Dienstag, 28. April 2015

Urs Richle / Das taube Herz (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Am Ende, nach dem Epilog, musste ich unbedingt wieder den Prolog lesen. Mit dem Hintergrund, der mir nun zur Verfügung steht, konnte ich mich besser in die Beschreibung, auf den Vorspann der Geschichte, einlassen und prospektivisch verstehen.

Wer nicht zu viel wissen möchte, der sollte diese Buchbesprechung überspringen.

Zwei Figuren in dem Buch fand ich bemerkenswert. Es sind der ungelernte Uhrmacher Jean-Louis Sovery und seine außergewöhnliche Geliebte Ana de La Tour.

Die Geschichte spielt sich Mitte des 17. Jahrhunderts ab. Die Spielorte finden in der Schweiz, in Österreich und in Frankreich statt.

Aus dem Anhang ist zu entnehmen, dass dieser historische Roman fiktiv ist, lediglich ein paar wenige historische Figuren existierten tatsächlich. Aber die beiden ProtagonistInnen Jean-Louis und Ana zählen nicht dazu.

Obwohl das historische Datum weit über das Mittelalter hinaus geht, sind die Themen auch hier besetzt mit Quacksalbern, Scharlatanen und Dämonenbeschwörern …

Die Kindheit von Jean-Louis war alles andere als geglückt und man kann nicht sagen, dass der Vater das Beste für ihn wollte. Sein Vater ist von Beruf Uhrmacher und Tischler. Jean-Louis zeigte als Kind recht früh dieselbe Begabung wie die seines Vaters. Er interessierte sich für die Mechanik, konstruierte selbst ein paar Uhrwerke. Minutiös hielt er alle seine technischen Gedanken schriftlich fest, doch sein Vater lehnte ihn vehement ab, verkannte sein Talent. Er sei keineswegs geeignet, Uhrmacher zu werden. Stattdessen schickte er den Sohn auf ein klösterliches Internat, in dem er eine wissenschaftliche und theologische Ausbildung erwerben sollte, um später Pfarrer zu werden.
Seine Hände seien zu nichts anderem fähig, als zum Umblättern hauchdünner, eng bedruckter Buchseiten. Dieser Kopf sei zu wirr, als dass er sich mit den einfachen, weltlichen Dingen der Konstruktion eines Uhrengehäuses befassen könne. Immer müsse er alles infrage stellen, immer müsse er die Dinge weiterdenken, als sie in Wirklichkeit reichten, immer gerate alles aus dem Lot, was sein von Hirngespinsten und an Wahn grenzenden Fantastereien geplagter Sohn anpacke.
Doch auch hier im Kloster gingen die Pläne nicht auf. Nach dem Abitur wird der Junge von seiner   Bildungseinrichtung wieder nach Hause geschickt mit der Perspektive, einen technischen,wissenschaftlichen Beruf zu ergreifen, da er für eine religiöse Ausbildung nicht taugen würde.

Jean-Louis ging doch den Weg eines Uhrmachers, allerdings nicht in der Werkstatt seines Vaters, der ihn nur in der Schreinerei einsetzte. Nein, er war bei einem Meister eingestellt namens Falquet. Er war hier sehr erfolgreich, erfand selber das eine oder andere Uhrwerk. Jean-Louis versuchte seine neuen Erfindungen mit seinen Initialen zu signieren und bekam Stress mit seinem Meister: 
Der Meister zeigte mit seinem alten, schrumpeligen Finger auf die Buchstaben JLS, die mit einem Stichel in die äußere Wand des Federhauses geritzt waren.>>Das ist meine Unterschrift, Maitre<<, gestand Jean-Louis, >>das Uhrwerk stammt von mir.<<
>>Du bist ein Niemand, Sovary, deine Unterschrift gibt es nicht, sie gilt nichts, sie ist nichts Wert, im Gegenteil! Hast du eine Ausbildung? Kannst du irgendein Papier vorweisen? Hast du irgendeine Lizenz, die dich dazu ermächtigt, dich Horloger … nennen zu dürfen? Entferne deine Unterschrift sofort auf allen Uhrwerken, die noch hier in der Werkstatt stehen, und zwar schleunigst! Sie bringt mich in den Verruf der Betrügerei und dich womöglich ins Gefängnis! Kein einziges meiner Meisterstücke verlässt die Werkstatt ohne die Signatur eines anerkannten Uhrmachers, und schon gar nicht mit derjenigen eines Hochstaplers. Du bist Reparateur, mein kleiner Sovary, Mechaniker und Handlanger des Maitre Falquet, nicht mehr und nicht weniger! Noch eine Signatur mit deinem Namen, und ich schicke dich zurück in den jurassischen Wald zu deinem Vater und all den anderen Holzwürmern!<< 
Nun gibt es eine Wende im Leben des Jean-Louis Sovarys. Er wird nach Paris gelockt. Sein Auftrag: Ein repariertes Uhrwerk seinem Auftraggeber persönlich abzuliefern. Der Auftraggeber ist ein französischer  Orgelbauer namens Blaise Montallier, der noch dazu Automatensammler in Paris ist. Diese Reise nach Frankreich wird Sovary zu einem Verhängnis. Als er das Uhrwerk dort übergibt, wird er von Montallier in den Keller gelockt und dort eingesperrt mit der Verpflichtung, für ihn einen Schachautomaten zu konstruieren. Der Aufenthalt in diesen dunklen, fensterlosen und feuchten Gemäuern beläuft sich bis zur Freilassung auf mehrere Monate  …

Hier lernt Sovary seine junge Geliebte Ana de La Tour kennen. Auch eine sehr interessante Persönlichkeit, mit der ihre Eltern trotz großer Mühen nichts anfangen konnten. Ana erinnert mich ein wenig an Kasper Hauser. Dazu später mehr.

Montallier lernte den Wissenschaftler Wolfgang von Kempelen kennen, der einen Schachautomaten konstruiert hatte, der  ihm den Titel Schachtürke gab. Montallier traut diesem Automaten nicht, weshalb er Jean-Louis gekidnappt hat, weil er der gesuchte Mann ist, der über die Fähigkeit verfügt, einen Schachautomaten zu bauen, der später gegen den Österreicher antreten soll …


Foto aus Wikipedia: Schachtürke
Und dennoch hat ein österreichischer Hofbeamter sich nun also getraut, die Öffentlichkeit mit der Konstruktion eines solchen Automaten herauszufordern. Im Beisein ganzer Heerscharen gläubiger und ungläubiger Leute, schaulistiger Gesindel, gieriger Widersacher, eifersüchtiger Uhrmacherkollegen und skeptischer Vertreter von Kirche und Staat spielte der berühmte Türke in Wien, London und also auch in Paris siegessicher Spiel um Spiel gegen seine Gegner, als wäre seine innere Uhrmechanik des Denkens fähig wie ein vernünftiger, ausgewachsener Mensch. Die besten Spieler wurden geholt, Schachmeister und Mathematikprofessoren, Ingenieure und Philosophen, Priester und Juristen. Wetten wurden abgeschlossen, und die Spekulationen loderten lichterloh. Ist schwarze oder weiße Magie im Spiel? Werden die Automaten mit unsichtbaren Fäden bedient? Durch Magnetismus gesteuert? Hat der Erfinder eine neue elektromagnetische Entdeckung gemacht? Sitzt im Innern der Kiste ein Kind? Ein Krüppel? Aber wie kann ein Krüppel oder ein Kind gegen die besten Schachmeister des Landes gewinnen? (…) Hat der Erfinder seine Seele verkauft? In Artikel über Artikel erregte man sich in den Zeitschriften. Brandreden werden vor den groß angekündigten Veranstaltungen gehalten und forderten die Annullierung der Aufführung von Schwindel, Betrug und Gotteslästerung. Demonstrationszüge versuchten, die Veranstaltung zu blockieren, Juristen und Autoren schrieben über das Phänomen des Schach spielenden Automaten und versuchten, die Wahrheit aufzudecken.  
Ich komme nun ein wenig auf Ana de La Tour zu sprechen, die eine total interessante Persönlichkeit darstellt, auch wenn sie gesellschaftlich böse Folgen nach sich zieht. Ana wurde mit großen Schmerzen geboren. Dadurch nahm die Mutter ihr Kind nicht an. Das Kind schrie unaufhörlich. Die quälenden Schreie ähnelten einer starken kindlichen Hysterie, aus der sich das Kind nicht erholen konnte. Der Vater ließ verschiedene Ammen rufen, doch nur eine Amme wurde mit dem Kind fertig. Ana wurde ihr in die Obhut gelegt, nachdem der Vater fast sein ganzes Vermögen in teure Mediziner und Heiler eingesetzt hatte, doch ohne jeglichen Erfolg. Die Amme wurde allerdings kurze Zeit später sehr schwer krank und starb an den Folgen. Ana kam in ein Hospiz …

Anas Vater war ein äußerst guter Schachspieler und merkte nicht, dass er diese Begabung an seine Tochter weitervererbt hatte. Auch er, ähnlich wie Jean-Louis`Vater, verkannte das Genie in seiner Tochter.
Ein Arzt schenkte der kleinen Ana ein Schachspiel, als sie ihr Interesse daran bekundet hatte. Das Schachbrett schaffte es, die Kleine spielend zu beruhigen.
Ana war allerdings nicht gesellschaftsfähig und lebte in ihrer Welt. Lediglich auf dem Gebiet der Mathematik war sie ein Genie. Sie war in der Lage, große und komplizierte Rechenoperationen innerhalb kürzester Zeit mit dem Kopf zu lösen, um damit wichtige Schachzüge zu konstruieren. Ana wuchs in dunklen Räumen auf, und als das Schachbrett samt der Figuren verloren gingen, ritzte sie sich auf dem Boden unter einem Möbelstück, wo sie saß, ein eigenes Schachbrett, das sie mit schwarzen und weißen Steinen bediente. Ana wurde in der Gesellschaft nicht sozialisiert, hat demnach das Handwerkszeug, das man benötigt, um in einer Gesellschaft überleben zu können, nie erworben. Sie schrie entsetzlich, wenn man sie der Öffentlichkeit aussetzte, oder sie mit neuen Lebenssituationen konfrontierte, entwickelte sie sogar autistische Züge …
Es sprach sich herum, dass Ana im Schachspiel über höchste Geistesgaben verfügte und so entführte man sie aus dem Hospiz, um mit ihr Forschungen zu betreiben aber nicht im wissenschaftlichen Sinn.

Ihr Talent und ihre hysterischen Rufe wurden vom   Kirchenpersonal als vom Teufel besessen gedeutet …

Der begabte Jean-Louis befindet sich inmitten seiner Konstruktionen, einen Schachroboter zu bauen, der den Namen   La Grande Dame erhält.         
Dass man den menschlichen Körper als Maschine begreifen und ihn nach allen Bestandteilen und Funktionsweisen bis in das innerste Detail erforschen und studieren konnte wie ein Apparat, das schien ihm geradezu offensichtlich. Auch dass man den gesamten menschlichen Bewegungsapparat und obendrein logische Abläufe wie diejenigen einer komplizierten Uhr oder gar einer streng kognitiven Schlussfolgerung nachbauen können sollte, war für Jean-Louis nachvollziehbar und überzeugend. Aber wie er aus Eisen, Holz und Baumwollfäden eine Seele bauen sollte, das blieb ihm ein Rätsel. Sollten ihm auch die gesamten Stoffe dieser Erde zur Verfügung stehen, an alchemistische Experimente glaubte er so wenig wie dieser La Mettrie. Und weder die einen noch der andere waren ihm in dieser Stunde eine Hilfe.  
Eigentlich geht es Montallier nur darum, der Öffentlichkeit zu beweisen, dass   Kempelen mit seiner Maschine trickst … Außerdem gönnt er ihm sein Patent nicht:
Daraus ein Mysterium zu machen, wie von Kempelen es in seiner ganzen Arroganz pflegt, könnte seine Entdeckung für nützliche Zwecke gebraucht werden, vielleicht sogar Menschenleben retten. Statt egoistisch die internationale Aufmerksamkeit für seine theatralischen Aufführungen auf sich zu lenken, sollte von Kempelen jede seiner Erfindungen der Wissenschaft zur Verfügung stellen! Und wer spricht überhaupt von einer Erfindung? Wenn von Kempelen ein physikalisches, mathematisches oder chemikalisches Gesetz entdeckt hat, kann er dann darauf Besitzanspruch erheben? Sind die Naturgesetze nicht Allgemeingut, gehören sie nicht uns allen? Stellen Sie sich vor, Newton hätte die Schwerkraft für sich gepachtet? Kann jemand die Gesetze der Optik besitzen? Können mathematische Axiome verheimlicht werden? …  Hat von Kempelen das Recht, seine Entdeckung für sich zu behalten? Die Gesetze der Physik bringen nicht nur die Mechanik weiter, sie nützen auch der Wirtschaft und der Medizin. Ich frage sie also: Darf es sein, dass ein einziger Mann allein aus Ruhm den Fortschritt der gesamten Menschheit aufhalten, ja gar gefährden kann?  
Jean-Louis konstruiert diese neue Maschine mit Anas Hilfe, die sich peu á peu an ihn im dunklen Keller gewöhnt hatte …
Jean-Louis baut die Maschine und Ana gibt die Rechenoperablen weiter. Doch Ana erhält später für den Automaten noch eine andere Funktion, die ich nicht verraten möchte …

Jean-Louis wundert sich über den Sinn dieser Schachroboter immer mehr und stellt sich philosophische Fragen:
Wie sollte es überhaupt möglich sein, dass ein Automat gegen einen anderen Automaten Schach spielte? War das nicht ein Ding der Unmöglichkeit? Wie sollten die von Natur aus toten Materialien, in einer bestimmten Weise komponiert und zusammengebaut, sich plötzlich verhalten wie zwei Menschen an einem Spielbrett? War denn alles, was den Menschen ausmacht, durch Maschinen darstellbar? War es möglich, einer Maschine menschliche Verhaltensformen abzugewinnen? Und wenn dem so sein sollte, was bedeutet das für den Menschen selbst? Ist er denn tatsächlich nichts anderes als eine Maschine, gebaut aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut? Reicht es, diesen Mechanismus bis in die feinsten Fasern nachzubilden, um einen Menschen zu kreieren? 
Man hatte tatsächlich versucht, den Maschinen menschliche Substanzen einzubauen. Deshalb der Titel Das taube Herz, weil es letztendlich doch nicht gelingen konnte, aus Maschinen lebende Menschen zu machen. Kempelens Maschine wurde z.B. auch mit Knochenmehl konstruiert, das von menschlichen Gebeinen stammt.

Nachdem die La Grande Dame fertig war, konnten nun beide Roboter gegeneinander antreten …

Wie es weitergeht, welches Schicksal den ProtagonistInnen Jean-Louis Sovery und Ana de La Tour ereilt, das möchte ich nicht verraten.
Es geht bis zum Schluss spannend weiter …

Da ich gar nichts von diesen Schachmaschinen wusste, freue ich mich nun sehr, dahingehend informiert worden zu sein. Hatte bis dato noch nie etwas von einem Schachtürken gehört.

Das Buch ist zudem spannend geschrieben und auch den literarischen Ausdruck fand ich gelungen. Ebenso die Figuren wurden recht glaubhaft in ihrem Auftreten dargestellt.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.

Im Folgenden noch ein Artikel zu dem Schachtürken aus der Online-Zeitung Welt-Bildung:

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Alleinsein hat nichts damit zu tun, wie viele Menschen um dich herum sind.
(J.R. Moehringer)

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