Lesen mit Tina
Ein
Verriss …
Eine
Buchbesprechung zur o. g. Lektüre
Ich
habe eine Nacht über das gelesene Buch geschlafen, und ich muss sagen, so wenig
Positives die Autorin in ihrem Buch gebracht hat, so wenig Positives kann ich
über das Buch selbst schreiben.
Denn
leider kann ich mich zu dem Buch nicht der allgemeinen Beliebtheit anschließen.
Ich werde hier kaum Lobeshymnen aussprechen können. Ich bin etwas von dem Buch
enttäuscht, andererseits ahnte ich schon im Vorfeld, welche Themen auf mich
zukommen werden. Meine Befürchtungen bestätigten sich recht schnell. Die
Figuren habe ich so ziemlich bald durchschaut, auch die Ereignisse waren für
mich vorhersehbar, es gab für mich keinerlei Überraschungseffekte. Ich hatte
außerdem so ziemlich schnell hinter die Fassade der Icherzählerin blicken
können. Mir wurde schnell klar, wie sie selbst gestrickt ist, wie ihre
Denkweise und ihr Umgang mit ihrer angeblichen genialen Freundin ist, deren
Ton ich unterschwellig als abfällig und den Buchtitel als zynisch empfunden
habe, selbst wenn dies nicht die Absicht der Autorin war.
Die Icherzählerin Elena kommt mir vordergründig als die einzig "Gute" im Roman vor. Elena, die glaubt allen Missständen auf den Grund zu gehen. Eine Weltverbesserin im Alleingang? Aber Elena ist mir genauso unsympathisch wie all die anderen Figuren auch.
Kann
eine Welt dermaßen schlecht sein? Wieso gibt es nicht eine Figur, die mir
annähernd sympathisch war?
Kann
das realistisch sein, dass alle Menschen in dem Roman gar nicht fähig sind,
ihre Probleme sachlich zu lösen?
Und wo sind die anständigen Menschen? Will mir die Autorin weis machen, dass es die in Neapel nicht gibt?
Zur
Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Sie könnten
unterschiedlicher kaum sein und sind doch unzertrennlich, Lila und Elena, schon
als junge Mädchen beste Freundinnen. Und sie werden es ihr ganzes Leben lang
bleiben, über sechs Jahrzehnte hinweg, bis die eine spurlos verschwindet und
die andere auf alles Gemeinsame zurückblickt, um hinter das Rätsel dieses
Verschwindens zu kommen. Im Neapel der fünfziger Jahre wachsen sie auf, in
einem armen, überbordenden, volkstümlichen Viertel, derbes Fluchen auf den
Straßen, Familien, die sich seit Generationen befehden, das Silvesterfeuerwerk
artet in eine Schießerei aus. Hier gehen sie in die Schule, die unangepasste,
draufgängerische Schustertochter Lila und die schüchterne, beflissene Elena,
Tochter eines Pförtners, beide darum wetteifernd, besser zu sein als die
andere. Bis Lilas Vater seine noch junge Tochter zwingt, dauerhaft in der
Schusterei mitzuarbeiten, und Elena mit dem bohrenden Verdacht zurückbleibt,
eine Gelegenheit zu nutzen, die eigentlich ihrer Freundin zugestanden hätte. Ihre
Wege trennen sich, die eine geht fort und studiert und wird Schriftstellerin,
die andere wird Neapel nie verlassen, und trotzdem bleiben Elena und Lila sich
nahe, sie begleiten einander durch erste Liebesaffären, Ehen, die Erfahrung von
Mutterschaft, durch Jahre der Arbeit und Episoden politischer Bewusstwerdung,
zwei eigensinnige, unnachgiebige Frauen, die sich nicht zuletzt gegen die
Zumutungen einer brutalen, von Männern beherrschten Welt behaupten müssen. Sie
bleiben einander nahe, aber es ist stets eine zwiespältige Nähe: aus Befremden
und Zuneigung, aus Rivalität und Innigkeit, aus Missgunst und etwas, das größer
und stiller ist als Lieben. Liegt hier das Geheimnis von Lilas Verschwinden?
Das
Buch ist dermaßen düster, hat einen kafkaesken Touch, Licht scheint es in
diesem Milieu, in dem die beiden Mädchen Elena und Lila aufwachsen, nicht zu
geben. Selbst die Freundschaft der beiden Mädchen wirkt recht kühl und lieblos
auf mich. Für mich ist das keine echte Freundschaft.
Wie
kann ein Land nur bestehen, das gefüllt ist von so viel roher Gewalt? Die
Figuren wirken auf mich wie Höhlenmenschen. Völlig undiszipliniert und
triebhaft in ihrem Auftreten. Wie kann ein Kind in so einer geistigen Armut und
emotionaler Lieblosigkeit überhaupt groß werden? Sowohl Elena als auch Lila haben ihre Kindheit
überstanden, und auch die NeapolitnerInnen scheinen nicht dem Untergang geweiht
zu sein. Irgendwas muss doch auch gut gewesen sein. Nur was? Aus meiner Sicht
hält Elena einen recht selektiven, gefilterten Blick auf Land und Leute.
Aus
meiner Sicht sind diese Darstellungen alle arg übertrieben. Nun bekommen die
LeserInnen wieder das Bild vorgesetzt, das sie eh schon von den ItalienerInnen
glauben zu wissen. Laut, explossiv, ungebildet, traditionell, kriminell …
Arm
zu sein ist keine Schande, und nicht jeder mittellose Mensch wird durch seine
Armut per se ein schlechterer Mensch.
Doch
selbst die Gebildeten in dem Buch treten recht rigide und anstandslos auf.
Das
Einzige, das mir an dem Buch wirklich gefallen hat, das ist das Cover.
Ich
habe mit meiner Bücherfreundin Tina gelesen und wir haben recht heftig
diskutiert. Ich habe einen ganz anderen Background als Tina, daher die
unterschiedlichen Wahrnehmungen. Ich kenne die vielen Vorurteile, die vielen
Stereotypen, den Rassismus, den viele Deutschen bewusst oder unbewusst
ItalienerInnen gegenüber hegen, weshalb sie die ItalienrInnen immer wieder als
Exoten beschreiben. Dabei sind das Menschen wie alle anderen auch. Ich kenne
aber auch die Vorurteile und den Rassismus, den die ItalienerInnen gegenüber ihren
Landsleuten hegen …
Ich
weiß nicht, ob ich es tatsächlich schaffen werde, alle vier Bände von Ferrante zu
lesen. Tina und ich haben jetzt erstmal beschlossen, uns den zweiten Band noch
vorzunehmen, aber ich glaube nicht, dass sich an dem Erzählstil etwas verändern
wird. Neugierig bin ich schon, und hoffe auf eine differenziertere Wahrnehmung
der Erzählerin.
Mein Fazit?
Aus
meiner Sicht wird viel zu viel Wirbel um Ferrantes Bücher gemacht. Auf www.perlentaucher.de fand ich eine Buchbesprechung, die mir aus der Seele gesprochen
hat. Hierzu der Link einer Buchreporterin aus der Frankfurter Allgemeine, abgelegt auf perlentaucher, bitte runterscrollen.
Ich
zitiere:
Wo zwei Mädchen im Grundschulalter die
Puppe der jeweils anderen in ein schwarzes Kellerloch werfen, geht es nicht
zimperlich zu. Von Beginn an spielen Unfälle aller Art eine Rolle. Menschen
werden verletzt, gehen mit Messern aufeinander los oder tragen die Zeichen des
Krieges noch mit sich herum. Ein Vater wirft seine Tochter aus dem Fenster. Die
Jungs der Straßenbande bewerfen die Mädchen mit Steinen, und die wehren sich.
Und wo das der Fall ist, kann es um literarische Verzauberung glücklicherweise
nicht gehen. Die Welt, von der erzählt wird, ist dafür zu hart und zu sehr von
Gewalt durchdrungen.
Außerdem
ging es mir ähnlich wie dieser Rezensentin.
Ferrante
mit Dickens, Proust … zu vergleichen, finde ich arg übertrieben. In Dickens
Bücher gibt es neben den dunklen Gestalten auch positive, Figuren mit guten
Charakteren, die man bei Ferrante erst mit der Lupe suchen muss. Die Welt in Dickens
Bücher erlebte ich wesentlich authentischer und vor allem differenzierter ...
Und
wie bei der Rezensentin ließ auch bei mir die Konzentration recht schnell nach,
wo ich doch anfangs recht neugierig war. Tina und ich haben uns total auf das
Buch gefreut, so viel Furore wurde um diese Lektüre gemacht, sodass wir uns wie
von einem Virus angesteckt fühlten. Ich bin nun enttäuscht, dass mir das Buch
nichts Neues bieten konnte. Ich will nicht behaupten, dass die Szenen alle
unglaubwürdig sind, nein, das sind sie nicht, sie sind nur recht einseitig und
undifferenziert dargestellt.
Haben
wir LeserInnen nun etwas Neues in dem Buch zu Italien und seinen Leuten erfahren?
Italien
wird niemals diesen schlechten Ruf verlieren, denn dafür sorgen schon diese Art
von Büchern. Und darunter leiden in dem Land viele unschuldige Menschen, anständige Leute, wenn
Vorurteile, Rassismus … dadurch weiter forciert werden.
Ich
musste aber an Michael Degen denken, der das Buch über den Nationalsozialismus und über die Deutschen geschrieben
hat Nicht alle waren Mörder. Und so
schließe ich mich Degen an und sage, liebe Leserinnen und liebe Leser, nicht
alle in Neapel sind bei der Mafia, nicht alle gehen mit dem Messer aufeinander
los, nicht alle Männer vergreifen sich an jungen Mädchen …
Wegen
dieser mangelnden Differenziertheit in verschiedener Hinsicht bekommt das
Buch von mir nur fünf von zehn Punkten.
Ich verweise zusätzlich auf den amerikanischen Spielfilm Im Teufelskreis der Armut; selbst im reichen Amerika grassiert Armut ähnlich wie in Neapel. Der Film zeigt, wie schwer es ist, diesen Kreislauf zu durchbrechen, wenn eine unmenschliche Gesellschaft nicht in der Lage ist, sozial benachteiligte Menschen aufzufangen. Und was sie alle zeigen, ist, dass viele dieser Menschen, die existentiell bedroht sind, nicht offen für Bildung sind. Das wird in dem Film deutlich, und das hat absolut nichts mit der Nationalität zu tun.
Hier der Film.
Noch einen Gedanken hinterhergeschoben:
Falls jemand meinen italienischen Namen mit dem Buch und Neapel in Verbindung bringt, so muss ich sagen, das ist nicht das Italien, das ich kenne. Die Armut der ItalienerInnen ist mir bekannt. Ich kenne auch die korrupte Regierung, die sich auf Kosten der Leute bereichert. Die meisten ItalienerInnen, die ich kenne, sind wirklich arm, aber sie arbeiten hart für ihren Unterhalt. Die meisten ItalienerInnen, die ich aus dem Land kenne, sind sehr kinderlieb, die alles tun, um ihren Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen, es sind freundliche und ehrliche Menschen. Ferrante geht gar nicht auf die politische Situation ein und meine Aufgabe betrachte ich als Leserin, auf politische Sichtweise, auf Rassismus, Klischees und Stereotypen aufmerksam zu machen. Menschen, die mich kennen, wissen aber auch, dass ich mich aber für jedes andere Land auch stark machen würde.
Ein Nachtrag, 05.02.17:
Ich habe mir gestern Abend nochmals die Klappentexte von den übrigen drei Bänden vorgenommen. Im vierten und letzten Band steht:
Lila, die ihren Schicksalsort nie verlassen hat, ist eine erfolgreiche Unternehmerin geworden, aber dieser Erfolg kommt sie teuer zu stehen. Denn sie gerät zusehends in die grausame, chauvinistische Welt des verbrecherischen Neapels, eine Welt, die sie Zeit ihres Lebens verabscheut und bekämpft hat.
So, nochmals eine Nacht drüber geschlafen, habe ich mich nun entschlossen, die Bücher von Ferrante nicht weiter zu verfolgen, da die Verallgemeinerungen selbst im letzten Band unverändert geblieben sind.
Ich lese lieber meinen Proust weiter und all die anderen interessanten Bücher, die auf meinem SuB warten.
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck
(Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
0 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder
zu sentimental wirkt
0 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen,
Klischees und Rassismus
Und hier geht es zu Tinas
Buchbesprechung.
Weitere Informationen zu dem Buch
D: 22,00 €
A: 22,70 €
CH: 31,50 sFr
Erschienen: 29.08.2016
Gebunden, 422 Seiten
ISBN: 978-3-518-42553-4
Auch als erhältlich
Und hier geht es auf die Suhrkamp-Verlagsseite.
______
In jedem Land sind die Dummköpfe in Überzahl.
(Marcel Proust)
Gelesene
Bücher 2017: 05
Gelesene
Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86