Dienstag, 14. April 2015

J. R. Moehringer / Tender Bar (1)

Lesen mit Anne …

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch habe ich am Samstagabend ausgelesen und es hat mir recht gut gefallen. Zwischendrin gab es mal eine kleine Durststrecke, aber ansonsten war das Buch recht interessant und fantasievoll geschrieben.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:

Eine Bar ist vielleicht nicht der beste Ort für ein Kind, aber bei Weitem nicht der schlechteste. Vor allem das »Dickens« nicht, mit seinen warmherzigen und skurrilen Figuren: Smelly, der Koch, Bob der Cop mit seiner dunklen Vergangenheit oder Cager, der Vietnam-Veteran. Für den kleinen JR, der alleine mit seiner Mutter wohnt, sie alle sind bessere Väter, als seiner es jemals war. JR wird erwachsen, und erfüllt sich seinen Traum: Er geht nach Yale. Die Bar wird JR sein Leben lang begleiten. Dort hört er zum ersten Mal Sinatra, sieht Baseballspiele im Fernsehen, und trinkt sein erstes Bier. Und bekommt all das, was er braucht: Mut, Zuversicht und die Gewissheit, dass es nicht immer nur die Guten oder die Bösen gibt, dass Bücher Berge versetzen können und dass man an gebrochenem Herzen nicht stirbt. Ein abwechselnd herzzerreißender und urkomischer Roman über tapfere Kinder, mitfühlende Männer und starke Mütter. Und darüber, dass Träume auch wahr werden können - wenn man für sie kämpft.
Wenn man bedenkt, wie viel Armut es in Amerika gibt und wie wenig sie in den deutschen Medien dargestellt wird, wenn das Land stattdessen hauptsächlich von der glänzendsten Seite gezeigt wird, dann ist es gut, dass es amerikanische AutorInnen gibt, die über ihr Leben dort berichten, das alles andere als glorreich ist.
J. R. Moehringer, Jahrgang 1964, schreibt in seinem Erstlingswerk über sein Leben in Amerika. Aufgewachsen ist er auf    Long Island, eine Insel, die zum Bundesstaat New Yorks gehört, befindet sich demnach auf der Landkarte ganz oben östlich, angrenzend zu Kanada.
Ich habe nämlich oft den Eindruck, je höher man geht, desto kühler wirken die Menschen.

Und auch hier erlebe ich manche AmerikanerInnern vielfach kühl, stark leistungsorientiert und recht aggressiv. Auch der Rassismus kommt hier wieder zum Tragen, wenn auch oberflächlich betrachtet nur geringfügig … Ich belasse es bei diesen Schlagwörtern, sollte ich nicht dazu kommen, diese näher aufzuführen. Jeder aufmerksame Leser dieses Buches wird selbst dahinter kommen, in welchen Zusammenhängen diese gemeint sind ...

Viele Zettelchen kleben wieder zwischen den Seiten, sodass ich schauen muss, welche ich für meinen Blog verwenden werde.

Schon auf den ersten Seiten bin ich über einen Begriff wie z.B. Identitätsdiebstahl gestolpert. Und in der Tat, der Autor befindet sich über viele, viele Jahre auf Identitätssuche, wie sich dies auch auf seine Initialen J. R. schließen lässt, die keine wirklichen Initialen sind. Eigentlich soll der wahre Name John Joseph Moehringer verborgen bleiben. Der Name des Vaters.
Die Suche nach der Identität erweist sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch …

Moehringer kennt seinen Vater kaum, der von der Mutter getrennt lebt, und der sich weigert, Unterhalt für sie und das Kind zu zahlen. Als die Mutter versucht hat, den Unterhalt gerichtlich einzuklagen, drohte der Mann, sein eigenes Kind zu kidnappen … Doch auch ihr Leben wird oft von ihm bedroht …

J. R. fehlte der Einfluss von Männern, da er hauptsächlich von Frauen umgeben ist. Um männliche Vorbilder zu finden, begibt er sich schon im Kindesalter in eine Bar, benannt nach dem Romancier Charles Dickens, in der auch sein Onkel Charlie als Stammkunde verkehrt. 
Eine Lektion, eine Geste, eine Geschichte, eine Philosophie, eine Haltung - ich nahm von jedem Mann in Steves Bar etwas mit. Ich war ein Meister im Identitätsdiebstahl, was damals noch ein harmloses Vergehen war. Ich wurde sarkastisch wie Cager, melodramatisch wie Onkel Charlie, ein Grobian wie Joey D. Ich wollte solide sein wie Bob the Cop, cool wie Colt, und meine Wut rechtfertigte ich, indem ich mir einredete, sie sei auch nicht schlimmer als der selbstgerechte Zorn von Smelly. Irgendwann wandte ich alles, was sich im Dickens gelernt hatte, bei Leuten an, die mir außerhalb der Bar begegneten - bei Freunden, Geliebten, Eltern, Vorgesetzten und sogar Fremden.  
Moehringers Vater ist beim Radio tätig. Sehnsuchtsvoll lauscht der kleine Sohn der väterlichen Stimme aus dem Radiosender.
Mein Vater war ein vielseitig begabter Mann, doch sein wahres Genie lag im Verschwinden. Ohne Vorwarnung änderte er seine Schichten oder wechselte die Sender. Ich konterte, indem ich ein Kofferradio mit hinaus auf die Vortreppen nahm, wo der Empfang besser war. Mit dem Radio auf dem Schoß wackelte ich an der Antenne, drehte langsam den Senderknopf und kam mir verloren vor, bis ich wieder die Stimme fand. 
Traurig, wie sehr sich ein kleiner Junge nach seinem Vater sehnt. Ganz unabhängig davon, wie zerstritten die Eltern untereinander sind.

Die Armut in dieser Familie, die Familie seiner Mutter, ist recht groß, dass die Mutter und deren Geschwister, Ruth und Charlie, es finanziell nicht schafften, von den eigenen Eltern unabhängig zu leben. Immer wieder, besonders die Schwestern, zogen sie zu ihnen zurück, weil das Geld für die Miete nicht ausreichte. Charlie, Single, wagte es erst gar nicht, auszuziehen:
In Opas Haus hat jeder mindestens ein Laster - Trinken, Rauchen, Spielen, Lügen, Fluchen, Faulsein. Mein Laster war die Stimme.
Doch der Großvater hatte auch Humor. Als der Hund voller Flöhe war, und die Kinder den Großvater darüber in Kenntnis setzten, erwiderte er, dass sie das nicht weitersagen sollten, denn sonst wollten andere auch alle einen Floh haben. Darüber musste ich sehr schmunzeln.

Das Haus des Großvaters war recht ärmlich ausgestattet, aber nicht, weil der Patriarch kein Geld besaß, es instand zu setzen, nein, weil er ein alter Geizkragen sei, und dies nicht nur auf materieller Ebene bezogen:
Opa gebe keine Liebe weiter, sagte meine Mutter, als hätte er Angst, sie könnte eines Tages knapp werden. Als sie, Tante Ruth und Onkel Charlie aufwuchsen, hatte er sie alle drei ignoriert und ihnen nie Aufmerksamkeit oder Liebe geschenkt. Sie beschrieb einen Familienausflug am Strand, als sie fünf war. Als sie sah, wie lieb der Vater ihrer Cousine Charlene mit seinen Kindern spielte, bat meine Mutter, Opa im Wasser, sie auf seine Schultern zu setzen. Das machte er auch, trug sie dann aber über die Wellen hinaus, und als sie weit draußen waren und meine Mutter kaum noch den Strand sehen konnte, bekam sie Angst und flehte ihn an, er möge sie absetzen. Da warf er sie ins Wasser. Sie ging unter, landete auf dem Grund, schluckte Salzwasser. Sie kämpfte sich wieder an die Oberfläche, schnaubte nach Luft und sah Opa lachen. Du wolltest doch abgesetzt werden, sagte er zu ihr, ohne ihre Tränen zu beachten. Als meine Mutter alleine aus der Brandung schwankte, hatte sie eine frühreife Eingebung: Ihr Vater war kein guter Mensch. 
Moehringers Mutter war begabt, durfte vom Elternhaus her aber keine höhere Schule besuchen. Ihr Sohn J. R. zeigt Mitleid mit ihr, sodass der Kleine eine hohe Verantwortung auf sich lädt, denn er sieht recht früh, was in der Familie so alles falsch läuft. Die Erwartungen der Mutter, er solle in der Schule sein Bestes geben, damit er später Jura studieren, und gegen den Vater klagen könne, nimmt er auf sich. Ob später was daraus wird, wird sich zeigen. Doch das genügte ihm nicht, denn auch die Großmutter impft ihm ein, er solle gut auf die Mutter achtgeben und für sie sorgen. Hier findet ein Rollentausch statt, indem ein Kind mit der Verantwortung eines Erwachsenen ausgestattet wird. Eigentlich sollte es andersherum sein:
Bei meinem Schwarzweißbild von der Welt reicht es nicht, wenn ich mein Bestes gab. Ich musste perfekt sein. Um für meine Mutter zu sorgen und sie ans College zu schicken, mußte ich sämtliche Fehler eliminieren. Durch Fehler war unsere Zwangslage überhaupt erst entstanden - Oma hatte Opa geheiratet, Opa hatte meiner Mutter das Studium verweigert, meine Mutter hatte meinen Vater geheiratet- und wir mussten weiter für sie zahlen. Ich musste diese Fehler korrigieren, indem ich neue vermied, perfekte Noten erzielte, dann ein perfektes College besuchte, danach Jura studieren und am Ende meinen unperfekten Vater verklagen konnte. Aber wie sollte ich perfekt sein, wenn die Schule immer schwerer wurde, und wenn ich nicht perfekt war, wären Mutter und Oma enttäuscht von mir und ich wäre nicht besser als mein Vater, und dann würde meine Mutter wieder singen und weinen und auf ihren Taschenrechner einhacken, um die Finanzen zu überprüfen - solche Gedanken schwirrten mir auf dem Spielplatz durch den Kopf, wenn ich anderen Kinder beim  Tetherball Spielen zuschaut. 
Demnach wurde Moehringer Junior schon ganz früh im Leben mit belastenden Themen konfrontiert, mit denen er sich herumschlug. Er wuchs mit vielen Problemen heran, oftmals zermürbten ihn die Sorgen seiner Mutter. Doch seine Mutter, ganz anders als die Großmutter, eine recht starke Persönlichkeit, versuchte ihm die Sorgen zu nehmen: 
Ich mache mir keine Sorgen über etwas, das nicht passiert. 
Moehringer zelebriert diesen Gedanken wie ein Mantra seine gesamte Kindheit hindurch.

Nun existieren aber auch andere Personen außerhalb der Familie. Moehringer fühlt sich gezwungen, sich mit vierzehn Jahren einen Job zu suchen, um der Mutter finanziell ein wenig unter die Arme zu greifen. Da er Bücher liebt, suchte er einen Aushilfsjob in einer schlecht laufenden Buchhandlung. Er lernte zwei Brüder kennen, die für den Laden verantwortlich waren. Aber das waren eher komische Vögel, doch für Moehringer eine große pädagogische Hilfe:
Bill und Bud schienen sich vor Menschen zu fürchten, vor allen Menschen, außer ihnen selbst, und das war mit ein Grund, weshalb sie sich im Lagerraum versteckten. Der andere Grund war ihr permanentes Lesen. Sie lasen pausenlos. Sie hatten alles gelesen, was jemals geschrieben worden war, und sie waren versessen darauf, alles zu lesen, was jeden Monat neu herauskam, und zu diesem Zweck mussten sie sich von der Welt abschotten wie Mönche im Mittelalter. Obwohl beide Mitte dreißig waren, wohnten sie noch bei ihren Müttern, hatten nie geheiratet und strebten offenbar auch nicht an, auszuziehen oder zu heiraten. Abgesehen vom Lesen hatten sie kein Bedürfnis und außerhalb des Ladens keine Interessen, wobei ihr Interesse an mir von Tag zu Tag wuchs. Die Frage nach meiner Mutter, meinem Vater, Onkel Charlie und den Männern; meine Beziehung zum Dickens faszinierte sie. Sie wollten wissen, warum Steve der Bar einen literarischen Namen gegeben hatte, und daraus entwickelte sich ein Gespräch über Bücher allgemein. Bill und Bud kamen schnell dahinter, dass ich Bücher liebte, aber nicht sehr viel über sie wusste. Mittels einer Reihe rascher, bohrender Fragen fanden sie heraus, dass ich nur das Dschungelbuch und die Minutenbiografien gut kannte. Sie waren entsetzt und wütend auf meine Lehrer.  
Bill und Bud erwiesen sich ein wenig wie Pseudolehrer im Bereich der Literatur. Sie gaben dem Jungen viele Tipps zur Jugendliteratur, wie z.B. Bücher von Jack London, von Mark Twain etc. …Moehringer kannte nicht viele AutorInnen, obwohl er im Haus seines Großvaters, im Kellerraum, viele Bücher entdeckte, die er wie geheime Schätze behandelte, doch darunter fand er zu wenige Bücher, die jugendtauglich waren.

Bücher würden sogar helfen, das innere Chaos eines Menschen wieder in Ordnung zu bringen. Psychische Stabilität, die Moehringer fehlte, und bezeichnete sich selbst als einen Neurotiker …

Moehringer schafft den Übergang von der höheren Schule auf die Universität. Bill und Bud empfehlen ihm die Universität in Yale. Eine recht anspruchsvolle Bildungseinrichtung und Moehringer sich nicht sicher ist, ob er dafür gut vorbereitet ist. Er bewirbt sich auf Anraten dieser Brüder trotzdem. Folgende Szene zwischen der Mutter und dem Sohn hat mich tief berührt, auch wenn die Handlung ein wenig trivial klingt:
Meine Mutter gab mir ein Geschenk, das sie im Souvenirladen gekauft hatte, einen Brieföffner mit den Yale-Insignien."Damit kannst du deinen Zulassungsbrief öffnen", sagte sie. 
Es zeigt, wie wichtig es der Mutter ist, den Sohn auf der Yale-Universität zu sehen. Ein Wunsch auf ein Studium, das ihr selbst nicht gegönnt war.

Perfektionismus? Leistungsstreben? Schon am Anfang dieses Textes wies ich darauf hin. Moehringer bewarb sich nach seinem erfolgreichen Studium als Volontär bei der Zeitung New York Times. In einem seiner Artikel beging er einen kleinen Schreibfehler, der allerdings übertrieben große Auswirkungen hatte. Er schrieb Kelly statt Kelley. Für dieses Missverständnis war nicht nur Moehringer verantwortlich, aber er alleine musste die Konsequenzen tragen, die in ihm eine ziemlich niedergedrückte Stimmung auslösten. In der Dickensbar sprach er über sein Leid und fand ein wenig Trost bei einem seiner Kumpane. Sein Fehler wäre nur minimal, den man leicht ausradieren könne. Probleme anderer Art dagegen, da helfe kein Radiergummi ... Doch nicht nur in der Zeitung werden perfektionistisches Denken und Handeln erwartet. Auch in seiner Familie, bei seiner Tante Ruth, die diese Haltung in übertriebener Form auf den eigenen Sohn überträgt, wird man damit konfrontiert.

Dazu hat der Autor ein wunderschönes Zitat aufgeführt, der von dem großen Dramaturg William Shakespeare stammt und das ich unbedingt hier festhalten möchte:
Durch Fehler, sagt man, sind die besten Menschen Gebildet, werden meist umso viel besser, Weil sie vorher ein wenig schlimm.
Selbst in der Liebe hatte der junge Moehringer nicht besonders viel Glück und gebraucht auch hier eine schöne Metapher. Er bezeichnet die Liebe als etwas ganz Zerbrechliches, vergleicht sie mit Schnittblumen, indem die Liebe schneller als diese sterben würde. Ein schöner Vergleich, so finde ich.

Am Schluss dieser Autobiografie kommt Moehringer, was die Suche nach seiner männlichen Identität betrifft, zu einer weisen Erkenntnis, die ich mit einem Zitat belegen werde, das diese Buchbesprechung zunächst auch abschließen wird:
Während ich nach vorn gebeugt auf dem zweihundertjährigen Sofa saß und in die grünbraunen Augen meiner Mutter sah, wurde mir klar, dass sie alle Eigenschaften verkörperte, die ich mit Männlichkeit verband: Härte, Ausdauer, Entschlossenheit, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit, Mut. Vage war ich mir dessen immer bewusst gewesen, doch als ich jetzt zum ersten Mal einen Blick auf die Kriegerin erhaschte, die sich hinter ihrer Ausdrucksmine verbarg, begriff ich es vollständig und konnte es zum ersten Mal in Worte fassen. So lange hatte ich gesucht und mir gewünscht hinter das Geheimnis zu kommen, wie man ein guter Mann wird, dabei hätte ich nur dem Beispiel einer einzigen überaus guten Frau folgen müssen. 
Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.

Telefonischer Austausch mit Anne:

Auch Anne war von dem Buch recht angetan, wenn auch nach dem zweiten Anlauf, wobei ich mich anfangs auch schwer getan hatte, reinzukommen. Der Prolog wirkte auf mich ein wenig befremdlich ... Unsere Eindrücke waren recht ähnlich. Anne konnte noch ein paar persönliche Vergleiche zu ihrem eigenen Leben ziehen.
Sie erwähnte noch den Fiesling J.R. aus der 1980er US-Serie Dallas und dies sicher nicht schön ist, mit so einem Typen namensverwandt zu sein.



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Alleinsein hat nichts damit zu tun, wie viele Menschen um dich herum sind.
(J.R. Moehringer)

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