Lesen mit Anne …
Eine Buchbesprechung zur
o. g. Lektüre
Das Buch habe ich am Samstagabend
ausgelesen und es hat mir recht gut gefallen. Zwischendrin gab es mal eine
kleine Durststrecke, aber ansonsten war das Buch recht interessant und
fantasievoll geschrieben.
Zur Erinnerung gebe ich erneut den
Klappentext rein:
Eine Bar ist vielleicht
nicht der beste Ort für ein Kind, aber bei Weitem nicht der schlechteste. Vor
allem das »Dickens« nicht, mit seinen warmherzigen und skurrilen Figuren:
Smelly, der Koch, Bob der Cop mit seiner dunklen Vergangenheit oder Cager, der
Vietnam-Veteran. Für den kleinen JR, der alleine mit seiner Mutter wohnt, sie
alle sind bessere Väter, als seiner es jemals war. JR wird erwachsen, und
erfüllt sich seinen Traum: Er geht nach Yale. Die Bar wird JR sein Leben lang
begleiten. Dort hört er zum ersten Mal Sinatra, sieht Baseballspiele im
Fernsehen, und trinkt sein erstes Bier. Und bekommt all das, was er braucht:
Mut, Zuversicht und die Gewissheit, dass es nicht immer nur die Guten oder die
Bösen gibt, dass Bücher Berge versetzen können und dass man an gebrochenem
Herzen nicht stirbt. Ein abwechselnd herzzerreißender und urkomischer Roman
über tapfere Kinder, mitfühlende Männer und starke Mütter. Und darüber, dass
Träume auch wahr werden können - wenn man für sie kämpft.
Wenn man
bedenkt, wie viel Armut es in Amerika gibt und wie wenig sie in den deutschen Medien
dargestellt wird, wenn das Land stattdessen hauptsächlich von der glänzendsten
Seite gezeigt wird, dann ist es gut, dass es amerikanische AutorInnen gibt, die
über ihr Leben dort berichten, das alles andere als glorreich ist.
J. R.
Moehringer, Jahrgang 1964, schreibt in seinem Erstlingswerk über sein Leben in
Amerika. Aufgewachsen ist er auf Long Island, eine Insel, die zum Bundesstaat New Yorks gehört, befindet sich demnach auf der Landkarte ganz oben östlich, angrenzend zu Kanada.
Ich habe nämlich oft den Eindruck, je höher man geht,
desto kühler wirken die Menschen.
Und auch hier
erlebe ich manche AmerikanerInnern vielfach kühl, stark leistungsorientiert und
recht aggressiv. Auch der
Rassismus kommt hier wieder zum Tragen, wenn auch oberflächlich betrachtet nur
geringfügig … Ich belasse es bei diesen Schlagwörtern, sollte ich nicht
dazu kommen, diese näher aufzuführen. Jeder aufmerksame Leser dieses Buches wird selbst
dahinter kommen, in welchen Zusammenhängen diese gemeint sind ...
Viele
Zettelchen kleben wieder zwischen den Seiten, sodass ich schauen muss, welche
ich für meinen Blog verwenden werde.
Schon auf den
ersten Seiten bin ich über einen Begriff wie z.B. Identitätsdiebstahl gestolpert. Und in der Tat, der Autor befindet
sich über viele, viele Jahre auf Identitätssuche, wie sich dies auch auf seine
Initialen J. R. schließen lässt, die
keine wirklichen Initialen sind. Eigentlich soll der wahre Name John Joseph Moehringer verborgen
bleiben. Der Name des Vaters.
Die Suche nach der Identität erweist sich wie ein roter Faden durch das ganze
Buch …
Moehringer
kennt seinen Vater kaum, der von der Mutter getrennt lebt, und der sich
weigert, Unterhalt für sie und das Kind zu zahlen. Als die Mutter versucht hat,
den Unterhalt gerichtlich einzuklagen, drohte der Mann, sein eigenes Kind zu kidnappen … Doch auch
ihr Leben wird oft
von ihm bedroht …
J. R. fehlte der Einfluss von
Männern, da er hauptsächlich von Frauen umgeben ist. Um männliche Vorbilder zu
finden, begibt er sich schon im Kindesalter in eine Bar, benannt nach dem
Romancier Charles Dickens, in der auch sein Onkel Charlie als Stammkunde
verkehrt.
Eine Lektion, eine Geste, eine Geschichte, eine
Philosophie, eine Haltung - ich nahm von jedem Mann in Steves Bar etwas mit.
Ich war ein Meister im Identitätsdiebstahl, was damals noch ein harmloses
Vergehen war. Ich wurde sarkastisch wie Cager, melodramatisch wie Onkel
Charlie, ein Grobian wie Joey D. Ich wollte solide sein wie Bob the Cop, cool
wie Colt, und meine Wut rechtfertigte ich, indem ich mir einredete, sie sei
auch nicht schlimmer als der selbstgerechte Zorn von Smelly. Irgendwann wandte
ich alles, was sich im Dickens gelernt hatte, bei Leuten an, die mir außerhalb
der Bar begegneten - bei Freunden, Geliebten, Eltern, Vorgesetzten und sogar
Fremden.
Moehringers Vater ist beim Radio
tätig. Sehnsuchtsvoll lauscht der kleine Sohn der väterlichen Stimme aus dem
Radiosender.
Mein Vater war ein vielseitig begabter Mann, doch sein
wahres Genie lag im Verschwinden. Ohne Vorwarnung änderte er seine Schichten
oder wechselte die Sender. Ich konterte, indem ich ein Kofferradio mit hinaus
auf die Vortreppen nahm, wo der Empfang besser war. Mit dem Radio auf dem Schoß
wackelte ich an der Antenne, drehte langsam den Senderknopf und kam mir
verloren vor, bis ich wieder die Stimme fand.
Traurig, wie sehr sich ein kleiner
Junge nach seinem Vater sehnt. Ganz unabhängig davon, wie zerstritten die
Eltern untereinander sind.
Die Armut in dieser Familie, die
Familie seiner Mutter, ist recht groß, dass die Mutter und deren Geschwister,
Ruth und Charlie, es finanziell nicht schafften, von den eigenen Eltern
unabhängig zu leben. Immer wieder, besonders die Schwestern, zogen sie zu ihnen
zurück, weil das Geld für die Miete nicht ausreichte. Charlie, Single, wagte es
erst gar nicht, auszuziehen:
In Opas Haus hat jeder mindestens ein Laster - Trinken,
Rauchen, Spielen, Lügen, Fluchen, Faulsein. Mein Laster war die Stimme.
Doch der Großvater hatte auch
Humor. Als der Hund voller Flöhe war, und die Kinder den Großvater darüber in
Kenntnis setzten, erwiderte er, dass sie das nicht weitersagen sollten, denn
sonst wollten andere auch alle einen Floh haben. Darüber musste ich sehr schmunzeln.
Das Haus des Großvaters war recht
ärmlich ausgestattet, aber nicht, weil der Patriarch kein Geld besaß, es
instand zu setzen, nein, weil er ein alter Geizkragen sei, und dies nicht nur
auf materieller Ebene bezogen:
Opa gebe keine Liebe weiter, sagte meine Mutter, als hätte
er Angst, sie könnte eines Tages knapp werden. Als sie, Tante Ruth und Onkel
Charlie aufwuchsen, hatte er sie alle drei ignoriert und ihnen nie
Aufmerksamkeit oder Liebe geschenkt. Sie beschrieb einen Familienausflug am
Strand, als sie fünf war. Als sie sah, wie lieb der Vater ihrer Cousine
Charlene mit seinen Kindern spielte, bat meine Mutter, Opa im Wasser, sie auf
seine Schultern zu setzen. Das machte er auch, trug sie dann aber über die
Wellen hinaus, und als sie weit draußen waren und meine Mutter kaum noch den
Strand sehen konnte, bekam sie Angst und flehte ihn an, er möge sie absetzen.
Da warf er sie ins Wasser. Sie ging unter, landete auf dem Grund, schluckte
Salzwasser. Sie kämpfte sich wieder an die Oberfläche, schnaubte nach Luft und
sah Opa lachen. Du wolltest doch abgesetzt werden, sagte er zu ihr, ohne ihre
Tränen zu beachten. Als meine Mutter alleine aus der Brandung schwankte, hatte
sie eine frühreife Eingebung: Ihr Vater war kein guter Mensch.
Moehringers Mutter war begabt,
durfte vom Elternhaus her aber keine höhere Schule besuchen. Ihr Sohn J. R.
zeigt Mitleid mit ihr, sodass der Kleine eine hohe Verantwortung auf sich lädt,
denn er sieht recht früh, was in der Familie so alles falsch läuft. Die
Erwartungen der Mutter, er solle in der Schule sein Bestes geben, damit er
später Jura studieren, und gegen den Vater klagen könne, nimmt er auf sich. Ob
später was daraus wird, wird sich zeigen. Doch das genügte ihm nicht, denn auch
die Großmutter impft ihm ein, er solle gut auf die Mutter achtgeben und für sie
sorgen. Hier findet ein Rollentausch statt, indem ein Kind mit der
Verantwortung eines Erwachsenen ausgestattet wird. Eigentlich sollte es
andersherum sein:
Bei meinem Schwarzweißbild von der Welt reicht es nicht,
wenn ich mein Bestes gab. Ich musste perfekt sein. Um für meine Mutter zu
sorgen und sie ans College zu schicken, mußte
ich sämtliche Fehler eliminieren. Durch Fehler war unsere Zwangslage überhaupt
erst entstanden - Oma hatte Opa geheiratet, Opa hatte meiner Mutter das Studium
verweigert, meine Mutter hatte meinen Vater geheiratet- und wir mussten weiter
für sie zahlen. Ich musste diese Fehler korrigieren, indem ich neue vermied,
perfekte Noten erzielte, dann ein perfektes College besuchte, danach Jura studieren
und am Ende meinen unperfekten Vater verklagen konnte. Aber wie sollte ich
perfekt sein, wenn die Schule immer schwerer wurde, und wenn ich nicht perfekt
war, wären Mutter und Oma enttäuscht von mir und ich wäre nicht besser als mein
Vater, und dann würde meine Mutter wieder singen und weinen und auf ihren
Taschenrechner einhacken, um die Finanzen zu überprüfen - solche Gedanken
schwirrten mir auf dem Spielplatz durch den Kopf, wenn ich anderen Kinder beim Tetherball Spielen zuschaut.
Demnach wurde Moehringer Junior
schon ganz früh im Leben mit belastenden Themen konfrontiert, mit denen er sich
herumschlug. Er wuchs mit vielen Problemen heran, oftmals zermürbten ihn die
Sorgen seiner Mutter. Doch seine Mutter, ganz anders als die Großmutter, eine
recht starke Persönlichkeit, versuchte ihm die Sorgen zu nehmen:
Ich mache mir keine Sorgen über etwas, das nicht passiert.
Moehringer zelebriert diesen
Gedanken wie ein Mantra seine gesamte Kindheit hindurch.
Nun existieren aber auch andere
Personen außerhalb der Familie. Moehringer fühlt sich gezwungen, sich mit
vierzehn Jahren einen Job zu suchen, um der Mutter finanziell ein wenig unter
die Arme zu greifen. Da er Bücher liebt, suchte er einen Aushilfsjob in einer
schlecht laufenden Buchhandlung. Er lernte zwei Brüder kennen, die für den
Laden verantwortlich waren. Aber das waren eher komische Vögel, doch für
Moehringer eine große pädagogische Hilfe:
Bill und Bud schienen sich vor Menschen zu fürchten, vor
allen Menschen, außer ihnen selbst, und das war mit ein Grund, weshalb sie sich
im Lagerraum versteckten. Der andere Grund war ihr permanentes Lesen. Sie lasen
pausenlos. Sie hatten alles gelesen, was jemals geschrieben worden war, und sie
waren versessen darauf, alles zu lesen, was jeden Monat neu herauskam, und zu
diesem Zweck mussten sie sich von der Welt abschotten wie Mönche im
Mittelalter. Obwohl beide Mitte dreißig waren, wohnten sie noch bei ihren
Müttern, hatten nie geheiratet und strebten offenbar auch nicht an, auszuziehen
oder zu heiraten. Abgesehen vom Lesen hatten sie kein Bedürfnis und außerhalb
des Ladens keine Interessen, wobei ihr Interesse an mir von Tag zu Tag wuchs.
Die Frage nach meiner Mutter, meinem Vater, Onkel Charlie und den Männern;
meine Beziehung zum Dickens faszinierte sie. Sie wollten wissen, warum Steve
der Bar einen literarischen Namen gegeben hatte, und daraus entwickelte sich
ein Gespräch über Bücher allgemein. Bill und Bud kamen schnell dahinter, dass
ich Bücher liebte, aber nicht sehr viel über sie wusste. Mittels einer Reihe
rascher, bohrender Fragen fanden sie heraus, dass ich nur das Dschungelbuch und
die Minutenbiografien gut kannte. Sie waren entsetzt und wütend auf meine
Lehrer.
Bill und Bud erwiesen sich ein
wenig wie Pseudolehrer im Bereich der Literatur. Sie gaben dem Jungen viele
Tipps zur Jugendliteratur, wie z.B. Bücher von Jack London, von Mark Twain etc.
…Moehringer kannte nicht viele AutorInnen, obwohl er im Haus seines Großvaters,
im Kellerraum, viele Bücher entdeckte, die er wie geheime Schätze behandelte,
doch darunter fand er zu wenige Bücher, die jugendtauglich waren.
Bücher würden sogar helfen, das
innere Chaos eines Menschen wieder in Ordnung zu bringen. Psychische
Stabilität, die Moehringer fehlte, und bezeichnete sich selbst als einen
Neurotiker …
Moehringer schafft den Übergang
von der höheren Schule auf die Universität. Bill und Bud empfehlen ihm die
Universität in Yale. Eine recht anspruchsvolle Bildungseinrichtung und
Moehringer sich nicht sicher ist, ob er dafür gut vorbereitet ist. Er bewirbt
sich auf Anraten dieser Brüder trotzdem. Folgende Szene zwischen der Mutter und
dem Sohn hat mich tief berührt, auch wenn die Handlung ein wenig trivial
klingt:
Meine Mutter gab mir ein Geschenk, das sie im Souvenirladen
gekauft hatte, einen Brieföffner mit den Yale-Insignien."Damit kannst du deinen Zulassungsbrief öffnen",
sagte sie.
Es zeigt, wie wichtig es der
Mutter ist, den Sohn auf der Yale-Universität zu sehen. Ein Wunsch auf ein
Studium, das ihr selbst nicht gegönnt war.
Perfektionismus? Leistungsstreben?
Schon am Anfang dieses Textes wies ich darauf hin. Moehringer bewarb sich nach
seinem erfolgreichen Studium als Volontär bei der Zeitung New York Times. In einem seiner Artikel beging er einen kleinen
Schreibfehler, der allerdings übertrieben große Auswirkungen hatte. Er schrieb
Kelly statt Kelley. Für dieses Missverständnis war nicht nur Moehringer
verantwortlich, aber er alleine musste die Konsequenzen tragen, die in ihm eine
ziemlich niedergedrückte Stimmung auslösten. In der Dickensbar sprach er über
sein Leid und fand ein wenig Trost bei einem seiner Kumpane. Sein Fehler wäre
nur minimal, den man leicht ausradieren könne. Probleme anderer Art dagegen, da
helfe kein Radiergummi ... Doch nicht nur in der Zeitung werden
perfektionistisches Denken und Handeln erwartet. Auch in seiner Familie, bei
seiner Tante Ruth, die diese Haltung in übertriebener Form auf den eigenen Sohn
überträgt, wird man damit konfrontiert.
Dazu hat der Autor ein
wunderschönes Zitat aufgeführt, der von dem großen Dramaturg William
Shakespeare stammt und das ich unbedingt hier festhalten möchte:
Durch Fehler, sagt man, sind die besten Menschen Gebildet,
werden meist umso viel besser, Weil sie vorher ein wenig schlimm.
Selbst in der Liebe hatte der
junge Moehringer nicht besonders viel Glück und gebraucht auch hier eine schöne
Metapher. Er bezeichnet die Liebe als etwas ganz Zerbrechliches, vergleicht sie
mit Schnittblumen, indem die Liebe schneller als diese sterben würde. Ein
schöner Vergleich, so finde ich.
Am Schluss dieser Autobiografie
kommt Moehringer, was die Suche nach seiner männlichen Identität betrifft, zu
einer weisen Erkenntnis, die ich mit einem Zitat belegen werde, das diese
Buchbesprechung zunächst auch abschließen wird:
Während ich nach vorn gebeugt auf dem zweihundertjährigen
Sofa saß und in die grünbraunen Augen meiner Mutter sah, wurde mir klar, dass
sie alle Eigenschaften verkörperte, die ich mit Männlichkeit verband: Härte,
Ausdauer, Entschlossenheit, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit,
Mut. Vage war ich mir dessen immer bewusst gewesen, doch als ich jetzt zum
ersten Mal einen Blick auf die Kriegerin erhaschte, die sich hinter ihrer
Ausdrucksmine verbarg, begriff ich es vollständig und konnte es zum ersten Mal
in Worte fassen. So lange hatte ich gesucht und mir gewünscht hinter das
Geheimnis zu kommen, wie man ein guter Mann wird, dabei hätte ich nur dem
Beispiel einer einzigen überaus guten Frau folgen müssen.
Das Buch erhält von mir zehn von
zehn Punkten.
Telefonischer Austausch mit Anne:
Auch Anne war von dem Buch recht
angetan, wenn auch nach dem zweiten Anlauf, wobei ich mich anfangs auch schwer
getan hatte, reinzukommen. Der Prolog wirkte auf mich ein wenig befremdlich ...
Unsere Eindrücke waren recht ähnlich. Anne konnte noch ein paar persönliche
Vergleiche zu ihrem eigenen Leben ziehen.
Sie erwähnte noch den Fiesling
J.R. aus der 1980er US-Serie Dallas
und dies sicher nicht schön ist, mit so einem Typen namensverwandt zu sein.
_________
Alleinsein
hat nichts damit zu tun, wie viele Menschen um dich herum sind.
(J.R.
Moehringer)
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