Montag, 16. März 2015

Lilly Lindner / Bevor ich falle (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch habe ich am Samstagnachmittag ausgelesen und es hat mir recht gut gefallen. Eine große Wortspielerei, mit der die junge Autorin ihr Thema geschmückt hat. Dieser Schreibstil hat mir sehr zugesagt.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
»Ich war neun Jahre alt, als meine Mutter beschlossen hat, dass sie das Leben nicht mehr mag. Sie hat mich hochgehoben und ganz fest in ihre Arme geschlossen, dann hat sie mir einen Gutenachtkuss gegeben und mich in mein Bett gelegt. Meine gelbe Giraffe lag neben mir und die bunte Kuscheldecke auch. Ich weiß das noch so genau, als wäre es heute gewesen. Dabei sind Jahre vergangen, seit diesem letzten Tag in meinem Leben.« 
Durch dieses traumatische Erlebnis entwickelte die Protagonistin Cherry Tiefeis eine bulemische Essstörung und massive Autoaggressionen, indem sie sich mit den Rasierklingen in ihren Armen wiederholt lebensbedrohlich verletzte. Ein sehr ernstes Thema, trotzdem nicht aussichtslos. Der Schluss hat mir sehr gut gefallen, hatte etwas Aussöhnendes mit dem gestörten Vater, dem alle seine Gefühle   eingefroren zu sein scheinen. Der Familienname Tiefeis ist von der Autorin sicher nicht zufällig gewählt  ...

Es liegen viele Zettelchen in dem Buch, sodass ich schauen muss, wie ich sie hier einbauen kann.

Die Wortspielereien haben diese ernste Thematik ein wenig aufgelockert wie z.B. auch in der Angelegenheit, dass Cherry ihrem Vater überhaupt nicht ähnlich sein wollte, und schon gar nicht buchstabenverwandt wollte sie mit ihm sein. Ihr Vater leitet einen Buchverlag, den er widerwillig von seinem Vater nach dessen Tod übernommen hat. Er wurde gezwungen, beruflich in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, obwohl er diesen Beruf mehr als verachtete. Cherrys Vater nahm mit der Zeit durch den Beruf immer mehr negative Charakterzüge an, dass seine Frau und seine Tochter psychisch darunter leiden mussten.

Mit vierzehn Jahren, es war Weihnachten, gibt es zwischen Cherry und ihrem Vater einen massiven verbalen Zusammenstoß, dass Cherry aus dem Elternhaus fliehen musste, so sehr war sie von ihrem Vater angewidert. Der Vater hielt sie nicht einmal zurück.

Unterwegs trifft sie ihren ehemaligen Schwimmlehrer namens Landon, der die Kleine bei sich aufgenommen hat, nachdem er eine volle Ladung aggressiver Worte und Sätze an den Kopf geknallt bekommen hat. Landon hegt eine besondere Zuneigung zu dem Mädchen. Er kennt sie seit vielen Jahren und ihm war das Mädchen schon immer besonders sympathisch. Als er mit Cherrys Vater telefoniert, um ihm mitzuteilen, dass seine Tochter sich bei ihm befindet und er sich keine Sorgen zu machen brauche, erwidert dieser, dass er sich keine Sorgen machen würde, sie solle bloß nicht wieder zurückkommen. Landon war sprachlos …

Landon übernahm die Fürsorge für Cherry, allerdings ohne Bürokratie, ohne das Eingreifen des Jugendamts. Cherry zieht bei Landon ein. Eine schwere Aufgabe hat er dadurch übernommen. Nicht nur, dass er mit dem eruptiven Wortrausch fertig werden musste, Cherry selbst bezeichnet diese Form der Kommunikation als eine Sprachkriminalität.  Nein, auch die psychischen Erkrankungen musste Landon mit auffangen. Landon gilt als ein selbstloser Mensch mit einem riesengroßen Herzen, der dem seelisch heimatlosen Mädchen ein neues Zuhause schenkt.

Auch wenn Landon einen Großteil der Aggressionen abbekommt, die eigentlich dem lieblosen Vater gelten, gibt er das Mädchen nicht auf und hilft, wo er nur kann:
Du musst begreifen, dass du einen Wert besitzt, und dieser Wert ist zu groß, als dass man ihn auf einen Grabstein drucken könnte. Cherry, das ist dein Leben, du entscheidest, was für ein Mensch du sein möchtest. Du allein! Also reiß dich zusammen und übernimm Verantwortung für dich. 
Cherry vermisst auch nach Jahren noch ihre Mutter, hat große Sehnsucht, fühlt sich schuldig, dass sie sich das Leben genommen hat. Ihr Vater machte sie für diese Tat verantwortlich. In Wirklichkeit hat sich die Mutter wegen des Vaters suizidiert. Sie hielt den seelischen Druck nicht mehr aus, mit einem Mann weiterhin verheiratet zu sein, der überwiegend zu Destruktionen neigt. Scheidung durch den Tod …

Cherry ist ein sehr sensibler und fantasiebegabter junger Mensch ... Mit den Jahren entwickelt sich aus einem Trauma eine  Persönlichkeitsstörung mit psychotischen Tendenzen.

Ihren Namen Cherry, Kirsche, bezeichnet sie selbst als Fallobst. In fast jedem Wort findet sie ein Bild, dermaßen stark ist ihre verbale Kreativität.

Cherry wird erwachsen, mit ihr auch die psychische Erkrankung, obwohl sie sehr erfolgreich ist in ihrem Leben. Die Sucht, sich mit der Rasierklinge zu zerstückeln, nimmt immer mehr zu ... Cherry beendet die Schule ohne großen Aufwand mit Bravour und findet eine Musikgruppe, in der sie die lyrischen Songs zu der Musik schreibt.

Ihr Vater riet ihr damals, als sie noch ein Kind war, vom Schreiben ab:
„Überlege dir genau, was du später für einen Beruf ergreifst! Überlege es dir haargenau! Und wo auch immer deine eingeschränkten Gedankengänge enden, werde bloß keine Schriftstellerin, denn dann kannst du genauso gut gleich in die Klapse ziehen."

Dazu aus Cherrys Sicht:
Ich war damals noch zu klein, um Worte wie Klapse zu verstehen, aber ich habe sofort begriffen, dass es ein großes Verbrechen oder zumindest eine schreckliche Schande sein muss, Bücher zu schreiben. Und ich wusste auch, dass meine Mutter immer nur heimlich gelesen hat, auf dem Dachboden. Dort hatte sie einen Karton mit Büchern versteckt, denn mein Vater hat immer felsenfest behauptet, dass er allergisch gegen Buchstabenfussel und Wortmilben sei. (…)
Vater:  
"Ich dulde in meinem Haus keine Wortschäden vom psychotischen Weltumseglern! Literatur ist etwas für schwergewichtige Satzfresser! Ich hasse Poesie! Und was ich noch viel mehr hasse als Poeten, sind die schleimigen Danksagungen, die diese Idioten verzapfen.“  
Was sind Worte? Für die suchende Cherry lebende Laute, befreiender oder aber auch zerstörender Art. Sie sucht in ihnen Halt, Stabilität: 
Du wirst schon sehen. Irgendwann.
Hinter der Nacht, in deiner Stille.
Irgendwo. Findet dich ein Wort.
An das du dich halten kannst. 
Cherry experimentiert mit ihrem Leben, erleidet aber immer wieder Rückschläge, vor allem auch, als sie nicht mehr bei Landon wohnt und in einer eigenen Wohnung lebt. Sie sehnt sich nach Familie zurück. Doch Landon bleibt im Hintergrund präsent. Hilft ihr immer wieder auf die Beine. Manchmal mit Druck, aber oft mit Liebe, mit Ausdauer und mit Beistand. Er ist es, der sie hält, bevor sie fällt ...

In dem Wort versuchsweise entdeckt Cherry, dass Versuchen weise ist. Mit dieser Einstellung zieht sie durchs Leben.

Den Vater bezeichnet Cherry als buchstabenbetrunkenen Vollidioten. In der Arbeit im Verlagswesen hat er natürlich mit Manuskripten, Autoren und mit Büchern zu tun.

Als Cherry acht Jahre alt war, befand sich der Vater wegen eines Lungenbruchs im Krankenhaus. Dazu die Gedanken des Vaters:
Wenigstens ist dieses Krankenhaus nicht so wortverseucht wie das buchstabeninfizierte Verlagsgebäude! Hier kann man in aller Seelenruhe herumliegen, ohne dass irgendwer mit einem vergessenen Punkt, oder einem gottverdammten Apostroph angerannt kommt. Und hier gibt es auch keine nervtötenden Schriftsteller, die ihre Lebenskrisen in Form von autobiografischen Texten verarbeiten und anschließend an ihren eigenen Aussagen scheitern!
Der Vater ist ebenfalls mit viel Wortfantastereien gesegnet, und Cherry erkennt, dass sie ihrem Vater ähnlicher ist als sie glauben möchte.

Cherry geht ihren Weg, doch sie hatte auch Glück, dass sie einem Menschen wie Landon begegnet ist, der ihr väterlich zur Seite steht, unabhängig davon, wie belastend die Psyche dieses jungen Menschen auch ist.

Ich kann dieses Buch vor allem auch jungen Mädchen empfehlen, da es neben der Destruktivität auch sehr viel Aufbauendes und Hoffnungsvolles in dem Buch gibt.

Relative Heilung findet Cherry vor allem auch in ihren Selbstreflexionen. Sie hat so viel Bewusstheit, die es ihr  ermöglicht, ihr Verhalten zu hinterfragen. Ehrlich zu sich selbst zu sein ist auch ein Schritt zum genesenden Leben. 

Viele junge Mädchen, die aus einem instabilen Elternhaus kommen, entwickeln ähnlich wie Cherry dieselben Symptome. Selbstverletzendes Verhalten verbunden mit einer Essstörung ist nicht gerade selten, weshalb ich zu diesem Buch aufmuntern möchte.

Z.B. zählt die Vergebung in der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der psychischen Erkrankung mit zum Heilungsprozess ...

Lediglich die Psychotherapie, in die sich Cherry begibt, kommt mir ein wenig unseriös vor. Nicht, dass das unrealistisch ist. In der Landschaft der Psychotherapeuten gibt es genug inkompetente Helfer.  

Das Buch erhält von mir wegen der Art, wie die Autorin das Thema bearbeitet hat und wegen der  fantasievollen und der kreativen Sprachgewandtheit zehn von zehn Punkten.

Ich freue mich auf das nächste Buch von der Autorin.

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Das Leben ist zu kurz für Nebensätze.
(Lilly Lindner)

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