Mittwoch, 15. März 2017

Astrid Lindgren / Die Menschheit hat den Verstand verloren (1)


Tagebücher von 1939-1945

Lesen mit Anne


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch haben Anne und ich schon vor Tagen ausgelesen, wir sind nur noch nicht dazu gekommen, eine Rezension zu schreiben.

Mit Anne habe ich aber schon telefoniert. Es hat uns beiden gut gefallen und wir haben uns auch über die Rezensionen ausgetauscht, wer was über das Buch schreiben möchte. Anne schreibt auch etwas Biografisches von Astrid Lindgren, über dies im Vorwort einiges zu entnehmen gibt.

Ich dagegen habe die Absicht, viele Zitate herauszuschreiben. Was den Nationalsozialismus betrifft, wann der Zweite Weltkrieg etc. ausgebrochen ist, das weiß jeder und muss nicht nochmals hier erwähnt werden. Mir war die Betroffenheit von Astrid Lindgren ganz wichtig, wie sie diese in Sprache umgesetzt hat. Das hat mich so tief berührt, dass ich einfach gezwungen bin, meinen Fokus auf diese Zitate zu lenken.

Wir werden, wenn wir beide unsere Rezensionen zu diesem Buch geschrieben haben, diese noch miteinander verlinken.

Mit ihrem Tagebuch schreibt Astrid Lindgren so, wie ich sie liebe. Kritisch, politisch, differenziert, menschlich.

Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind zudem mit vielen ausgeschnittenen Zeitungsartikeln versehen.

Schweden verhielt sich im Zweiten Weltkrieg zusammen mit anderen europäischen Ländern neutral. Astrid Lindgren nagten Gewissensbisse, weil ihr Land an dem Krieg nicht beteiligt war.
Ich habe mir allerdings als Leserin nicht die Frage gestellt, ob es feige war, dass Schweden an dem Krieg nicht beteiligt war. Nein, ich fand es gut, dass wenigstens ein paar Länder von dem Krieg und den Folgen verschont geblieben sind.

Durch die Neutralität hatte Schweden jede Menge  Ressourcen, und so konnte es vor allem dem kleinen Finnland und Norwegen mit materiellen Gütern unter die Arme greifen. Auch hat die schwedische Bevölkerung schwedische und norwegische Kriegskinder bei sich aufgenommen, und für sie gesorgt. Später, zum Ende des Krieges hin, überwindet Astrid Lindgren ihre Selbstzweifel, und sieht das Gute an der Neutralität:
Denn Schweden wurde außerhalb des Krieges gebraucht. Wenn man zurückschaut, haben wir durchaus so einiges erreicht, natürlich nicht, weswegen wir gerade vor Stolz platzen könnten, aber worüber man sich doch freuen kann. Wir haben Finnland einmalige materielle Hilfe gegeben. Und Norwegen vielleicht in fast gleich großem Umfang. Wir haben - was soll ich sagen-100.000 norwegischen und dänischen Flüchtlingen, vielleicht ist die Zahl etwas zu hoch, ich weiß nicht, Asyl gewährt. Wir haben sie in speziellen Polizeilagern ausbilden lassen, was nichts Anderes war als eine regelrechte militärische Ausbildung. Zu guter Letzt haben wir erreicht, dass das schwedische Rote Kreuz sich der dänischen und norwegischen Internierten in Deutschland, Juden und anderer, annehmen und sie nach Schweden bringen konnte. Ich habe einige dieser Briefe von jungen Leuten gelesen, die sie nach ihrer Ankunft an ihre Angehörigen zu Hause in Norwegen und Dänemark geschrieben haben, es ist ein einziger Glücksjubel. (…) Einer muss ja neutral sein, sonst würde es doch keinen Frieden geben - aus Mangel an Friedensvermittlern. (442f)

Deutschland hat Polen den Krieg erklärt. Polen ist nicht mehr das Land, das es einst mal war. Es wurden Sperrstunden eingeführt: 
Die Deutschen sprechen von ihrer >>harten, aber gerechten Behandlung<< der Polen - und die kann man sich ja vorstellen. Was für ein Hass wird entstehen! Die Welt wird am Ende so voller Hass sein, dass sie allesamt daran ersticken. (47)

Auch wenn Schweden nicht am Krieg beteiligt war, war die schwedische Bevölkerung dennoch von Angst erfüllt. Auch die Kinder stellten Fragen, ob der Krieg bis nach Schweden dringen würde. Ich selbst versuchte mir diese Angst vorzustellen …
Astrid Lindgren wunderte sich. Die Welt sei zwar kriegserfahren, lerne aber nicht aus ihren Fehlern:
An der Ostfront stehen sich die größten Massen der Weltgeschichte gegenüber. Es ist gruselig, überhaupt daran zu denken. (…) Ich habe hier in Furusund einiges über Geschichte gelesen, und das ist eigentlich eine unheimlich beklemmende Lektüre-Krieg und Krieg und  wieder Krieg und das ständige Leiden der Menschheit. Niemals lernt sie etwas daraus, sie begießt die Erde noch immer weiter mit Blut, Schweiß und Tränen. (117)

In Schweden hoffte man im ersten Kriegsjahr auf ein baldiges Ende des Krieges. Niemand rechnete damit, dass er sechs Jahre anhalten würde. Der Alltag der Schweden ging weiter, aber der Krieg, der außerhalb von ihnen weltweit tobte, prägte trotzdem den Alltag der Schweden. Das Leben aber musste weitergehen, und es ging weiter. Lars, Lindgrens Sohn, stand 1942 kurz vor seiner Konfirmation. Schweden feiert Christi Himmelfahrt. In Gedanken an ihren Sohn schreibt die verzweifelte Lindgren:
Übermorgen an Christi Himmelfahrt werden Lars und Göran konfirmiert. Kann, kann, kann denn dieser Krieg nicht bald ein Ende haben? Was für eine Zukunft erwarteten Jungen, die bald in die Welt hinaus wollen. Eine blutige, schreckliche, verwüstete, vergaste und in jeder Hinsicht elendige Welt zu erben, das ist hart. (182)

Wieder ein Kriegsjahr vergangen, und an der Lage habe sich noch immer nichts verändert. Astrid Lindgren hofft ganz verzweifelt als stille Beobachterin weiterhin auf ein baldiges Ende. Sie beschäftigt sich mit französischer Kriegsliteratur, geschrieben von Jacques Agabits. Der Autor beschreibt die Situationen französischer Kriegsgefangener, die in einem deutschen Lazarett behandelt werden:
Das ganze Buch ist voller Blut und Eiter, und ich bin so fed up, was Kriege betrifft, dass es keine Worte dafür gibt. Und wie mag es erst in den Ländern sein, wo sie all diese Schrecken täglich vor Augen haben. (241)

Sie liest Remarque, Im Westen nichts Neues, und leidet mit ihm mit. Dabei denkt sie an Lars, an ihren Sohn, welches Glück sie hat, dass ihr Sohn nicht eingezogen wurde.

Als ich es las, bin ich abends unter die Bettdecke gekrochen und habe vor Verzweiflung geweint (…) Und ich erinnere mich, dass ich dachte, wenn es noch einmal einen Krieg geben und Schweden daran teilnehmen würde, ich auf Knien zur Regierung rutschen und sie beschwören würde, die Hölle nicht losbrechen zu lassen. Lars würde ich selber erschießen, dachte ich, lieber das, als ihn in den Krieg ziehen zu lassen. Wie müssen sie leiden, die armen Mütter auf diesem wahnsinnigen Erdball. Als ich an die Besatzung der >>Ulven<< dachte und als ich Agapits Buch las, versuchte ich mir vorzustellen, Lars sei in dem gesunkenen U-Boot (…) Oder mit Fieber und Eiterwunden in einem Lazarett, und allein die Vorstellung reichte, um eine unerträgliche Seelenqual in mir hervorzurufen. Wie mag es erst für jene sein, für die es nicht nur eine Vorstellung, sondern grausame Wirklichkeit ist? Wie ist es möglich, dass die Menschheit solche Qualen durchleiden muss, und warum gibt es Krieg? Bedarf es wirklich nur weniger Menschen wie Hitler und Mussolini, um eine ganze Welt in Untergang und Chaos zu stürzen? Möge, möge, möge es jetzt bald ein Ende haben, jedenfalls mit dem Blutvergießen;

Astrid Lindgren leidet enorm unter diesen Kriegsqualen, obwohl sie ihnen nicht ausgesetzt ist. Tagtäglich setzt sie sich mit dem Krieg auseinander. Liest viel, hört Nachrichten, und verfolgt die Reden verschiedener Politiker, soweit die Sender dies zulassen: der Krieg beeinflusst weiterhin den Alltag:
Dann kommt ja noch all das andere Elend, das auf einen Krieg folgt. Großmutter ist in diesen Tagen so gesund und munter und optimistisch. Sie glaubt, dass wieder Fried´ und Freud´ herrscht, wenn der Krieg nur vorbei ist. Sie glaubt vermutlich, die Menschheit wird glücklich, sobald es nur wieder Kaffee gibt und die Rationierungen aufgehoben sind, hier wie im Ausland, aber die unaussprechlich entsetzlichen Wunden, die der Krieg geschlagen hat, werden nicht mit ein bisschen Kaffee geheilt. Der Frieden kann den Müttern nicht ihre Söhne zurückgeben, Kindern nicht ihre Eltern, den kleinen Hamburger und Warschauer Kindern nicht das Leben. Der Hass ist nicht zu Ende an jenem Tag, an dem der Frieden kommt, jene, deren Angehörige in deutschen Konzentrationslagern zu Tode gequält wurden, vergessen nichts, nur weil Frieden ist, und die Erinnerung an Tausende von verhungerten Kindern in Griechenland wohnt immer noch in den Herzen ihrer Mütter, falls die Mütter selbst überlebt haben. Alle Invaliden werden weiter herumhumpeln, auf einem Bein oder mit einem Arm, alle, die ihr Augenlicht verloren haben, sind noch genauso blind, und jene, deren Nervensystem durch die unmenschlichen Panzerschlachten zerstört wurde, werden auch nicht wieder gesund, nur weil Frieden ist. Trotzdem, trotzdem - möge bald Frieden werden, damit die Menschen allmählich wieder zur Vernunft kommen. (242)

Das Ende des Krieges, wie soll man sich das Ende vorstellen? Oder der Frieden? Astrid Lindgren stellt sich viele Fragen und findet nicht so leicht eine Antwort.
Und dennoch - wie soll der Frieden aussehen, was aus dem armen Finnland werden? Und wird der Bolschewismus mit allem, was er an Terror und Unterdrückung beinhaltet, freien Spielraum in Europa bekommen? Die, die ihr Leben bereits im Krieg verloren haben, sind womöglich die Glücklicheren. (243)

Sie schreibt über eine Rede von Goebbels:
>>Wir glauben an den Sieg, weil wir den Führer haben! Wenn mir heute auf den Führer schauen, so sehen wir gerade in ihm die Garantie dieses kommenden Endsieges. Wir wissen ganz genau, dass die weltentscheidende Auseinandersetzung dieses Krieges zwischen dem nationalsozialistischen Reich und der bolschewistischen Sowjetunion fallen wird.(…) So wollen wir in dieser dramatischen Stunde unseres Gigantenkampfes gegen unsere alten Feinde nur die eine Bitte an den Allmächtigen richten: uns den Führer gesund und voll von Kraft und Entschlussdeutlichkeit zu erhalten! Wir wissen, dass wir dann alle Gefahren überwinden und am Ende Sieg und Frieden erringen werden. So rufe ich denn dem Führer im Namen des ganzen deutschen Volkes für den schwersten Kampf um unsere äußere Freiheit unsere alte Parole als Bestätigung unserer zu allem entschlossenen Bereitschaft zu: Führer, befiel, wir folgen! (315)


Mein Fazit zu dem Buch?

Der Titel Die Menschheit hat den Verstand verloren hat es voll getroffen. Es kann niemals der gesunde Menschenverstand sein, der Kriege befürwortet ... 
Wenn ich die Politik heute mit der von damals vergleiche, dann bekomme ich schon ein wenig Gänsehaut, dass sich so eine Lage wiederholen könnte. Früher schrie die Mehrheit der Menschen, Deutschland müsse judenfrei werden, heute schreit sie, Deutschland müsse islamfrei werden. Viele haben gar nicht verstanden, dass es nicht der Islam ist, der die Probleme unter den Menschen verursacht, sondern die Fundamentalisten, die sogar ihre eigenen Landsleute in Lebensgefahr bringen, wenn sie nicht deren religiösen Ideologien befolgen. Ist der Mensch in Deutschland auch heute nicht in der Lage, zu differenzieren? Das hoffe ich nicht. Aber wenn ich nach Österreich schaue, und heute sogar nach Holland, in dem ein neuer Ministerpräsident gewählt wurde, dann haben sich die meisten NiederländerInnen doch gegen den Rechtspopulisten Geert Wilders und für den rechtsliberalen Mark Ruppe entschieden. Das macht mir Hoffnung. Auch in Österreich gewann 2016 völlig unerwartet Alexander Van der Bellen die Bundespräsidentenwahl ... 

Ich stellte mir wiederholt beim Lesen die Frage, welche Auswirkungen es in Deutschland und in Europa gehabt hätte, wenn Hitler als Sieger aus den Kriegen geschieden wäre? Ich werde niemals eine Antwort darauf finden, aber ich kann hoffen, dass es nie wieder einen Weltkrieg geben wird, und dass es in allen Ländern, in denen gerade Bürgerkriege herrschen, diese dort bald ihr Ende finden werden.

Astrid Lindgren war zu dieser Zeit, als sie ihr Kriegstagebuch geschrieben hat, noch keine Schriftstellerin, wobei die Figur Pippi Langstrumpf durch die Tochter Karin in hohem Fieber schon geboren wurde. Dass Astrid Lindgren begabt ist zu schreiben, zeigt schon dieses Tagebuch, das neben ihrem Intellekt auch zusätzlich mit so viel Seele gefüllt ist.

Ich vergebe diesem Buch zehn von zehn Punkten.

Und hier geht es zu Annes Buchbesprechung.
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Liebe für alle.
Hass für keinen.
(www.ahmadiyya.de)

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