Montag, 11. November 2019

Henning Mankell / Die schwedischen Gummistiefel (1)

@ Myriam / Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Weiter setzt sich die Geschichte von Die italienischen Schuhe fort mit Die schwedischen Gummistiefel. Dieser Band hat mir etwas besser gefallen. Aber die Figuren waren für mich nach wie vor gestört, kalt und abweisend. Hier suchen Menschen einander Nähe, können aber mit der Nähe nicht wirklich umgehen, wenn sie diese bekommen.  

Der Schluss ist Geschmackssache, mich konnte er nicht befriedigen. Manche Episoden fand ich sehr unlogisch, und manche Sichtweisen sehr einseitig, wenig differenziert.

Ich werde mich hier wieder kurzhalten.

Damit ich nicht alles von Neuem schreiben muss, werde ich am Ende dieser Buchbesprechung sie mit dem ersten Band verlinken.

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Fredrik Welin wird eines Nachts in seinem Bett aus seinen Träumen gerissen, als er von einer Hitzewelle erfasst wird. Panisch sieht er, wie Flammen sein Haus abbrennen. Schnell rennt Welin aus dem Haus und wird selbst Zeuge, wie sein Haus, das er von seinen Großeltern geerbt hatte, niederbrennt. Viele Nachbarn kamen von der Insel, auch die Feuerwehr, um den Brand zu löschen, wobei das Haus nicht mehr zu retten war. Der Postillion Ture Jansson war es gewesen, der den Brand von Weitem gesehen haben soll, und schnelle Hilfe gerufen hatte.

Der Kontakt zu Welins Tochter Louise wurde weiter aufrechterhalten. Als Welins Haus abgebrannt ist, und er für einige Zeit obdachlos wurde, war er gezwungen, in Louises Wohnwagen einzuziehen. Zur Erinnerung: Louise ist im letzten Band mit dem Wohnwagen auf Welins Schären gezogen, sie aber hier nicht wohnen blieb, sondern nach Paris gezogen ist. Hier erfährt Welin von ihr, dass er Großvater wird. Welin, weiß nicht, ob es ihn freut oder ob es ihn kalt lässt ...

Die Polizei ermittelt, sucht den Brandstifter. Wobei nicht klar ist, ob es ein Brandstifter oder ein Pyromane war, der das Haus angezündet haben könnte. Die Polizei verdächtigt sofort Welin. Was könnte der Grund sein, dass Welin sein eigenes Haus anzündet?

Wie geht das, ein eigenes Haus abzufackeln, während man selbst im Bett liegt und schläft? Denn die Polizei hat durch einen Brandingenieur herausfinden können, dass der Brand nicht an irgendeinem technischen Defekt hätte ausgemacht werden können, denn sie konnten Spuren entnehmen, die besagten, dass Benzin rund um das Haus gelegt und anschließend angezündet wurde. Ohne große Anhörung wurde Welin verdächtigt, und so warfen sie ihm Versicherungsbetrug vor …

Louise kam auf die Insel, als sie hörte, dass Welins Haus abgebrannt wurde. Von der Versicherung konnte er erst dann einen Schutz erhalten, wenn geklärt wurde, wie das Haus zu Schaden kam.

Durch den Hausbrand lernt Welin die Journalistin Lisa Modin kennen. Zwischen ihnen beiden entwickelt sich eine freundschaftliche / sexuelle Beziehung. Welin verliebt sich in Lisa, leider stößt er nicht auf Gegenliebe, sodass Welins Bedürfnisse nicht erwidert werden konnten.  

Louise entpuppt sich in Paris zu einer professionellen Taschendiebin. Einmal wird sie dabei erwischt und wird eingebuchtet. Louise bittet von ihrem Handy aus Welin um Hilfe, der schnellstmöglich angereist kam ...


Welche Szene hat mir so gar nicht gefallen?
Mich konnten die meisten Szenen einfach nicht überzeugen. Die Journalistin fand ich nicht richtig authentisch. Ich habe sie hier kaum als Journalistin erlebt. Die Polizei selbst zeigte sich ebenso wenig professionell. Wie Welin die Polizei beschrieben hat, fand ich arg merkwürdig.

Aber welche Szene mich tatsächlich angewidert hat, war Großvaters Tat gegenüber einem Hirsch. Welin denkt über seine Kindheit nach, als er seinen Großvater zum Fischen hinaus auf´s Meer begleitet.
Großvater erblickte einen Rehbock, der angeschwommen kam. Ohne zu zögern ließ er das Netz fallen, das er in den Händen hielt, schob mich zur Seite und setzte sich selbst an die Ruder. Er holte das Reh ein, stand im Boot auf und schlug dem Tier mit einem der Ruder auf den Kopf. Das Ruder zerbrach und das Reh schwamm weiter. Aber Großvater warf sich halb aus dem Boot, und es gelang ihm, das Tier am Geweih zu packen. Zugleich zog er sein Moramesser und schnitt ihm die Kehle durch. (2017, 132)

Mir liefen bei dieser Szene die Tränen. Solche heftigen Tiergeschichten treten häufig bei Mankell auf. Er erinnert mich daran, dass in der realen Welt viele Menschen eine Lust haben, unschuldige Tiere zu quälen und zu töten.

Der kleine Welin war über Großvaters Tat stark irritiert, aber das Kind wird später selber zum Täter, indem es lebendigen Insekten die Flügel ausreist.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Gefallen hat mir, als bei Wiederholungsbränden sich die Menschen auf den Inseln versammelt haben, und sie sich berieten, wie sie sich gegenseitig besser schützen könnten. Es kam auch die Frage nach dem möglichen Täter auf, und die meisten suchten den Täter nicht in den eigenen Reihen, sondern bei den Ausländern. Diese Szene hat Mankell sehr gut beschrieben, wie verzerrt die Wahrnehmung vieler Menschen sein kann. Schade, dass er dieses Niveau nicht im gesamten Ablauf seines Romans hat aufrechterhalten können.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Keine.

Welche Figur war mir antipathisch?
Sie wirkten auf mich alle ziemlich gestört, wie ich oben schon geschrieben habe.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel
Ich weiß immer noch nicht, für was die Gummistiefel stehen. Symbolisch betrachtet könnte es den Wunsch Welins ausdrücken, in der Welt unter dem Allwetterschutz mutiger auftreten zu können, ohne nasse Füße zu bekommen. Welin erhält erst am Ende der Geschichte seine Gummistiefel, die er in einem Laden bestellt hat. Er musste lange auf seine Lieferung warten.

Zum Schreibkonzept
Auf den 475 Seiten ist der Roman in fünf Teilen gegliedert, die Anzahl der Kapitel habe ich mir diesmal nicht gemerkt. Mal fangen die Teile mit Kapitel eins an, mal wieder nicht.

Meine Meinung
Mich hat die gesamte Geschichte nicht überzeugen können. Häufig sehr einseitige Beschreibungen, manchmal auch wieder sehr klischeehaft was die Zuordnung verschiedener Menschen betrifft. Auch den Begriff rassisch ist heute auf Menschen bezogen politisch nicht mehr korrekt. Der Duden schreibt:
BESONDERER HINWEIS In der Biologie wird der Begriff der Rasse nicht mehr auf Menschen angewendet. Wenn auf entsprechende Unterschiede Bezug genommen werden muss, sollten deshalb Ausweichformen wie Menschen anderer Hautfarbe gewählt werden.

Mein Fazit
Eine schlecht recherchierte Handlung, die mich nicht hat überzeugen können, dafür aber ein wundervoller Erzählstil.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
1 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
1 Punkte: Frei von Stereotypen,Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Sieben von zwölf Punkten.

________________
Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

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Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)


Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.
Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)

Sonntag, 10. November 2019

Wo bleibt Prousts Erbe?

Quelle Geralt / Pixaby
Weiter geht es mit den Seiten von 349 – 359  

Auf den folgenden Seiten bekommt man es mit einem frustrierten Marcel Proust zu tun, dem es stinkt, dass sein Erbanteil seines Vaters an die Mutter angefallen ist. Proust bekommt aus bestimmten Gründen lediglich einen Monatsbetrag ausgezahlt.

Er spricht sich bei einem Freund aus, sagt ihm gleich zu Beginn des Briefes, dass er von traurigen Gedanken geplagt sei. Anne und mir waren die vielen Gedanken um das Geld definitiv zu langweilig. Wir beide mögen eigentlich keine Geldgespräche. Mal schauen, was ich hierbei zusammentragen kann.

Auf jeden Fall ist der Vater vermögend gestorben. Aber den Reichtum hat er aus eigener Kraft erworben.

An Louis d´Albufera
Anfang Dezember 1903, Marcel Proust ist hier 32 Jahre alt

Schon den ersten Satz finde ich ein wenig befremdlich.
Mon petit Albu, während Sie mit mir redeten, nagte an mir der fürchterlich traurige Gedanke, dass ich keinerlei Geld habe, das Ihren teuren Geist von allen Sorgen befreien könnte. (349)

Meine Frage: Hat der Freund ihn um Geld gebeten? Nun, jedenfalls nutzt Proust die Gelegenheit, seinem Freund vorzuheulen, wie wenig Geld er selber zur Verfügung hat, da der Vater ihn von dem Erbe wenig begünstigt hat.

Zu Lebzeiten erhielt Proust schon Geld vom Vater. Also ganz so mittellos war er nicht:
Papa zahlte mir jeden Monat 500 Francs aus, dazu vierteljährig 125 Francs. (350)

Anne und ich hatten uns immer schon gefragt, wie viel Geld Proust eigentlich zum Leben zur Verfügung hat. Ich denke, dass wir hier ein wenig schlauer werden, dass er mit seinen 32 Jahren neben seinen literarischen Einnahmen noch Unterstützung von den Eltern benötigt hat.
Papa und Mama hatten sich gegenseitig als Alleinerben ihres ganzen Vermögens eingesetzt, der Überlebende sollte der Erbe des anderen sein. (Ebd.)

Dies hat Proust nicht wirklich gepasst, grübelt, was die Eltern zu solch einem Verhalten bewogen hatte. Proust findet eine Antwort, die auch für mich und Anne plausibel zu sein scheint:
Ich glaube, dass dies nicht auf wechselseitiger Zuneigung gründete, sondern auch auf der absurden Vorstellung, die sie seit jeher hatten, ich sei ein Verschwender und würde, sobald ich nur zwei Sous in der Tasche hätte, diese sogleich zum Fenster hinauswerfen. (Ebd.)

Auch fühlt er sich seinem Bruder gegenüber benachteiligt. Zu Unrecht, wie ich finde.
Und da sie wussten, dass mein Bruder eine Frau geheiratet hatte, die auf ein immenses Vermögen wartet, und dass er im Übrigen selbst, wenn er nur will, ein irrsinniges Geld mit der Chirurgie verdienen kann, (…)., hatten sie in dieser Hinsicht keinerlei Bedenken und sagten sich, dass, solange einer von beiden, Papa oder Mama, das Vermögen zusammenhielte, es am besten für mich aufbewahrt und vor meiner Verschwendungssucht gesichert wäre! (Ebd.)

Ist etwas Neid auf den Bruder herauszuhören? Man mag als Chirurg viel Geld verdienen, aber geschenkt ist das Geld nicht, sondern hart verdiente Arbeit gepaart mit einer Masse an Verantwortung.

Achtung, nun schießt er gegen seine Mutter.

Allerdings erlaubt das Gesetz nicht, dass ein Ehemann alles seiner Frau vermacht. Und ich glaube, dass mein Bruder und ich jeweils Anspruch auf ein Viertel haben. (Ebd.)

Interessant wäre für uns hier zu wissen, ob im es im umgekehrten Fall zulässig wäre, dass eine Ehefrau alles seinem Ehemann vermacht, oder ob es dem Stammhalter, das wäre hier Marcel, zugeschrieben worden wäre.

Ein Onkel der Familie, Vaters Bruder, gibt Proust folgende Ratschläge:
Deine Mutter lebt von einem Einkommen, das sich auf 80.000 Francs belief, sie hat jetzt nur noch 40.000 zur Verfügung. Dein Bruder und Du, Ihr müsst versuchen, ihr die Änderung ihrer Lage so wenig wie möglich spürbar zu machen, und auf Euer Pflichtteil verzichten, Robert, indem er sich mit dem zufriedengibt, was er schon hat, und Du, indem Du bei Deiner Mutter wohnen bleibst. (351)

Proust wartet nun ab, wie sich sein Bruder Robert verhalten wird. Dies teilt Proust alles seinem Freund mit. Weiter schreibt er:
Wenn sich diese Lösung durchsetzt, dann werde ich weiterhin kein Kapital besitzen, und auch wenn mir meine monatlichen 500 Francs erhalten bleiben, so werde ich davon womöglich eine kleine Unterhaltszahlung für verschiedene Ausgaben an meine Mutter zu leisten haben. (Ebd.)
Es stehen einige Ausgaben an, hinzu kommt noch der Umzug in eine kleinere Wohnung, sobald der Mietvertrag ablaufen werde. Wie man oben entnehmen kann, rechnet Proust damit, sich an den Kosten beteiligen zu müssen. In den späteren Zeilen ist zu entnehmen, dass Prousts Erbanteil in Aktien umgelegt wurde.
Dies alles, wenn ich es richtig ahne, immer in der Absicht, mich vor mir selbst zu schützen, wie auch der Vorschlag meines Onkels keinen anderen Zweck verfolgen dürfte.
Damit sich hier nicht alles nur ums Geld dreht, eine kurze Zusammenfassung aus dem Brief an Marie Nordlinger. Zur Erinnerung: Marie Nordlinger ist die Schwester von Robert de Montesquieou und ist Expertin in der englischen Sprache und greift Proust häufig unter die Arme, wenn er Probleme mit der Ruskin-Übersetzungsarbeit hat. Proust hat vor nichts eine Scheu, stellt der Briefpartnerin jede Menge Sinnfragen zu seiner Übersetzung.

Unsere Gedanken dazu
Ich hätte Proust nicht zugemutet, dass er sich so stark finanziell von den Eltern abhängig macht. Dass er keinen Stolz besitzt, sich auf eigene Füße zu begeben, entnehme ich aus diesen Zeilen. Ich erinnere mich noch an den kleinen Marcel, dass er schon in der Kindheit sich häufig Geld vom Großvater hat ausleihen müssen, weil er mit seinem Taschengeld nicht klar kam.

Wer bekommt schon in dem Alter jeden Monat von den Eltern 500 Frans ausgezahlt, was damals sehr viel Geld gewesen ist.

Wie viel der Vater an Vermögen hinterlassen hat, wird minutiös in der Fußnote gelistet. Wer genaue Angaben haben möchte, so verweisen wir auf das Buch. 

Dies war es für heute. Anne und ich hatten heute Morgen schon über diese Briefe gesprochen, sodass ein weiterer Austausch sich erübrigt hat, vor allem, weil wir uns bei den Zitaten einig waren, wobei Anne sehr pragmatische Fragen noch im Nachhinein gestellt hat, als wir nun soeben in einer anderen Proust- Sache doch noch telefoniert haben.

Anne hat sich im Nachhinein nicht zufriedengegeben, was Prousts Auslagen betreffen. Wie viel muss er von seinem Eltern-Gehalt für Arztkosten aufkommen? Wer bezahlt die Medikamente? Wie viel verdient Proust als Literat? Er hat jede Menge kürzere Geschichten verfasst und ein ganzes Buch mit dem Titel Santeuil schon geschrieben. Er hat dafür jeweils eine Gage bekommen, aber wie hoch sie war, darüber hat sich Proust in den Briefen noch nicht ausgelassen. Für seine Ruskin-Übersetzungsarbeit ist er auch ausbezahlt worden. Wahrscheinlich konnte er mit diesen scheinbar kleinen Honoraren nicht wirklich auskommen. Aber wie man oben aus den Briefen entnehmen kann, konnte Proust scheinbar nicht wirklich gut mit Geld umgehen. 

Anne ist erbost, denn mit welcher Selbstverständlichkeit Proust ohne eine Gegenleistung seine Hand aufhält. 

Je älter er wird, desto mehr verliert er bei mir an Sympathiepunkte.

Unser Fazit
Auch wenn Proust auf hohem Niveau klagt und weint, nicht genug zu bekommen, wissen Anne und ich nun, dass er nie Geldnot erleiden wird. Aus der Fußnote konnte entnommen werden, dass der Tod der Mutter auch nicht mehr lange auf sich warten lässt, sodass wir davon ausgehen, dass er und sein jüngerer Bruder Robert das gesamte Vermögen erben werden, da auch die Mutter viel Geld mit in die Ehe gebracht hat, und sie selbst durch ihre eigenen verstorbenen Eltern Geld geerbt hatte. Proust kann sich somit zurücklehnen. Für ihn ist gesorgt, sowohl zu Lebzeiten seiner Mutter, die ihm weiterhin jeden Monat Geld zusteckt als wäre es sein Gehalt, als auch nach ihrem Ableben.

Weiter geht es übernächstes Wochenende von 359 - 369

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Mittwoch, 6. November 2019

Henning Mankell / Die schwedischen Gummistiefel

Klappentext     
Nach dem Brand seines Hauses auf einer einsamen Schäreninsel sind dem ehemaligen Chirurgen Fredrik Welin nur Wohnwagen, Zelt, Boot und zwei ungleiche Gummistiefel geblieben. Und wenige Menschen, die ihm nahestehen: Jansson, der pensionierte Postbote, die Journalistin Lisa Modin und seine Tochter Louise, die schwanger ist und in Paris lebt. Als Louise wegen eines Diebstahls in Untersuchungshaft gerät, ruft sie Fredrik zu Hilfe. Während er in Paris über ihre Freilassung verhandelt, erfährt er, dass auf den Schären schon wieder ein Haus in Flammen steht.

Autorenporträt
Henning Mankell, geboren 1948 in Härjedalen, war einer der großen schwedischen Gegenwartsautoren, von Lesern rund um die Welt geschätzt. Sein Werk wurde in über vierzig Sprachen übersetzt, es umfasst etwa vierzig Romane und zahlreiche Theaterstücke. Nicht nur sein Werk, sondern auch sein persönliches Engagement stand im Zeichen der Solidarität. Henning Mankell lebte abwechselnd in Schweden und Mosambik, wo er künstlerischer Leiter des Teatro Avenida in Maputo war. Er starb am 5. Oktober 2015 in Göteborg. Seine Taschenbücher erscheinen bei dtv.

Meine ersten Leseeindrücke

Dieses Buch ist auch nicht besser als der Vorgänger von Die italienischen Schuhe. Ich befinde mich gerade auf den letzten 180 Seiten. Leider wieder sehr klischeehaft und eine wenig überzeugende Geschichte. Aber Mankells Erzählstil finde ich toll, sonst hätte ich das Buch abbrechen müssen. 

Weitere Informationen zu dem Buch

·         Taschenbuch: 480 Seiten
·         Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (8. Dezember 2017)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 3423217057

Hier geht es zu der Verlagsseite von dtv. 


Sonntag, 3. November 2019

Todesfall in der Familie Proust

Seite 331 – 349  

Die zehn Seiten aus dem letzten Wochenende haben Anne und ich zwar gelesen aber es befand sich nichts darunter, worüber es sich gelohnt hätte, einen Blogbeitrag dazu zu schreiben, obwohl ein sehr langer Brief sich darunter befand, der schon interessant gewesen wäre, und ich einen Absatz daraus in die hiesige Besprechung packen möchte.

Die französischen Intellektuellen scheinen sich 1903 in einer Umbruchphase zu befinden. Sie lehnen alles Religiöse ab, besonders auch in Bildungseinrichtungen. Die einen sind Antisemiten, andere sind gegen den Katholizismus, und wieder andere gegen den Jesuiten, unterm Strich gesagt; am besten alles abschaffen, was mit Glauben und Religion zu tun hat, und rein in eine antiklerikale Haltung gehen. Auch fordern sie eine Trennung von Kirche und Staat. Ich fand dies sehr spannend, vor allem, weil Frankreich katholisch ist, der sich bis heute erhalten hat, selbst, wenn mittlerweile viele aus der Kirche ausgetreten sind, trotzdem ist der Katholizismus mit 57 % in Frankreich die stärkste Konfession. Deshalb finde ich diese religiöse Antibewegung sehr spannend, während Proust sich allerdings gegen diese Bewegung ausspricht.

Hierbei Prousts Meinung:
Ich mag den jesuitischen Geist nicht. Aber immerhin gab es eine jesuitische Philosophie, eine jesuitische Kunst, eine jesuitische Pädagogik. Wird es eine antiklerikale Kunst geben? Das alles ist weniger leicht zu beantworten, als es scheint. Welche Zukunft hat der Katholizismus in Frankreich und in der Welt, ich meine, wie lange noch und auf welche Weise wird er seinen Einfluss ausüben; das ist eine Frage, die niemand auch nur stellen kann, denn er wächst, in dem er sich wandelt, und seit dem 18. Jahrhundert, in dem er die Zuflucht der Ignoranten zu sein schien, hat er selbst auf die, die ihn bekämpfen und verleugnen sollten, einen Einfluss gehabt, den das vergangene Jahrhundert sich nicht hat vorstellen können. (335)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Proust formuliert hier bereits Gedanken, wie er sie ein Jahr später, im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirche, in seinem Artikel >La mort de Cathédrales< (Le Figaro, 16. August 1904) weiter ausführen wird. (338)

Weiter schreibt Proust, in dem er sich auf namhafte Schriftsteller bezieht:
Das Jahrhundert Carlyles, Ruskins, Tolstois, selbst wenn es auch das Jahrhundert Hugos oder Renans war, (…) ist kein antireligiöses Jahrhundert. Selbst Baudelaire hängt an der Kirche, zumindest im Sakrileg. (Ebd.)

Weiter geht es nun mit der Besprechung aus den folgenden Seiten, von 341 bis 349, wobei mir hauptsächlich die Briefe an Lucien Daudet und an Anna de Noailles ins Auge geschossen sind.

Denn hier entnimmt man die traurige Nachricht, dass Marcel Proust, gerade mal 32 Jahre alt, seinen Vater verlieren wird.

An Lucien Daudet
25. November 1903, Proust ist 32 Jahre alt
Papa ist sehr krank. Deshalb habe ich Ihnen gestern nicht geschrieben. Es ist mir unmöglich, mich mit Ihnen zu verabreden. Bemühen Sie sich nicht hierher, denn ich weiche nicht von seiner Seite, Sie würden mich nicht zu Gesicht bekommen und das machte alles nur noch komplizierter. (346) 

Den Satz in der Klammer finde ich ein wenig befremdlich.
(Wenn Sie aber heute Abend vorbeischauen mögen, dann will ich Sie aber nicht daran hindern, aber wir würden uns wahrscheinlich nicht sehen. Und morgen lieber auch nicht.) (Ebd.)

Wer würde denn in so einer Situation sich mit einem Besuch aufdrängen wollen? Vielleicht sind das unterschwellige Wünsche, möge der Freund doch bitte, bitte kommen, auch wenn der Vater krank ist. So fühlt sich das für mich an. Alles überflüssige Worte, wenn Proust sie wirklich so geschrieben hat, wie er es auch gemeint hat. Für mich ist mittlerweile klar durch die vielen anderen Vorbriefen, dass Proust sehr manipulativ mit seinen Mitmenschen umgehen kann.

Zu der Erkrankung seines Vaters ist aus der Fußnote zu entnehmen:
Adrien Proust hatte am Dienstag, dem 24. November, in der medizinischen Fakultät, wo er bei der Verteidigung einer Doktorarbeit der Prüfungskommission vorsaß, eine Hirnblutung erlitten. Sein Sohn Robert transportierte ihn nach Hause (…) wo er am 26. November um 9 Uhr morgens verstarb. Der Figaro brachte in seiner Ausgabe vom 27. November einen langen Nachruf. (346) 


An Anna de Noailles
03. Dezember 1903

Auch hier schreibt Proust über seine Trauer zum verstorbenen Vater. Interessant fand ich zu lesen, dass Proust mit Ruskin abgebrochen hatte, es aber die Mutter schließlich war, die ihn dazu brachte, die Übersetzungsarbeit aus Liebe zu seinem Vater erneut aufzunehmen. Erstaunlich, unter welch starkem Einfluss Proust hier steht.
Aber als nun Mama erfuhr, dass ich den Ruskin aufgegeben hatte, setzte sie sich in den Kopf, dass diese Arbeit alles gewesen sei, was Papa sich sehnlichst gewünscht habe, dass er von einem Tag auf den anderen mit der Veröffentlichung gerechnet habe. (348)

 Proust bewundert seine Mutter, ihre Stärke, nicht an dem Tod seines Vaters zu zerbrechen, aber er weiß auch, dass das nach außen hin nur so wirken kann und macht sich doch große Sorgen um seine liebe Mama.
Mama verfügt über eine solche Energie (eine Energie, die in keiner Weise energisch aussieht und nicht verrät, dass man sich beherrscht), dass es keinen augenfälligen Unterschied zwischen der Mama vor einer Woche und der Mama von heute gibt. Aber ich, der ich weiß, in welchen Tiefen – und auf welcher Dauer – sich das Drama abspielen kann, kann nur Angst um sie haben. (347)

Proust reflektiert die Beziehung zu seinem verstorbenen Vater, an dem er stets bemüht gewesen sein soll, eine gute Beziehung zu pflegen. Er beschreibt seinen Vater als sehr liebenswürdig, obwohl ich aus seinen Briefen eine rechte Distanz zwischen Vater und Sohn vernommen habe. Außerdem gibt es nicht so viele Briefe zwischen ihnen beiden, und es auch der Vater war, der den Sohn als sein Sorgenkind betrachtet hat, wäre da nicht die Mutter gewesen, die die Beziehung zwischen Vater und Sohn immer auf´s Neue gekittet hat. Aber das weiß Proust auch.
So kann ich auch kaum an meinen eigenen Kummer denken. Und doch leide ich sehr.(…) denn mir ist sehr wohl bewusst, dass ich stets der dunkle Punkt in seinem Leben war-, so habe ich doch versucht, ihm meine Liebe zu beweisen. Und doch gab es Tage, an denen ich mich gegen das allzu Bestimmte, allzu Selbstgewisse in seinen Behauptungen auflehnte, und ich erinnere mich, dass ich vergangenen Sonntag während einer politischen Diskussion Dinge gesagt habe, die ich nicht hätte sagen sollen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das jetzt tut. Es ist mir jetzt so, als wäre ich gegen einen Menschen hart gewesen, der sich schon nicht mehr verteidigen konnte. Ich würde, wer weiß dafür geben, wenn ich an diesem Abend nur von Sanftmut und Zärtlichkeit gewesen wäre. (347f)

Meine Gedanken dazu
Ich fand die Briefe sehr traurig, wenn man bedenkt, was ein Kind alles den Eltern schuldet, und es aus Liebe zu ihnen angehalten wird, das zu tun, was sie von ihm erwarten, sonst wird das Kind mit Liebesentzug und später mit vielen Schuldgefühlen gestraft, sobald die Eltern gestorben sind.
Traurig war für mich auch, dass Proust so jung schon viele Menschen aus seiner Familie verloren hat. Erst die Großeltern mütterlicherseits, und dann der Vater und nicht sehr viel später wird auch die Mutter gehen.

Was ist eigentlich mit den Großeltern väterlicherseits? Diese wurden noch nie erwähnt, sodass ich den Verdacht hege, dass Proust durch deren vorzeitigen Tod sie niemals hat kennenlernen können. Hierbei muss ich nochmals ein wenig im Netz recherchieren.

Hier konnte ich einen Link zu Prousts Großeltern väterlicherseits finden, den ich überflogen habe, ich ihn aber noch vertiefen werde. Der Text wird mir hier nicht mehr verloren gehen, so kann ich nun jeder Zeit darauf zurückgreifen. 

Angeblich sind die Großeltern väterlicherseits doch nicht verstorben. Verwunderlich, dass Proust sie niemals hat erwähnen können. 

Anne hat diesmal auch zwei Zitate gefunden, die sie beschäftigt haben.

Hier Annes Beitrag:
Heute zitiere ich auch mal zwei Textstellen, und zwar handelt es sich um einen Brief an Auguste Marguillier vom 20.? Oktober 1903 - Proust ist mittlerweile 32 Jahre alt:
"Cher Monsieur, Wären Sie so liebenswürdig mir zu sagen, ob mein Artikel über den Ruskin von Madame Broicher jemals in der ,Chronique' erschienen ist? Und falls ja, könnte ich dann ein Exemplar bekommen? Ich war über eine ziemlich lange Zeit abwesend von Paris und konnte daher nicht in die rue Favart kommen, um Sie danach zu fragen." (Seite 344)

Gleich der Folgesatz nach der Frage (und auch Mira erinnerte mich daran) zeigt ja, dass er oft unterwegs war. Aber selbst, wenn er nicht zu Hause war, kann doch trotzdem Post ankommen. Und wurde er vom Auftraggeber nicht benachrichtigt über Veröffentlichungen und wie lief das dann mit seiner Bezahlung?

Interessant fand ich auch den Passus, in dem Proust am 3. Dezember 1903 nach dem Tode des Vaters (26. November 1903) an Anna de Noailles über seine Mutter schreibt:
"Ich wage nicht, mir ernsthaft vorzustellen, wie ihr Leben sein wird, wenn ich bedenke, dass sie den einzigen Menschen, für den sie lebte (ich kann nicht einmal sagen: den sie liebte, denn seit dem Tod ihrer Eltern war jedes andere Gefühl der Zuneigung soviel schwächer im Vergleich dazu), niemals wiedersehen wird." (Seite 347)

Ich weiß natürlich von Paaren, die ohne Liebe zusammen leben, sei es, dass die Ehe arrangiert wurde oder dass die Liebe irgendwann verschwunden ist, und ich weiß auch von Menschen, die nach dem Verlust einer geliebten Partnerin, eines geliebten Partners nicht mehr in der Lage sind, sich auf eine neue Liebe einzulassen. Aber dass man dieses Liebesgefühl nicht mehr zulassen kann, weil man seine Eltern verloren hat, ist mir noch nie untergekommen.

Meine Gedanken dazu
Ja, Anne, die Liebe ist ein Mysterium. Die meisten Bücher, die geschrieben wurden, behandeln die Liebe, und viele Lieder wurden und werden darüber noch gesungen, und trotzdem sind wir nicht weitergekommen, diese Phänomene zu enträtseln. Wäre Madame Proust nicht verheiratet, und hätte sie selbst keine eigene Familie gegründet, dann hätte ich gesagt, sie habe sich von ihrem Elternhaus nicht gelöst. Aber das ist es ja nicht. Außerdem ist dies die Sichtweise des Sohnes über seine trauernde Mutter, die einfach verzerrt ist, weil er gar nicht wissen kann, was ein Mensch innerlich denkt, fühlt, was ihn bewegt, wenn er in eine Krise gerät, selbst wenn es die eigene Mutter ist. In einer Psychotherapie geht es zum Beispiel immer um die Sichtweise des Behandelnden. Man müsste die Mutter fragen, wie sie diese Trauer selbst definieren würde. Aus ihrem Inneren heraus. Selbsteinschätzung versus Fremdeinschätzung. 


Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 349 – 359.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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