Freitag, 6. März 2015

Erik Fosnes Hansen / Das Löwenmädchen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Lesen mit Anne ...

Das Buch habe ich noch gestern Abend ausgelesen und nun warte ich, bis meine Bücherfreundin Anne auch damit durch ist. Es besteht durchaus Gesprächsbedarf.
Das Buch hat mir recht gut gefallen. Auch liest es sich schön flüssig und die Idee ist mehr als originell. Und trotzdem bin ich mir mit meiner Meinung noch nicht ganz schlüssig ...

Ich habe mal ein wenig recherchiert und die Erkrankung bzw. vielmehr die Anomalie, unter der die Protagonistin Eva Arctander leidet, gibt es tatsächlich. Also keine reine Fiktion?
Ursachen gibt es viele. Es können auch hormonelle Störungen für diese Erscheinung verantwortlich gemacht werden.
Eva Arctander kommt mit einem hellen Fell zur Welt, das an ein Tier wie z.B. einer Katze denken lässt, weshalb wohl auch das Buch mit Das Löwenmädchen betitelt wurde. Der Autor hat sich allerdings nicht festgelegt, was die Ursache dieser Anomalie letztendlich ist, obwohl ein ganzer Schwarm von medizinischen Fachleuten an dem Mädchen zugange waren.

Diese Form der Körperbehaarung wird in der Fachsprache als  Hirsutismus bezeichnet. Zu dick aufgetragen? Eine tierische Körperbehaarung am menschlichen Körper? Ich kann mir schon vorstellen, dass es Menschen gibt, die mit einer stärkeren Behaarung geboren werden als der Durchschnittsmensch. Aber jemand mit Katzenfell?

Bin noch immer am Grübeln, was der Autor eigentlich mit seinem Buch sagen möchte. Etwa, dass Normalität schwer zu definieren - und alles nur relativ ist? Zum Ende des Buches wird man als LeserIn noch mit vielen weiteren Kreaturen konfrontiert, die körperlich völlig anders geartet sind. Es existiert in der Aufzählung auch ein Echsenmensch. Ein Mensch, dessen Haut mit Schuppen bedeckt ist. Diese Menschen in dem Buch sind zwar anders, trotzdem sind sie im Leben erfolgreich, nachdem sie es geschafft haben, eine Welt zu finden, die ihrer ähnlich ist. Sie blieben keineswegs partnerlos und auch Nachwuchs wurde gezeugt und sie reisten querbeet durch die Welt …

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Am 13.12.1912 kommt in einem kleinen Dorf in Norwegen ein Kind zur Welt, das über und über mit feinem, hellblondem Haar bedeckt ist. Die Mutter stirbt bei der Geburt, und der Vater, Stationsmeister Arctander, ein harter und pflichtbewusster Mann, will zunächst nichts von seiner Tochter wissen. Eva, die der Leser sofort ins Herz schließt, leidet an einer seltenen Krankheit, einem Gendefekt, durch den ihr ganzer Körper behaart ist. Ein interessanter Fall für die Wissenschaft, doch zunächst ein Problem für Stationsmeister Arctander und eine Handvoll Eingeweihter, die sich um das Baby sorgen. Arctander, in tiefer Trauer um seine geliebte Frau, ekelt und schämt sich, und das Kind wird versteckt. Gleichwohl verbreitet sich die Kunde des seltsamen Mädchens wie ein Lauffeuer im Dorf. Eine Amme wird gefunden, die sich liebevoll kümmert, und auch Apothekerin Birgerson und der Arzt Dr. Levin stehen dem Kind zur Seite. So wächst Eva heran: Abgeschottet von den neugierigen Blicken der Dorfbewohner und ohne Kontakt nach draußen schafft sie sich eine eigene Welt, bis sie, zunächst schüchtern, doch dann mit großer Durchsetzungskraft, der Enge ihres Zimmers immer mehr zu entfliehen beginnt.
Es gab eine Szene, die mich ein wenig zu Tränen gerührt hat und ich am Überlegen bin, ob ich diese Szene aufschreiben möchte, denn sie beschäftigt mich noch immer. Die Szene mit dem Telegrafenamt. Eva bekommt von dem Beamten namens Funke das Morsen beigebracht ... Und die Szene, als Eva in der Apotheke der Birgersons ein Buch über die Elefanten liest, indische und afrikanischer Art, während sie liest, morst sie auf dem Tisch spielerisch Mein Vater ist ein Elefant ... Und die Reaktion des Vaters, der selbst auch diese Form des Telegrafierens beherrscht, und der gemeinsam mit den Birgersons ihr gegenüber saß und sich unterhielt, fand ich interessant. 

Obwohl die sog. normalen Leute andersgeartete Menschen eher aus der Gesellschaft verstoßen, sind sie andererseits besessen darauf, diese Kreaturen zu begaffen. Ein wenig schizophren ihr Verhalten. Sie suchen eine Veranstaltung auf, ähnlich wie ein Zirkus, in der diese besonderen Menschen reihum vorgeführt werden. Auch siamesische Zwillinge befinden sich darunter, und ein Kleinwuchs, der noch kleiner ist als ein gewöhnlicher Kleinwuchs, der Autor bezeichnet ihn als Liliputaner. Im heutigen Sprachgebrauch gilt dieser Begriff eher als diskriminierend. 1912 galt diese Bezeichnung als normal ... Da bekommt man den Eindruck, dass der Autor selbst ganz süchtig danach ist, diese Wesen seinen LeserInnen der Reihe nach vorzuführen, die letztendlich nicht nur dem Ottonormalverbraucher zur Unterhaltung dienen sollen. 
Die Leute haben sich amüsiert, (…). Sie wurden unterhalten, zerstreut, erschreckt, aufgerüttelt für längere Zeit. Sie wurden bewegt, überrascht, vielleicht auch erschüttert oder schockiert oder erbost - nun gut; doch niemand stand dem Geschehenen gleichgültig gegenüber. (…) Die Leute wollen so etwas; (…) die Leute wollen es. Sie mögen es. Durch manches mag ein zartbesaitetes oder schöngeistiges Gemüt wohl erschüttert werden, oder auch die Moralapostel, doch auch diese Erschütterung ist ein Teil der Unterhaltung. So nämlich hält man Schöngeister und Moralisten und Akademiker beschäftigt: Man verschafft ihnen Anlass zur Empörung. Das ist deren Form von Unterhaltung. Tief im Grunde lieben sie es, denn so haben sie endlich wieder einen Grund zur Empörung.  
Auf Seite 361 werden Rassentheorien, man muss sich in die Zeit 1912 zurückversetzen, entworfen, die ein wenig an die von Hitler erinnern lassen.
Dort werden z.B. die Volksgruppen der Ungarn, Lappen ... der romanischen als minderwertige Rassen beschrieben. Es werden z.B. die Schädel gemessen und miteinander verglichen...
Diese exotischen Kreaturen, wie sie oben im Zitat aufgeführt sind, heben diese Theorien wieder auf, wobei ich keinen Menschen benötige, der mit Katzen- oder mit Echsenfell auf die Welt kommt, um diese Rassentheorien kritisch zu hinterfragen.

Mein Fazit:
Alles, was anders ist, stellt für viele Menschen ein Problem dar. Da muss man nicht solche Extrembeispiele rauspicken. Es reicht schon, dass man aus einem anderen Land kommt, eine andere Hautfarbe hat, oder weil man behindert ist, oder weil man arm ist, oder weil man anders denkt ... Der Beispiele gibt es noch unendlich viele.

Wieviele Sterne? Da warte ich noch auf den Austausch mit Anne, da mir ein paar wenige Fragen noch offen geblieben sind.

Wer mehr erfahren möchte, der sollte das Buch lesen. 

Nachtrag aus dem Telefongespräch mit Anne: 
Anne und ich waren derselben Meinung, dass das Buch ein wenig flach gewesen ist. Irgendwie haben wir mehr erwartet, denn wenn man so den Klappentext liest, wie hochgelobt das Buch wurde, können wir uns dem nicht ganz anschließen. Wie kommt der Autor zu diesen Exoten? Rein fiktiver Natur oder gibt es sie in der medizinischen Wissenschaft tatsächlich? ...

Die Protagonistin Eva war zu brav, zu fügsam ihrem Vater gegenüber. Keine Rebellion in der Pubertät, kein Hadern mit ihrem Schicksal, wo man dem doch weisgesagt hatte, dass seine Tochter später viele Probleme im Leben haben werde ... Der Schluss war ein wenig nebulös, zu glatt, auch wenn man sich gleich zu Beginn der Geschichte denken konnte, dass Eva ihr Elternhaus verlassen wird, um sich dieser exotischen Gruppe anzuschließen. Waren diese Menschen wirklich so erfolgreich? Eigentlich nicht. Der Autor hat das zu sehr beschönigt. Sie waren innerhalb der normalen Gesellschaft nicht wirklich überlebensfähig. Nur in der Welt mit anderen Exoten hatten sie eine Chance zu überleben. Das ist dasselbe, als würden z.B. behinderte Menschen nur unter behinderten Menschen leben können, oder Ausländer nur mit Ausländern. Ist das wirklich als Erfolg anzusehen? Meiner Meinung nach nicht. Und auch nach Annes Meinung nicht. Das hieße ja fast, dass alle Normalos unter sich sein müssten, und andere unter ihresgleichen...
Ein schöner Mensch verbringt mit sehr zeitaufwendigen Pflegeritualen seine gesamte Lebenszeit damit, schön zu bleiben. Ist das Leben lebenswert, wenn ein Mensch nichts anderes tut, als sich schön zu machen? Diese Frage stellt man sich anhand einer Szene in dem Buch.

Also, auch ich bin der Meinung, dass der Autor zu dick aufgetragen hat. Diese Exoten gibt es meiner Meinung nach nicht. Wenn ja, dann hätte Hansen im Anhang darauf hinweisen sollen.

Dennoch erhält das Buch von mir sieben von zehn Punkten, da ich es gerne gelesen habe, auch wenn es hauptsächlich der Unterhaltung gedient hat. Aber das weiß man vorher nicht.

Und hier zu Annes Blog


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Die Welt ist eine Metapher.
(H. Murakami)

Gelesene Bücher 2015: 11
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