Montag, 5. Juli 2021

Prousts Pläne mit seinem literarischen Lebenswerk

Weiter geht es dieses Wochenende von der Seite 694 bis 704.

In dieser Besprechung geht es hauptsächlich um Prousts Pläne, sein Romanwerk in Druck zu geben. Proust sucht einen Verleger, ist aber nicht sicher, wer es werden soll und ob es nicht vorteilhafter wäre, sein Buch auf eigene Kosten selbst herauszubringen. Er weist schon im Vorfeld dem Verleger Fasquelle auf Anstößigkeiten hin, noch bevor dieser selbst das Manuskript gelesen hat. Daran wird für mich deutlich, wie sehr Proust entweder mit einer Ablehnung rechnet, oder mit Abstrichen und Abstriche ist er nicht bereit, hinzunehmen.

Doch was das betrifft, ist Proust mit seinem Lebenswerk, das zukünftig mit dem siebten Band abschließen wird, noch längst nicht durch. Die morgige neue  Leserschaft weiß mittlerweile, dass sein Romanzyklus erst kurz vor seinem Tod fertig werden wird. Und bis dahin vergehen noch knapp zehn Jahre. Das bedeutet, einige Teile sind bis jetzt noch gar nicht geschrieben. Proust selbst weiß noch nichts von seinem Glück, dass er noch mehr Samen ausstreuen muss, um sein Lebenswerk zum Abschluss zu bringen.

In dem folgenden Brief geht es darum, dass Proust wohl in Eugène Fasquelle einen Verleger finden könnte, es für mich aber noch unsicher ist, wer der wirkliche Verleger letzten Endes tatsächlich sein wird. Ich bin gespannt und total neugierig darauf, wie Proust sich entscheiden wird. Ein kurzer Austausch mit seinem Freund A. Bibesco, der ihm eine gute Stütze ist.

An Antoine Bibesco
Ende Okt. 1912, hier ist Proust 41 Jahre alt

Du weißt ja, dass Calmette sich freundlicherweise verpflichten wollte, meinen Roman bei Fasquelle unterzubringen. Aber ich fürchte (obwohl ich ihn Fasquelle noch nicht gegeben habe), dass er dieses Werk in drei Bänden unter drei verschiedenen Titeln (oder in zwei Bänden unter zwei verschiedenen Titeln) und mit zeitlichem Abstand zwischen den einzelnen Bänden herausbringen will. Zum anderen scheint mir, dass die Revue Francaise einen günstigeren Boden für die Reifung, für die Verbreitung der Ideen bieten würde, die in meinem Buch enthalten sind. Kurz, ich möchte mein Buch auf meine Kosten (und nicht mehr wie bei Fasquelle auf Kosten des Verlegers) bei der Revue Francaise erscheinen lassen. Kannst Du sie darum bitten? Sie werden überzeugt sein, dass ich ihnen meinen meine Artikel schicken ließ, um das vorzubereiten. (694f)

Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass es aus diesen wenigen Bänden später sieben verschiedene Teile mit unterschiedlichen Titeln noch werden sollen. Momentan kämpft Proust noch sehr um das Formale:

Das Werk wird ungefähr 1250 reichlich gefüllte Seiten zählen (bei ungefähr ebenso viel Zeilen pro Seite wie Fasquelles Édukation sentimental). Am besten wäre, es erschiene in zwei Bänden, der eine 700, der andere 550 Seiten stark. Sonst zwei zu 600 oder 3 zu 400 Seiten. Ich könnte die ersten 600 Seiten sofort in Druck geben lassen, und während der Druck anläuft, würde ich den Rest ins Reine schreiben und zugleich die Fahnen korrigieren. Sieh bitte zu, dass die Revue francaise zusagt; ich bin sehr erpicht darauf. (696)
Im Folgenden ein Brief, der direkt an den Herausgeber Fasquelle geht. Hier gibt Proust Vorgaben, wie er sein Buch verlegt haben möchte.

An Eugène Fasquelle, Verleger der Revue Francaise,
Ende Oktober 1912

Monsieur,

Monsieur Calmette schickt mir die denkbar angenehmste Nachricht, indem er mir mitteilt, dass Sie mein Werk zur Veröffentlichung annehmen. Dass es bei Ihnen erscheinen soll, überwältigt mich dermaßen, dass ich fast Angst hatte, es sei wie alles, was man sich sehr wünscht, nicht durchführbar; erlauben Sie daher, dass ich Ihnen zuallererst meinen Dank ausspreche. 

In aller Aufrichtigkeit möchte ich Sie von vornherein darauf hinweisen, dass das betreffende Werk das ist, was man früher unschicklich nannte, noch sehr viel und unschicklicher als das, was gewöhnlich erscheint. Wenn ich Ihnen in dieser Hinsicht einige Erklärungen schulde, so deswegen, weil ich Sie mit dem Manuskript des ersten Bandes, den ich Ihnen schicke und der von wenigen Stellen abgesehen sehr keuch ist, nicht über den Rest hinwegtäuschen möchte, und ich möchte auch nicht, dass Sie nach Erscheinen des ersten Bandes die beiden letzten nicht mehr veröffentlichen wollen (oder den letzten, denn vielleicht ist der ganze zweite Teil den einem einzigen starken Band unterzubringen).

Dieser zweite Teil liegt geschrieben vor, aber da er nur in Form von Heften und nicht maschinenschriftlich existiert, schicke ich ihn Ihnen nicht vorweg, das diesem Brief beiliegende Manuskript bietet ja schon genug Stoff für einen Band. (698)

Inhaltlich äußert Proust:

Eine meiner Gestalten (sie treten im Werk auf wie im Leben, das heißt, sie werden anfangs nur flüchtig gestreift und oft erst viel später als Gegenteil dessen durchschaut, was man sich zuerst dachte) tritt im ersten Teil nur ganz am Rande als mutmaßlicher Liebhaber einer meiner Heldinnen in Erscheinung. Gegen Ende des ersten Teils (oder zu Beginn des zweiten, falls das Manuskript, das ich Ihnen schicke, die Grenzen eines Bandes leicht überschreitet) lernt er sie kennen, brüstet sich mit seiner Virilität, seiner Verachtung für die verweichlichten jungen Leute usw. Im zweiten Teil nun stellt sich derselbe, ein alter Herr aus bester Familie, als Päderast heraus; Er wird in komischer Manier gezeichnet, aber man sieht, wie er, ohne dass ein unanständiges Wort fällt, einen Concierge >herumkriegt< und einen Pianisten aushält. Ich glaube, dieser Charakter - der virile Päderast, der wütend ist auf die verweichlichten jungen Leute, die Etikettenschwindel betreiben, weil sie bloß Frauen sind, dieser >Misanthrop< aus Leiden an den Männern, ganz wie manche Männer misogyn sind, die zu sehr unter Frauen gelitten haben, dieser Charakter ist, glaube ich, etwas Neues (vor allem durch die Art, wie er dargestellt ist, die ich hier nicht ausführen kann) - und deswegen bitte ich Sie, mit niemandem darüber zu sprechen. Folgendes ist in dem zweiten Teil stark anstößig. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ich es durchaus nicht darauf angelegt habe, und der Grundzug meines Werkes dürfte für die sittliche Qualität meiner Absichten bürgen. Und indem ich Sie bitte, ein Thema >vertraulich< zu behandeln, von dem niemand weiß und dass man mir ausreden könnte, wenn es >durchsickern< würde, teile ich Ihnen im Folgenden einige Einzelheiten mit, sodass Sie von vornherein alles kennen, was Sie von Ihrer wohlwollenden Entscheidung abbringen könnte. (698f)

Im Weiteren geht es um die Suche nach dem passenden Romantitel: Die verlorene Zeit, und Die wiedergefundene Zeit. Wenn man bedenkt, dass Die wiedergefundene Zeit erst im siebten Teil erscheinen wird, das heißt, er ist noch gar nicht geschrieben, möchte ich gerade nicht in Prousts Haut stecken, wie er von seinen Ideen durchflutet wird. Dadurch ist er gezwungen, seine alte Struktur immer wieder in eine neue zu werfen; neu denken, neu entwerfen, neu gestalten … Sein Lebenswerk ist längst nicht fertig auszureifen, da immerhin noch drei / vier Teile fehlen. 

Da ich glaube, dass Sie mir nicht erlauben würden, die Ziffer I über den ersten Band zu setzen, gebe ich ihm den Titel >>Die verlorene Zeit<<. Wenn ich alles Übrige im zweiten Band unterbringen kann, nenne ich ihn >>Die Wiedergefundene Zeit<<. Und über diese Bandtitel schreibe ich als Haupttitel, der in der seelischen Welt auf eine körperliche Krankheit anspielt: Arrhythmien des Herzens. Wäre wünschenswert, dass der erste Band so umfangreich wie möglich wird, sei es auch nur, um den Schluss in einem einzigen Band unterzubringen (ich bin mir nicht sicher, ob das möglich ist). (699f)

Ich kürze mal ab, da mir die Zitate einfach zu lang sind, möchte aber nur einen Einblick geben, in welchem Prozess Proust gerade steckt, sein Lebenswerk veröffentlichen zu lassen.

In diesem Fall bestünde die verlorene Zeit aus nur einem Band, und was nicht hineinpasst, käme in >>Die wiedergefundene Zeit<<.
Bin gespannt, wie Proust auf den vollständigen Buchtitel Auf der Suche nach der verlorenen Zeit kommen wird, von dem ich mich damals, als ich begonnen hatte, ihn zu lesen, magisch angezogen gefühlt habe.

Interessant finde ich einen weiteren Brief an einen Schriftstellerfreund, in dem Proust über seinen eigenen Schreibstil schreibt. Der Brief geht an Louis de Robert. Louis de Robert *1871, gest. 1937, ist einer der Ersten, der Auszüge aus Prousts Buch zu lesen bekommen hatte, um ihn zu beraten. Doch auch die Weisheiten, die in diesem Brief stecken, Anekdoten aus seinem Roman, möchte ich gerne auch herausschreiben. 

An Louis de Robert
28. Okt. 1912

Ich bin sehr gerührt von ihrer so netten und raschen, das heißt doppelt netten Antwort, wie es in einem Sprichwort heißt >Qui cito dat, bis dat<. (Übers. >>Wer rasch gibt, gibt doppelt<<, s. Fußnote, S. 704) Erlauben Sie mir bitte, ihnen zunächst zu den Freuden und Tagen (ich weiß, man müsste sagen: zu Freuden und Tage, aber sparen wir uns diese Allerweltseleganz) etwas zu sagen, was Sie mir hoffentlich glauben, obwohl es unglaubwürdig erscheinen könnte, würde ein anderer es jemals anderem mitteilen. Als Sie mir letztes Jahr geschrieben haben, fiel mir ein, dass ich Sie ihnen hatte schenken wollen und es nie getan habe, weil ich es zu gut machen wollte: Ich hatte Madame Lemaire bitten wollen, für Sie ein Blümchen auf die 1. Seite zu malen. Und dann konnte ich nie aufstehen, zu ihr gehen (...). kurz, es kam einfach nicht dazu, und ich schicke Ihnen das Buch gleichzeitig mit diesem Brief, denn wenn ich netter sein wollte und es Ihnen immer noch nicht schickte, würde ich Gefahr laufen, überhaupt nicht nett zu wirken. In meinem Buch kommt ein kleiner Junge vor, der einem Bekannten gegenüber sehr viel zum Ausdruck bringen möchte, und als er ihm begegnet, findet er, ein Gruß könne all das bei weitem nicht ausdrücken, und er grüßt ihn nicht. Der andere vermerkt das natürlich übel. Ich will das so nicht machen wie der kleine Junge und schicke Ihnen die >>Freuden und Tage<<. (...) was den Artikel in der Renaissance Latin angeht, so wurde er zur Einleitung einer Übersetzung von Sésame et Lys umgearbeitet. Aber wenn Sie meine Sätze verschachtelt finden, was werden Sie dann erst zu diesem nicht enden wollenden sagen (...). (701f)

Ich finde diesen Brief wunderschön. Ich lese ihn immer wieder, und nicht nur diesen Ausschnitt. Doch was die Verschachtelung jener Sätze betrifft, wie Proust es selbst empfindet, ich erinnere mich, die haben mich in seinem Roman nicht gestört, vielleicht, weil ich selbst verschachtelt schreibe. Aber seine Sätze, die keinen Punkt haben finden können, haben mich genervt. Sehr häufig verlief ein Satz tatsächlich weit über eine Buchseite hinaus. Monströse Sätze, die mich daran hinderten, mir die vielen proustischen Gedanken darin zu behalten. Das habe ich wegen dieser Wiederholungen als eine Odyssee in dieser Sprachlandschaft empfunden. Immerzu die Frage, wie komme ich hier aus diesem Satzdschungel wieder heraus? Ich hatte mir dann selber fiktive Punkte gesetzt, damit die Themen in diesem Satz bei mir im Kopf und in der Seele endlich landen konnten. Sonst wären sie in einer geistigen Fata Morgana versandet und das wollte ich tunlichst verhindern. 

Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass sie mir anbieten, mit Fasquelle zu sprechen. Ich weiß sehr wohl, wenn er es tut, da nicht meinetwegen, sondern um Calmette einen Gefallen zu tun; aber trotzdem möchte ich, dass er vorher ein wenig Bescheid weiß, wer ich bin (in literarischer Hinsicht); und ich weiß, welches Gewicht ein wohlwollendes Wort aus ihrem Mund hätte. Die werden mir damit einen wahren Dienst erweisen. Und wenn Sie den Eindruck haben, dass Fasquelle mich lieber nicht verlegen würde, sagen Sie es mir. (701ff)

In dem Brief drückst Proust auch die Sorge aus, nicht mehr genug Zeit zu haben, seinen Roman zum Abschluss zu bringen. Er ist einfach sehr krank und er spürt deutlich seine Zeitnot. Siehe dazu dortigen Brief.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 704 bis 714.