Schlafkammer bei ihnen einzieht, findet dieser die Bilder, die Nicolaus gemalt hatte, und ist total angetan von den Gemälden. Später stellte sich heraus, dass auch der Leutnant Künstler ist, und so entsteht zwischen Nicolaus und ihm eine besondere Bindung. Ähnlich wie bei Nicolaus durfte auch Laurent kein Künstler werden, da er vom Vater gezwungen wurde, eine militärische Laufbahn einzuschlagen. Obwohl beide Länder, Deutschland und Frankreich, gegeneinander verfeindet waren, wurden Laurent und Nicolaus trotzdem Freunde. Mit der Zeit entwickelte sich mehr als nur eine Freundschaft. Das finde ich so schön, dass der Krieg sie nicht zu Feinden gemacht hatte, weil sie zueinander eine geistige Verwandtschaft entdeckt hatten.
>> Das Handwerk Ihrer Familie, << Mondtidier seufzte wissend - so ist es auch bei mir. Die Mondtidier sind Soldaten, seit Jahrhunderten. Wir haben schon den Valois gedient, dann den Bourbonen – erst mit dem Schwert an der Seite in glänzenden Rüstungen, später in der Offiziersuniform. Dann kam die Revolution, unser Schloss wurde niedergebrannt. Und doch erging es uns glimpflich, im Vergleich zu vielen anderen. Aus der Republik wurde ein Kaiserreich, und der Soldat braucht Soldaten für sein riesiges Heer. Alle, die er kriegen konnte, auch die vom Adel der alten Zeit. <<>> Aber Sie sind kein Soldat? << fragte Nicolaus sanft.
>> Es heißt, ich hätte die Hände meiner Mutter <<, erwiderte  
Mondtidier . >> Sie hat mir das Zeichnen beigebracht. Doch mein Vater hält nichts von solchen weibischen Betätigungen, wie er es nennt. Für ihn kam nur die Militärakademie in Frage. (… ) Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen <<, sagte Nicolaus vorsichtig. >> Es fühlt sich … hoffnungslos an. Sich mit einem Platz abzufinden, auf dem man nicht wirklich gehört. << (407f)
Wer konnte Laurent Mondtidier besser verstehen als Nicolaus Altendieck? Sie teilen dasselbe Schicksal und dieselben Interessen.

Welche Figur war mir antipathisch?
In einem historischen Roman bekommt man es mit multiplen Figuren zu tun, und so halte ich mich lieber weiter an die Figuren der Familie Altendieck, weil sie mich so sehr beschäftigt und mir ans Herz gewachsen sind. Und mich beschäftigte Gesche, denn sie entwickelte sich zum Familienoberhaupt und zu einer Matrone, die in ihrem Haus, selbst dann noch, als sie eine alte Dame wurde, über alles wacht, dass ja alles seinen rechten Gang geht. In dieser neuen Rolle hat sie mir nicht gefallen, auch wenn dies eine außergewöhnliche Leistung ist, dass sie sich als Frau so hochgearbeitet und durchgesetzt hat. Selbst wenn die Frau nach dem Gesetz noch rechtlos war, schaffte sie es, sich innerhalb ihrer Familie zu emanzipieren, um in die väterlichen Fußstapfen treten zu können. Für die damalige Zeit war dies eine wahnsinnige Leistung. Aber die mangelnde Toleranz ihrem Sohn Nicolaus gegenüber stieß bei mir auf Unverständnis. Auch sie dachte, was viele damalige Männer dachten, dass Malereien keine ehrbaren Berufe seien, da Gesche die Profession eines Uhrmacherhandwerks an oberste Stelle setzte.

Nicolaus und Laurent hatten gemeinsame Träume, Ziele, berühmte Maler im Ausland zu besuchen. Da beide Länder verfeindet waren, mussten sie ihre Beziehung, auch die freundschaftliche Art, heimlich angehen.
Das waren Träumereien, die im tiefsten Winter begonnen hatten: eine gemeinsame Reise in den Süden, um die alten Meister vor Ort zu studieren – und die blütenferne Fülle der Ferne in sich aufzunehmen.
Folgendes Zitat hat mir besonders gut gefallen:
>> Zwei junge Edelmänner auf der Fahrt zu den Wurzeln der Schönheit <<, hatte Laurent geschwärmt.
>> Oder ein junger Edelmann und sein bürgerlicher Diener? <<, hatte Nicolaus mit einem schiefen Lächeln erwidert.
>> Unsinn, wir teilen den Adel des Geistes. <<
Den Adel des Geistes teilen, das fand ich so schön ausgedrückt, weil dieser über nationale Grenzen und über geistige Schranken hinausgeht.

Meine Identifikationsfigur
Ich habe mich sowohl mit Laurent als auch mit Nicolaus identifizieren können.

Cover und Buchtitel   
Es war das Cover, das mich angezogen hat. Über den Titel musste ich mich erst besinnen, bevor ich den Klappentext gelesen habe. Was könnte sich für ein Genre an Familie dahinter verbergen?, hatte ich mich gefragt, und habe mich auf eine Thomas Mann – Buddenbrook – Geschichte einer anderen Art vorbereitet. Aber außer den Vornamen der beiden Väter Johann konnte ich auf den ersten Blick kaum eine Affinität der beiden norddeutschen Familien entdecken, obwohl es im Nachhinein durchaus ein paar ganz wichtige Parallelen gab. Aber das Schicksal der beiden Dynastien zeigten antagonistische Anfänge und Ausgänge.  

Zum Schreibkonzept
Auf der ersten Seite findet man einen weiblichen Namen, für die das Buch evtl. geschrieben bzw. gewidmet wurde. Auf den folgenden Seiten ist das Inhaltsverzeichnis abgedruckt. Der Romanstoff besteht auf den 637 Seiten insgesamt aus fünf Teilen. Innerhalb dieser Teile finden zeitliche Umbrüche zwischen neun, fünfunddreißig und dreiundzwanzig Jahren statt. Im ersten Teil ist ein Stammbaum der Familie Altendieck abgebildet. Hier besteht die Familie noch aus drei Generationen. Einen weiteren Stammbaum findet man im dritten Teil auf der Seite 330, auf dem der Stammbaum um zwei weitere Generationen zugenommen hat. Die Geschichte endet mit einem Epilog. Auf den weiteren Seiten sind ein Glossar und ganz zum Schluss ein Nachwort zu lesen.

Der Schreibstil ist flüssig, und obwohl das Buch relativ umfangreich ist, ist der Autor nicht ausschweifend gewesen. Das hatte aber auch den Nebeneffekt, dass manche Figuren zu kurz gekommen sind. Ich weiß noch immer nicht, was aus Nicolaus` Bruder Arend geworden ist. Wahrscheinlich als Soldat in Russland verschollen, ohne dass jemals seine Leiche geborgen werden konnte, da im Stammbaum zu Arend kein Todessymbol abgebildet war, was dazu führte, dass ich ähnlich wie Gesche von Seite zu Seite auf seine Rückkehr gewartet habe. Auch Clara geriet in den späteren Teilen immer mehr in den Hintergrund, sie verschwand völlig von der Bildfläche. Aber das fand ich absolut passend.

Wie aus dem Nachwort entnommen wird, gibt es die Altendiecks nur fiktiv. Der Autor hatte allerdings reelle historische Daten in diese erdachte Familie hineingewoben, was mir die Mühe ersparte, mehr über diese Familie im Internet zu recherchieren, da es hier um eine sehr sympathische Familie ging, die selbst in schwersten Zeiten stets zusammenhielt.

Meine Meinung
Der ganze Roman ist sehr authentisch geschrieben, allerdings hatte mich auch das Ende nachdenklich gestimmt. War das Ende zu idealistisch?, habe ich mich gefragt: Ja, das war es, aber mittlerweile kann ich es als gelungen betrachten, da ich die Ausklänge nicht als kitschig erlebt habe. Auch wenn die Realität weitaus härter ist, wenn Generationen an Menschen sich als Konkurrenten feindselig gegenüberstehen, dann finde ich es schön, wenn Autor*innen ihre Figuren bessere Lösungen vorleben lassen, damit diese Feindschaft wenigstens literarisch endlich ein Ende findet. Gesche war eine sehr kluge Frau, aber in dieser Frage ist auch sie gescheitert. Sie hat die Feindschaft unausgesöhnt mit ins Grab genommen, auch wenn ich sie dafür nicht verurteilen möchte, denn sie ist es, die den Schmerz ihres Vaters durch die damalige öffentliche "Blasphemie" seines Berufstandes miterlebt hat.

Auch der historische Part war gelungen dargestellt. Bis in die letzte Generation sehnte sich die Frau nach Gerechtigkeit. Gleichheit, Freiheit … mit diesen Parolen der Französischen Revolution blieben Frauen weiterhin ausgeschlossen. Buchautorinnen mussten unter einem männlichen Pseudonym ihre Werke herausgeben. Auch Gesche musste den Meistern ihr erstes selbsterschaffenes Uhrwerk von einem männlichen Kollegen vorführen lassen. Insgesamt aber, neben den ausbleibenden Frauenrechten, konnte mich das Buch wieder in diese Zeit zurückversetzen, in der es noch keine Demokratie gab und die Menschenrechte lediglich auf die unterschiedlichen Stände verteilt waren, die durch die Geburt bestimmt waren ... Interessant war für mich auch zu lesen, wie und wann die ersten Taschenuhren entstanden sind.

Die Beziehung zwischen Gesches Enkel Ernst und dessen Freundin Anna Greven hatte starke Züge von Romeo und Julia, selbst wenn der Ausgang glücklicherweise ein anderer war.

Mein Fazit
Eine sehr lesenswerte Familiengeschichte, geschrieben von einem männlichen Autor, der sehr feinfühlig sich auch in die Rolle einer Frau hineinversetzen konnte. Dazu noch ein gut recherchiertes Buch, was der historische Anteil betrifft.

Meine Empfehlung?
Eine klare Leseempfehlung. Das Buch sollte unbedingt verfilmt werden. 

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Der Rowohlt – Verlag hatte mir eine Anfrage gestellt, die ich glücklicherweise angenommen habe. Herzlichen Dank an den Verlag für das Leseexemplar.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.

________________
Jeder kann die Welt mit seinem
Leben ein klein wenig besser machen.
(Charles Dickens)

Gelesene Bücher 2020: 10
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)