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Mittwoch, 30. November 2016

Zelda la Grange / Good Morning, Mr. Mandela (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Am Anfang fand ich die Lektüre richtig spannend. Bis zur Mitte des Buches konnte ich mein Interesse noch gut aufrechterhalten, doch dann ebbte es immer weiter ab. Mittlerweile denke ich, es wäre besser, eine echte Biografie zu Nelson Mandela zu lesen. Einerseits. Andererseits hat mich die Autorin Zelda la Grange im Zusammenhang mit Rassismus tief beeindruckt.

Was mir sehr gut gefallen hat, ist die Wertschätzung, die die Autorin allen Menschen entgegengebracht hat, wobei sie diesen Respekt und diese Wertschätzung auch erst hat lernen müssen. Und sie hat es gelernt, nicht durch Erziehung, sondern durch Nelson Mandela, der ihr diese Menschlichkeit vorlebte.
Präsident Mandela hat es geschafft, all meine Vorurteile gegenüber Schwarzen zu beseitigen. Er lag mir so sehr am Herzen, wie einem die eigenen alten Großeltern am Herzen liegen. (220)
Zelda la Grange ist eine Weiße, die 1970 geboren und in Südafrika unter dem Apartheid-Regime aufgewachsen ist. Die Weißen in Südafrika bezeichnet man als AfrikaanerInnen. Zelda la Grange hatte zuvor noch nie ihr anerzogenes Weltbild hinterfragt und wuchs mit vielen rassistischen Vorurteilen auf. Es war sehr interessant zu lesen, wie sie es schaffen konnte, politisch, sozial und gesellschaftlich ein anderer Mensch zu werden. Hierzu habe ich vor dieser Frau große Hochachtung.
Man lebt dieses Leben, ohne dass einem klar wird, dass es jenseits davon auch noch Leben gibt: Themen, Politik Weltgeschehen und Trends, die Einfluss auf die eigene Welt haben. Wenn man behaglich lebt, stellt man keine Fragen, ich hatte keinen Grund, in Frage zu stellen, was außerhalb unserer vier Wände vor sich ging. Kein Mensch wird als Rassist geboren. Man wird erst durch die Einflüsse um einen herum zum Rassisten. Und ich war mit dreizehn Jahren zur Rassistin geworden. Dieser Rechnung zur Folge hätte ich niemals zu der Assistentin werden dürfen, die dann am längsten für Nelson Mandela tätig geworden ist. Doch genau das geschah. (29)
Die junge Zelda la Grange wollte ursprünglich Schauspielerin werden, doch ihr Vater war dagegen, da die Schauspielerei keine sichere berufliche Aussicht darstellen würde. Und so ging Zelda auf’s College, um Sekretärin zu werden. Nach ihrer Ausbildung fand sie recht schnell eine Stelle. Sie nahm eine Tätigkeit als erste ministerielle Schreibkraft im Präsidentenamt auf. Bis sie schließlich erfuhr, dass sie für Schwarze arbeitete. Erst war sie Assistentin für eine Schwarze namens Mary Mxadama. 
Da ich noch nie zuvor für eine Schwarze gearbeitet habe, widerstrebte es mir, meine Deckung schon zu bald aufzugeben. Zwischen Schwarzen und Weißen herrschte eine Art oberflächliches Vertrauen. Wir wussten noch immer nicht, was wir voneinander zu erwarten hatten. Ich war bereit, für Mary zu arbeiten, doch an meinen politischen Überzeugungen hielt ich fest. Dass ich in diesem Amt arbeitete, hatte für mich rein pragmatische und finanzielle Gründe. (49)
Zelda blieb nicht lange Marys Assistentin, bis sie schließlich recht bald im Amt Nelson Mandela kennenlernte, der sich sehr schnell zu Zelda hingezogen fühlte und er sie zu seiner persönliche Assistentin machte. Für die junge Angestellte war dies eine große Herausforderung. Zelda war erst Anfang zwanzig.
Nelson Mandela, der wegen der Weißen siebenundzwanzig Jahre im Gefängnis saß, verspürte keinerlei Hass den Weißen gegenüber. Er konnte vergeben.
Welche Fehler ein Mensch auch begeht, wenn man selbst nicht gewillt ist zu vergeben, kann man nicht erwarten, dass einem auch einmal vergeben wird. (238)
Anfangs war dies für Zelda befremdlich, auch, als sie ihn ihr gegenüber respektvoll erlebte. Er sprach mit ihr in ihrer Muttersprache. Zelda war dies sehr peinlich.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil dieser gütig sprechende Mann mit den sanften Augen und der großzügigen Denkweise mit mir in meiner eigenen Sprache redete, nachdem „mein Volk“ ihn so viele Jahre ins Gefängnis gesteckt hatte. In diesem Augenblick bereute ich, in dem Referendum mit „Nein“ abgestimmt zu haben. (Hier ging es um das Abstimmen für oder gegen das Wahlrecht für Schwarze, Anm. der Rezensentin). Wie korrigiert man all die Vorurteile innerhalb von fünf Minuten? Auf einmal wollte ich mich entschuldigen. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, wie es wäre, siebenundzwanzig Jahre im Gefängnis zu sitzen, schließlich war ich noch nicht einmal siebenundzwanzig Jahre alt. Ich war erst dreiundzwanzig, wurde demnächst vierundzwanzig … und ein ganzes Leben im Gefängnis war einfach unvorstellbar. (53)
Mandela war ein so weiser Mann, immerzu demutsvoll Menschen gegenüber, auch Zelda gegenüber, die seine Angestellte war.
Dass Nelson Mandela sich mit einem auf Afrikaans unterhielt, war das Letzte, womit ein Afrikaaner gerechnet hätte. Die Sache wurde klar, als er mir viel später einmal erklärte: >>Wenn man mit einem Menschen redet, spricht man seinen Kopf an, aber wenn man in seiner Sprache mit ihm redet, spricht man zu seinem Herzen.<< (54)
1994 wurde Mandela nach der Amtseinführung Präsident, aber die politische Lage hatte sich noch immer nicht verändert. Vor allem einfache, schwarze Menschen waren weiterhin benachteiligt.

Mandela setzte sich auch für Schulen und Kindergärten ein. Bildung für alle sei ein Menschenrecht, da man nur mit Bildung die Armut bekämpfen könne. In Südafrika war der Schulbesuch für Schwarze verboten. Und außerdem für sie noch unbezahlbar.

Zeldas Aufgabengebiet wuchs immer mehr. Die Beziehung zwischen Mandela und ihr wurde immer vertraulicher. Sie schaffte es, durch Mandelas Vorbild, nicht durch Belehrung, sich von dem Rassenhass zu befreien. Mandela war die Zusammenarbeit mit Zelda sehr wichtig, um der Öffentlichkeit zu zeigen, dass Schwarz und Weiß sehr gut harmonieren können, soweit gegenseitiger Respekt und Achtung mit im Spiel sind.

Zelda begleitete Mandela zu allen Auslandsreisen. Selbst in islamische Länder, wo Frauen nochmals anders behandelt werden. Sie musste sich der Kleiderordnung fügen und verhüllte sich aus Respekt vor der muslimischen Kultur, blieb ihnen gegenüber aber auf Distanz.

Die Reise führte auch nach Israel, und sowohl Zelda als auch Mandela setzten sich mit dem Konflikt zwischen Israel und dem Palästina aus dem Jordanland auseinander und entwickelten dabei eine ziemlich neutrale Haltung und sind in der Lage, die politischen Schwächen beider Staaten zu sehen, die von einem Frieden noch weit entfernt seien.
1.Israel musste Palästina als ein unabhängiges Land anerkennen. 2. Palästina musste Israel innerhalb seiner klar definierten Grenzen anerkennen. 3. Die Parteien mussten einen Vermittler finden, dem beide Seiten vertrauen konnten. (196)
Zudem besuchten sie in Israel das Museum zur Geschichte des Holocausts. Mandela wurde von Journalisten befragt, was er von dem Museum halten würde und welche Stellung er zu dem Genozid den Juden gegenüber habe? Mandela gab eine perfekte Antwort. Mir hat sie gefallen, weshalb ich sie unbedingt festhalten möchte:
Hierbei handelt es sich um eine Tragödie, die dem jüdischen Volk widerfahren ist, doch man sollte niemals aus den Augen verlieren, dass diese Bürde auch vom deutschen Volk mitgetragen wird. Die gegenwärtige Generation an Deutschen leidet, um sich von dem Stigma zu befreien, mit dem sie aufgrund dieser Ereignisse behaftet sind und für die sie heutzutage nicht mehr selbst verantwortlich gemacht werden können. (Ebd)
Dies schien den Israelis nicht zu gefallen. Aus Zeldas Sicht:
Die Israelis schätzten diese Bemerkung nicht. Ich spürte Feindseligkeit, mir wurde unbehaglich zumute. (ebd)
Mandela war häufig unerwünschten Interviews ausgesetzt, musste immerzu penetrante Fragen von Journalisten beantworten.
>>Was sind Ihrer Meinung nach die Eigenschaften eines guten politischen Führers?<< beantwortete er mit: >>Ein Mensch, der seinem Volk dient.<< Und dann ging er ins Detail. >>Verspüren Sie keine Verbitterung oder kein Bedauern, so viel Zeit im Gefängnis verbracht zu haben?<< beantwortete er mit: >>Bedauern ist ein völlig sinnloses Gefühl, denn man kann nichts ändern. Ich habe die Entscheidung getroffen, die ich getroffen habe, weil sie zu dem Zeitpunkt meiner Seele zusagten.<< (215)
Wie lebt es sich denn als Weiße in Südafrika, frei von Rassismus und Vorurteilen? Welche Erfahrung hat Zelda gemacht?
Es ist etwas, das mir unerträglich wurde. Und nicht nur die Verwendung dieses Wortes, sondern auch die Verallgemeinerungen von Urteilen der Leute, was Schwarze betraf. Diese Verallgemeinerungen entbehrten jeder Grundlage und waren nicht zu rechtfertigen. Oft geriet ich mit Weißen in hitzige Debatten zum Thema Respekt. Schwarze wies ich auf Social-Media-Seiten auf das Gleiche hin, wenn Sie ebenfalls abfällige Begriffe zu Weißen benutzten, doch das konnte leicht außer Kontrolle geraten, da ich als Weiße für Aufruhr sorgte, indem ich Schwarze zurechtweisen wollte, was vom ursprünglichen Streitpunkt ablenkte. (229)
Dies alles fand ich sehr spannend. Aber später ließ mein Interesse nach. Ich glaube, das lag daran, dass vieles, was die Autorin über Mandela weiterhin berichtete, nicht wirklich wichtig war. Zu sehr detailliert, was das Alltägliche betrifft. Ich fing an, mich zu langweilen. Deshalb wäre ich bestrebt, eine echte Mandela-Biografie lesen zu wollen.


Mein Fazit?

Insgesamt fühle ich mich von dem Buch sehr bereichert. Mandela ist ein sehr demütiger und weiser Mensch gewesen.

Und die Autorin? Vor ihr habe ich ebenso viel Respekt. Die Wandlung, die sie innerhalb der zwanzig Dienstjahre mit Präsident Mandela vollzogen hat, ist mehr als vorbildlich, weshalb ich dem Buch neun von zehn Punkten vergebe. So viel Weisheit hat sie widergeben können, die ich unbedingt aufschreiben musste. Zelda la Grange habe ich hier als eine sehr sympathische, engagierte Frau erlebt, der es gelungen ist, Menschen, ganz gleich welcher ethnischer und kultureller Herkunft, mit Achtung zu begegnen. Ihr ist bewusst, dass sie diese Wesensveränderung auch Mandela zu verdanken habe, aber, aus meiner Sicht, auch in erster Linie sich selbst, da sie dazu auch bereit war, ihr Leben ohne Rassenhass und Vorurteile fortzusetzen.
Anlässlich des Mugabe-Interviews fühlte ich mich für diese Wahrnehmung, Nelson Mandela habe Weiße gut behandelt, irgendwie verantwortlich. Er hat mich tatsächlich gut behandelt, doch ich möchte glauben, dass er stolz darauf war, wie er dieses unbedeutende Leben veränderte. Des Öfteren sagte er, wenn man nur einen Menschen zum Besseren bekehre, habe man bereits seine Pflicht getan. (9)
Ein Buch, das Menschlichkeit vorlebt, und ich hoffe, mir ist es gelungen, etwas davon in meiner Buchbesprechung festzuhalten, für mich, um sie immer wieder nachlesen zu können und für andere, die in Sachen Menschenrechte nach Vorbilder suchen, oder anderweit interessiert sind. Politische Schlagzeilen kann man tagtäglich aus der Presse entnehmen, die oftmals sehr einseitig sind, da die Welt darin meist auch nur in gut- und böse-Bilder dargestellt wird.

Weitere Informationen zu dem Buch

Ich möchte mich recht herzlich für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar beim btb-Verlag, Randomhouse München, bedanken.

Und hier geht es per Mausklick auf die Verlagsseite.


€ 22,99 [D] inkl. MwSt.
€ 23,70 [A] | CHF 30,90* 

(* empf. VK-Preis) 
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-442-75607-0
Erschienen: 27.04.2015 
____
Ein Heiliger ist ein Sünder, der sich weiter bemüht.
(Nelson Mandela)

Gelesene Bücher 2016: 65
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Freitag, 11. November 2016

Hans von Dohnanyi / Mir hat Gott keinen Panzer ums Herz gegeben (1)

Verschwörer gegen Hitler

Briefe aus Militärgefängnis und Gestappohaft von 1943-1945


Eine Buchbesprecbung zur o. g. Lektüre

Diese vielen Briefe von Hans v. Dohnanyi stimmen recht betroffen. Sie sind sehr emotional an die Familie, aber ganz besonders an seine Frau Christine Bonhoeffer gerichtet. Vieles wiederholte sich immerzu, aber das war dem Schreiber selbst bewusst …
Und ich schreibe, schreibe immer dasselbe in  tausend Variationen, wie ich es in tausend Variationen immer wiederhole, wenn ich ruhelos auf- und ab wandere. (2016, 62)
Ich zitiere diese Textstelle, damit man von den vielen Wiederholungen im Buch nicht überrascht wird. Oftmals war es recht schwer, diese als Leserin auszuhalten. Manches Mal stand ich kurz vorm Abbrechen, obwohl mir schon bewusst ist, unter welchem enormen seelischen Druck sich dieser Mensch befand. Ohne die Liebe seiner Familie hätte Dohnanyi diese zwei Jahre Haft nicht überlebt, aber was brachte ihm das, wo er sowieso hingerichtet wurde. Dohnanyi hatte bis zum Schluss gehofft ... Zumindest hatte er in dieser Zeit seinen Verstand nicht verloren, und ihm wurde die Zeit durch diese vielen Briefe erträglich gemacht, trotz multipler, schwerer, körperlicher Erkrankungen, mit denen er zusätzlich zu kämpfen hatte.


Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Der Jurist Dohnanyi schloss sich bereits Ende der dreißiger Jahre Widerstandskreisen an. 1942 verhalf er einer Reihe von Juden, die als Agenten getarnt wurden, zur Flucht in die Schweiz, im März 1943 war er an einem Attentatsversuch gegen Hitler beteiligt, der jedoch fehlschlug. Im April 1943 wurde er wegen angeblicher Devisenvergehen im Zusammenhang mit der Fluchthilfe inhaftiert. Nach dem gescheiterten Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 flog seine Mitarbeit an den früheren Putschplänen auf. Am 9. April 1945 wurde er im KZ Sachsenhausen gehängt.
Die Sprache ist zudem oftmals verniedlicht und jede Menge Liebessülzen …
Die Briefe wurden alle zensiert, bevor Dohnanyis Familie sie zu lesen bekam. Politische Botschaften wurden von Hans und seiner Frau verschlüsselt kommuniziert.
Vor allem Hans von Dohnanyi übermittelte von nun an umfangreiche Botschaften, indem er in Büchern, die ihm seine Frau bringen durfte, auf jeder Seite jeweils einen Buchstaben oder eine kleine Buchstabengruppe durch einen darunter angebrachten feinen Bleistiftpunkt markierte. Die markierten Buchstaben ergaben, wenn zuerst die auf den geraden, dann die auf den ungeraden Seiten von hinten gelesen wurden, den Text der Nachricht. In diesen Nachrichten erwies sich Dohnanyi als der heimliche Regisseur des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens; denn er informierte nicht nur über den Inhalt seiner Vernehmung und ermöglichte damit den  Mitbeschuldigten die Abstimmung ihrer Aussagen, sondern gab auch präzise Anweisungen, welche Aussagen von welchen Zeugen nützlich seien und wie auf den Verlauf des Verfahren Einfluss genommen werden sollte. (124)
Dohnanyi war ein gläubiger Mensch, der durch die lebensbedrohlichen Umstände in der Gefängniszelle immer wieder zu hadern begann, allerdings ohne seinen Glauben tatsächlich verloren zu haben. Das geht aus einem Brief an seine Tochter Barbara hervor, als er von seinen Kindern einen schönen, bunten Frühlingsblumenstrauß geschickt bekommt. In einem Brief bekundet Dohnanyi seine Freude, wie sehr sich die Familie auf diese Jahreszeit immer wieder gefreut hat:
So haben wir uns auf diese Zeit gefreut! Du hast ganz recht. Aber siehst du, so wenig hat der Mensch sein Los in Händen! Und wir dürfen deswegen nicht anfangen, mit dem Schicksal zu hadern, wir müssen hinnehmen, wie es kommt. So schwer es uns auch fällt. (90)
Selbst seinen Humor hat Dohnanyi nicht verloren. Ich musste so schmunzeln, als er sich bei seiner Familie für das tolle Osterpaket bedankte. Denn schließlich könne man selbst in einem Pappkarton nach Ostereiern suchen ...

Obwohl Dohnanyi Grund gehabt hätte, an seiner prekären Lebenssituation zu verzweifeln, wirkten seine Briefe immer recht hoffnungsvoll, aber auch, weil er seine Frau, die selbst gesundheitlich angeschlagen war, zu schonen versuchte.

Auch die Briefe, die an seine drei Kinder gerichtet wurden, waren erfüllt mit vielen weisen Ratschlägen. Im Folgenden ein kleiner Briefausschnitt, der an Klaus Dohnanyi gerichtet ist:
Dass du Deinen Pflichten und Aufgaben in den Dir zumutbaren Rahmen gerecht wirst, bin ich sicher. Du liebst dein Vaterland ohne Frage und ohne viel davon reden zu machen, hast ein unverbundenes Ehrgefühl, stehst für das ein, was du für richtig erkannt hast, bist hilfsbereit und ein guter, zuverlässiger Kamerad. Bleibe dabei, auch wenn das Leben Dir deswegen Enttäuschung bringen sollte; es ist besser, sich den Glauben an das Gute im Menschen um den Preis solcher Enttäuschungen zu bewahren, als ein Menschenfeind zu werden. (142)
Dohnanyi war ein Vielleser. Kraft schöpfte er z. B. oft auch aus den Charles-Dickens-Büchern.
Ich habe einen schlechten Tag heute: Selbst Bleakhouse macht mich nicht besser. Dieser Dickens ist schon ein wunderbarer Seelenarzt. Warum haben wir ihn eigentlich nicht zusammen gelesen? (89)
Dohnanyi war Jurist von Beruf, ich gehe mal davon aus, dass er keine belletristischen Bücher gelesen hat.
Aus der seelischen Not heraus hat Dohnanyi gelernt, mehr auf seine innere Stimme zu hören und weniger auf seine Vernunft. Er rät seiner Schwester:
(…) vertraue nicht so sehr auf das Wissen, den Verstand und die Erfahrungen Deines Mannes (ich habe jetzt viel Zeit zum Nachdenken, kann dir sagen: Im entscheidenden Augenblick sind sie nichts wert) als auf Deine innere Stimme. (95)
Ein paar Zeilen sind diesbezüglich auch an den Gatten gerichtet:
Und Du lieber Freund, schlage in solchen Augenblicken der Gewissheit, wie Du handeln musst, nicht nur an deine Stirn mit Fragen um Rat - denn was könnte bei uns Männern dabei herauskommen als bestenfalls etwas „Vernünftiges“, sondern hole Dir deinen Rat bei der inneren Stimme Deiner Frau, die hoffentlich Deinen Verstand, Dein Wissen und Deine Erfahrungen nicht allzu hoch einschätzen wird   (glaube mir, wenn es darauf ankommt, sind sie wenig wert!) (ebd,)

Mein Fazit zu dem Buch?

Wie viel Glück wir doch haben, nicht in einer Zeit wie dem Nationalsozialismus geboren worden zu sein. Sich Fragen zu beantworten, wie hätte ich mich verhalten?, wäre recht müßig. Auf welche Seite würde man sich selbst stellen? In Anbetracht unserer momentanen politischen Lage durch den europaweiten Zuwachs von Rechtspopulismus kommen mir schon Zweifel auf, inwiefern der Mensch tatsächlich in der Lage ist, aus der Geschichte zu lernen. Muss man selbst durch eine Zeit wie diese gehen, um Recht und Unrecht am eigenen Leib erfahrbar zu machen?
Hans v. Dohnanyi hat eigentlich Deutschland geliebt, hat es als sein Vaterland betrachtet. Dazu die Sichtweise seines Sohnes Klaus:
Der Polizeiarzt Dr. Tietze, dem mein Vater in den letzten Tagen seines Lebens so vertrauensvolle Offenheit schenken konnte, hatte den Eindruck, dass es für Dohnanyi nur zwei Dinge gab: Seine Familie und das Vaterland. Das Vaterland hatte ihn eingesperrt und gelähmt; die Familie gab es nur noch über das Wort; aber das, was diesen bislang so aktiven Täter immer noch bewegte, über das durfte weder geschrieben noch gesprochen werden. (307)
Er wurde ohne gerichtliche Anhörung hingerichtet, und die Familie wurde nicht mal über seinen Tod benachrichtigt. Dohnanyis Frau Christine startete eine Suchaktion, bis sie ihn schließlich nach dem Ende des Krieges für tot erklärte.

Von einer Buchbewertung sehe ich aus Respekt gegenüber dem Autor und dessen Familie ab, da ich der Meinung bin, dass man solche Bücher mit diesem Hintergrund nicht bewerten sollte, ganz gleich, wie gut oder wie weniger gut sie geschrieben sind …


Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar beim DVA-Verlag bedanken.

Und hier geht es per Mausklick auf die Verlagsseite von DVA, Randomhouse München.

DVA-Verlag
€ 24,99 [D] inkl. MwSt.
€ 25,70 [A] | CHF 33,90* 

(* empf. VK-Preis) 
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-421-04711-3
Erschienen: 14.09.2015, 350 Seiten


______________
 Erinnerungen sind keine Abschnitte in Handbüchern …
(Bodo Kirchhoff)

Gelesene Bücher 2016: 62
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86




Samstag, 5. November 2016

Bodo Kirchhoff / Widerfahrnis (1)

Deutscher Buchpreis 2016

Mein erstes gelesenes Buch 
aus der diesjährigen Buchmesse ...

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Mir hat das Buch insgesamt recht gut gefallen. Ein paar Begebenheiten wirkten auf mich allerdings ein wenig realitätsfern.

Die literarische Sprache ist grandios. Ein wenig spielerisch und fantasievoll habe ich sie erlebt. Und jede Menge geistreiche Gedanken, die recht häufig auch in Metaphern verpackt wurden. Ich werde aber nicht auf alles eingehen.
 Der Buchtitel Widerfahrnis hat mich sehr nachdenklich gestimmt …  So richtig konnte ich nicht dahinterkommen, was er bedeuten könnte. Selbst die Figuren wissen nichts so recht damit anzufangen. Es muss etwas mit Widerstand zu tun haben. Schicksalsschläge, die sich ihnen gewaltvoll aufdrängen.
Was mir durch den Kopf geht - Widerfahrnis.  
Und warum gerade das?
Muss ich das wissen? Sie griff sich die Tasche und lief damit Richtung Bad; Reither zog sich an. Im Grunde hatte er´s geahnt, das Überrollende in dem Buch, schon als er von seiner zu ihrer Wohnung hinter ihr hergegangen war, über einen neuen Umschlag nachgedacht. Aber Widerfahrnis, das war mehr als die vergessene Heimsuchung - da muss man nur hinhören, muss nur hinsehen, dann ist es die Faust, die einen unvorbereitet trifft, mitten ins Herz, aber auch die Hand, die einen einfach an die Hand nimmt - ein Titel, den er wohl hätte gelten lassen. (2016, 159)

Die Novelle behandelt eine außergewöhnliche Geschichte zweier älterer Menschen, die ad hoc sich auf eine weite Reise nach Italien begeben, bis runter nach Sizilien. Doch bevor diese Reise losgeht, müssen die beiden ProtagonistInnen erstmal miteinander Bekanntschaft machen. Da ist der 64-jährige Julius Reither und Leonie Palm, die ein paar Jahre jünger als Reither zu sein scheint. Beide verbindet Gemeinsamkeiten, die der Leserin und den beiden ProtagonistInnen nach und nach erschlossen werden. Reither betrieb einen Verlag, den er schließen musste, und er daraufhin aufs Land nach Weissachtal gezogen ist. Er ist der Meinung, dass es mittlerweile mehr SchreiberInnen als LeserInnen geben würde, (2016, 10) … Palm besaß ein Hutgeschäft, das sie wegen mangelnder Nachfrage auch schließen musste. Leonie beklagt, dass es für ihre Hüte keine passenden Gesichter mehr gab. Für mich ist der Hut eine Metapher ... Hier gibt es eine Parallele zwischen Palm und Reither:
Leonie Palm (…) die mit ihrem Hutladen gescheitert ist an einem immer kopfloseren Publikum, er mit seinem Verlag, den es nicht mehr gab, so weggeschmolzen von der Abwärme des Banalen wie die letzten Gletscher mit all ihrer sperrigen Schönheit. (129)
Eines Tages steht Palm läutend vor Reithers Haustüre, mit der Absicht, ihn in ihre Lesegruppe, in der nicht nur gelesen, sondern auch geschrieben wird, einzuladen. Palm selbst habe ein Buch geschrieben, und sie suche einen versierten Leser und Kritiker, den sie in Reither sieht, der ihr Manuskript bewerten solle. Es hat ein wenig Zeit benötigt, bis Reither die Frau zu sich in die Wohnung bittet, wo er sie eigentlich höflich wieder loswerden wollte. Ich dachte erst, er würde sie vor der Haustüre stehen lassen, da er jemand ist, der eigentlich keine Kontakte sucht. Außerdem wirkt er auf mich eigenbrötlerisch, recht strukturiert, bemessen, selbst in seiner Körperhaltung drückt sich dies aus:
Alles an ihm ist zielgerichtet, der zu Boden gestreckte Arm, die im selben Winkel abwärtszeigende Zigarette, das von der Nase diktierte Profil unter noch dichtem Haar, der Blick auf das eigene Tun, mit dem Daumen etwas anzubringen an einem verrotteten Schild, das er als Umschlagmotiv gewählt hat und an das er noch letzte Hand anlegt, wie an jedes seiner Bücher in über dreißig Jahren, bis damit Schluss war.  (6)
Reither und Palm verbindet nicht nur das Geistige, nein, auch Banales verbindet sie. Sie sind beide richtige KettenraucherInnen. Diese Raucherei steht auch im Mittelpunkt dieser Erzählung.

Es wird viel geraucht und viel gelesen. Der Bücheraustausch ist sehr rege, der mir sehr gefallen hat …

Es stellt sich heraus, dass Leonie Palm über sich und ihre Tochter geschrieben hat, die sich das Leben genommen hat, indem sie sich nachts bei eisiger Kälte betrunken an einen Waldsee legte und erfroren ist. (Dieses Detail hatte ich erst vergessen, ist mir nun wieder eingefallen (…). Den Tod der Tochter versucht Leonie Palm literarisch zu verarbeiten, greift aber zu fiktiven Namen, doch Reither durchschaut sie recht schnell, ahnt, dass  die Geschichte das Schicksal Palms und deren Tochter barg. Erneut eine Erfahrung, die Palm mit Reither verbindet, denn auch Reither hätte Vater eines Mädchens sein können, hätten er und seine damalige Freundin das Kind gewollt. Aber es passte nicht in deren Lebensplanung.

Die trauernde Mutter Leonie, die sich körperlich so bewegte, als könnte der Körper jeden Moment zerfallen, als diese versuchte, gewisse Szenen ihrer Tochter im Wald nachzuspielen …  (Dieses Bild fand ich sehr stark).

In Reithers Wohnung liest Palm aus ihrem Manuskript …

Nicht selten sprechen sie auch über ihr Alter, in dem das Leben gleiche Formen annehmen würde, und kaum noch Unerwartetes auf sie zukommen würde. Leonie dagegen äußert, dass sie tot wären, würde nichts mehr Unerwartetes auf sie eindringen. Mir kommt besonders Reither so vor, als wäre sein Leben schon abgeschlossen, bietet nichts Neues. Selbst für das Reisen scheint die Neugier versiegt zu sein, denn wohin soll man fahren, wenn man alles Schöne gesehen hat? (23)
Ich frage mich, wie man in dem kurzen Menschenleben alles in der Welt schon gesehen haben kann?
Leonie hatte ein „komplettes Leben“, Haus, Mann, Kind, Hutladen, bis sie alles nach und nach verloren hat …

Leonie macht den Vorschlag, mitten in der Nacht an den See zu fahren, aber sie landen über Österreich in Italien. Unterwegs bekommen sie viele Flüchtlinge zu sehen ... Kirchhoff bearbeitet neben der Liebesgeschichte auch die Flüchtlingsproblematik Italiens …

Unten in Sizilien lernen sie ein Flüchtlingskind kennen im roten zerfetzten Kleid. Es ist eigentlich kein Kind mehr, sondern eine Jugendliche, die schon Zigaretten konsumiert. Das Mädchen bettelt auf ihre geschickte und gekonnte Art um Geld. Sie bietet als Gegenleistung ihren wertlosen Halsschmuck als Ware an ... Reither und Palm nehmen sich ihrer mit all den Risiken an, begeben sich in eine überaus großzügige Geberrolle. Vor allem Palm empfindet dem Mädchen gegenüber Muttergefühle, Reither, der kritischere Part, passt sich ihr eher an ... 

Ich möchte nicht alles verraten. Zwischen Palm und Reither geht es weiterhin nüchtern zu, sodass man die Liebesbeziehung in dem Paar erst suchen muss. Sehr kopflastig alles, recht gefühlsarm ...  Erst am Schluss kommt es auf der Gefühlsebene zu einer Wende. Der Schluss hat mir fast am besten gefallen, weil er viel authentischer als der ganze Rest der Erzählung ist.


Mein Fazit?

Das Ende hat mir deshalb gut gefallen, weil Reithers Seele als Mensch hier gut zur Geltung kommt. Dies hätte längst geschehen müssen.

Allerdings waren mir viele Szenen nicht wirklich authentisch. Dass ein so kopfdominierter Mensch, wie Reither es ist, sich auf eine spontane Reise mit einer wildfremden Frau begibt, ist mir nicht glaubwürdig genug. Die gesamte Beziehungsdynamik ging mir viel zu schnell. 
Und den Umgang mit dem Flüchtlingsmädchen finde ich arg naiv. Vielleicht muss man diese altruistische Verhaltensweise psychoanalytisch betrachten, um sie aus meiner Sicht besser verstehen zu können. 
Gefallen hat mir die Vergangenheitsbewältigung der beiden Menschen ...

Reither verarbeitet in dieser Lebensphase, in der er sich befindet, mit Leonie Palm das Älterwerden, denkt als 64-Jähriger an die Zeit zurück, in der er Vater hätte werden können, riet aber der damaligen Freundin zu einer Abtreibung, die Freundin stimmte der Abtreibung zu. Weil das Kind nicht in deren beider Lebensplanung passen würde. Reither hat gegenwärtig Angst, mit der Abtreibung eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Es wäre ein Mädchen geworden ... Außerdem spüre ich diese Angst, Chancen in seinem Leben vertan zu haben. Die Chance, ein Kind zu haben, die Chance, Vater zu sein. Das ist nun aus und vorbei, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Und Leonie Palm ist auch geprägt. Wie oben schon gesagt, hatte sie eine Tochter, die nicht weiter bei der Mutter leben wollte, verlässt sie und suizidiert sich. Ich sehe dazu Projektionen gegenüber dem Flüchtlingskind mit dem roten Kleid. Sowohl Reither als auch Palm sprechen von ihren Mädchen. Das eine Mädchen wurde abgetrieben, das andere schied aus der Welt durch Freitod, und so tragen beide ein gemeinsames Schicksal, ihre Mädchen verloren zu haben. Durch das Flüchtlingsmädchen werden sie erneut und sehr massiv an diese Verluste erinnert ... Auf mich wirkt es wie ein Wiedergutmachungsversuch an dem Flüchtlingsmädchen, um sich mit dem Schicksal der eigenen verlorenen Mädchen auszusöhnen … Oder aber gelten diese Szenen als eine sozial/politische Auseinandersetzung? Vielleicht sogar beides ... 

Schön fand ich den Gedanken Reithers, als es um die Herkunft eines Afrikaners ging, und er sich fragte, aus welchem Land dieser kommen würde:
Der Afrikaner, oder woher sollte er sonst kommen - aus der Wiege der Menschheit ...
Gerade im Hinblick des Rassismus, der zurzeit durch die vielen Flüchtlingsströme in ganz Europa grassiert, Deutschland nicht ausgenommen, passt dieses Zitat wie angegossen.


Nachtrag:

Einem Preisträger zu widersprechen fällt mir schwer ...

Ehrlich gesagt, ich habe mich schon gefragt, was denn jetzt zu diesem Buchpreis geführt hat? Ist das die Flüchtlingsthematik gewesen, die doch recht einseitig in schwarz und weiß-Facetten behandelt wurde? Oder die Beziehung zwischen Reither und Palm? Oder das ganze Buch an sich?

Stehen Reither und Palm als die Stellvertreter der Deutschen, die als die besseren Menschen dargestellt werden, weil sie alles geben, um das Kind zu retten, während die ItalienerInnen hierbei recht schlecht abscheiden, als ein Gastronom in Sizilien, der die Polizei ruft, um das bettelnde Kind abführen zu lassen. Ist das hier nicht auf beiden Seiten ein bisschen zu stereotypisch, indem die/der Deutsche immer wieder in die Geber- und in die Retterrolle abtriften, während der  herzlose Italiener sogar Kinder einbuchten lässt. Für mich schon. 

Im Folgenden füge ich hier einen Link ein, den ich durch Anne-Marit durchbekommen habe. Ein recht kritischer und interessanter Artikel zum Buch und zum Buchpreis aus der Sicht des Bayrischen Rundfunks. Der Artikel bezieht sich auch auf den Buchtitel "Widerfahrnis". Des Weiteren ist noch ein Video hinterlegt.

Auch wenn in der Novelle nicht explizit steht, dass die ItalienerInnen die schlechteren und die Deutschen die besseren Menschen sind, verleitet die Erzählung durch die verschiedenen Handlungen dazu, solche Gedanken zu entwickeln. Im Forum sprach ich von professionellen, organisierten Kinder-Bettlerbanden aus den Süd-Ost-Europäischen Ländern aber von dem Gedanken bin ich wieder abgekommen, denn später wurde deutlich, welcher Herkunft das Mädchen ist. Und selbst die Theorie, dass der Gastronom deshalb die Polizei gerufen hat, weil er sich vor den Bettlerbanden schützen müsse, ist auch nur eine Interpretation, steht nirgends, lässt sich auch nicht an gewissen Textstellen ableiten, weshalb ich von dieser Theorie wieder abgekommen bin.

Um dies an verschiedenen Handlungen festzumachen, ist es Reither, der dem Mädchen seine letzten Münzen vergibt, weil er, was Bares betrifft, nur noch über einen zwanzig Euro Schein verfügt, so ist es Palm, die ihn dazu bringt, das Letzte, was er hat, herzugeben.
Später laden sie das Mädchen zur Übernachtung in ihr Hotelzimmer ein, da ist Palm völlig selbstlos, während Reither Befürchtungen hegt, in der Nacht von dem Mädchen ausgeraubt zu werden, aber Palm gibt nicht nach. Am nächsten Morgen gehen sie zu dritt shoppen, und das Mädchen wird komplett neu eingekleidet. Zwischen Palm und Reither entstehen Gefühle einer Kleinfamilie ... Als schließlich Palm Reither dazu bringt, das Mädchen mit ins Auto zu nehmen, mit der Absicht, ihr in Deutschland ein sicheres Leben zu ermöglich. Auch hier ist es wieder Reither, der kritisch ist und macht auf die möglichen Gefahren aufmerksam, die mit der Rechtslage der Flüchtlinge zu tun haben könnten. Doch Palm ist bereit, dieses Risiko einzugehen, während Reither sich ihr fügt, bis schließlich die Situation aus den Fugen gerät ...

Also, noch selbstloser kann man gar nicht mehr sein. Deswegen kommt hier der gute, deutsche Mensch sehr stark zur Geltung. Allerdings tendiere ich doch mehr zu der psychoanalytischen Sichtweise, dass das Mädchen, das Kind, als Substitut für das eigene, verlorene Mädchen steht, s. oben ...

Außerdem, besteht in der deutschen Gesellschaft die weit verbreitete Theorie, dass Deutschland das Sozialamt der ganzen Welt sei. Und die Theorie, dass in Deutschland lebende AusländerInnen deutsches Geld (deutschen Euro) erhalten würden, und reisen die Deutschen dagegen ins südliche Ausland, dann lassen sie dort ihre deutschen Euros, weshalb ich vielleicht durch diese in der Gesellschaft weit verbreiteten naiven Theorien überaus sensibel reagiere. Der Deutsche, der immer gibt, der Ausländer, der nur die Hand aufhält ...

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Acht von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich beim Forumsbetreiber Watchareadin für dieses zur Verfügung gestellte Leseexemplar bedanken, der von dem Verlag Frankfurter Verlagsanstalt für die UserInnen dieser Plattform Rezensionsexemplare zugestellt bekommen hat.

Es fand eine rege Diskussion in der Leserunde statt. Hier geht es per Mausklick auf die Leserunde.

Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt (1. September 2016)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3627002288

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Erinnerungen sind keine Abschnitte in Handbüchern …
(Bodo Kirchhoff)

Gelesene Bücher 2016: 60
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86




Dienstag, 1. November 2016

Bodo Kirchhoff / Widerfahrnis

Deutscher Buchpreis 2016


Klappentext
Reither, bis vor kurzem Verleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist ...

Autorenporträt
Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Zuletzt erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt seine von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romane Verlangen und Melancholie (2014) sowie Die Liebe in groben Zügen (2012). Seine Novelle Widerfahrnis (1. September 2016) ist für den Deutschen Buchpreis 2016 nominiert. Mehr Informationen zu Leben und Werk finden Sie auf der Webseite des Autors.

Weitere Informationen zu dem Buch

Eine Novelle
Schön gebunden
Farbiges Vorsatzpapier

1. September 2016
€ 21,- (D)
224 Seiten
978-3-627-00228-2

Und hier geht es per Mausklick auf die Verlagsseite der Frankfurter Verlagsanstalt. 

Dieses Buch lesen wir gerade in der Leserunde vom Bücherforum Watchareadin, von dem wir dieses Rezensionsexemplar zugeschickt bekommen haben ... 
Ich selbst bin eher eine stille Leserin, hebe gerne meine Leseeindrücke bis zum Schluss auf, möchte demnach auch gar nicht zu viel lesen, was andere darüber geschrieben haben. Aber vorab sei schon mal gesagt, dass mir diese Novelle sehr, sehr gut gefällt. Ich hatte eher mit einem ziemlich trockenen Stoff gerechnet, nach dem, was meine Vorredner im Forum berichtet haben. Nein, es ist nicht trocken. Viele schöne geistreiche Gedanken, auch fantasievoll und man nimmt an einer Liebesgeschichte zweier älterer Menschen teil, die anders leben als der Durchschnitt unserer Gesellschaft. Aber die Mehrheit der Gruppe findet das Buch sehr gut. 

Ich glaube, dass der Protagonist Julius Reither Bodo Kirchhoff selber ist. Hat zumindest viele Ähnlichkeiten mit ihm ... 

In meinem Buch habe ich wieder jede Menge Zettelchen haften, hoffentlich verliere ich den Überblick nicht ... 

Alles Weitere folgt in der Buchbesprechung. 



Sonntag, 30. Oktober 2016

Emanuel Bergmann / Der Trick (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich habe das Buch soeben beendet und ich bin ganz angetan davon. Ich habe gelesen, dass dieses Buch Bergmanns Debüt ist. Wahnsinnig gut gelungen. Von der ersten bis zur letzten Seite war das Buch mit Spannung erfüllt. Allerdings keine Spannung in Form von Action und Sensationsgier. Das Buch besitzt eine gewisse Tragik aber nicht durch die gesamte Handlung hindurch. Und viel Weisheit findet man darin. Zudem ist es noch ein Buch über Freundschaft. Der Autor hält mehrere Fäden in der Hand, und bewegt sie, ohne einen zu verlieren. Diese Art zu schreiben hat mich sehr tief berührt.

Man bekommt es hier im Wechsel mit zwei verschiedenen Perspektiven zu tun, Perspektiven aus unterschiedlichen Epochen und mit unterschiedlichen Figuren. Aber die Figuren begegnen sich irgendwann in der Gegenwart, die beiden Perspektiven bleiben bis zum Schluss dennoch weiterhin bestehen. Dieser Stil hat etwas Verspieltes und der immerwährende Wechsel von der einen in die andere Geschichte fordert ein wenig Kopfakrobatik  ...

Ich werde etwas um den heißen Brei reden …

Schon der Buchtitel Der Trick scheint auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches zu sein, und man glaubt, es geht nur um getrickste, banale Zirkuszauberei. Ja, dies schon, aber nicht nur. Hinter dem Titel steckt etwas ganz Anderes ... Das fand ich grandios …

Die tschechische jüdische Halbwaise Mosche Goldenhirsch, Künstlername Zabbatini, verlässt 1934 mit 15 Jahren seinen Vater namens Laibl, um in einen Zirkus einzutreten. Die Jahreszahl 1934 sagt schon aus, in welchen politischen Umbrüchen Europa sich befindet, hauptsächlich in Deutschland, und dies tiefen Einfluss auch auf Tschechien haben wird …
Mosche hatte außerdem die Nase von seinem Vater voll, der immerzu auf ihn eindrosch, wenn er nicht die Leistung erbracht hatte, die der strenge Vater von seinem Sohn eingefordert hat. Der Vater hatte als Rabbiner unter den Juden eine hohe Stellung inne, weshalb der Gelehrte sich so streng seinem Sohn gegenüber verhielt.
Laibls Lebensphilosophie ist:
Allein schon da zu sein, allein schon zu leben, (…) ist ein Gebet. (2016, 7.)
Mosche wird von Kröger, der Chef des Zirkus‘, Künstlername Halbmondmann, sofort angenommen. Mosche betont aber, dass er Jude sei, daraufhin die abwehrende Reaktion des Chefs:
„Erspar‘s mir. Wir sind beim Zirkus. Wir sind alle gleich“. Das hatte Mosche noch nie zuvor gehört. „Echt?“
Im Theater“, erwiderte Kröger, „ist jeder ein Edelmann, wir sind Künstler, und es gibt nichts Edleres als die Kunst.“ (138)
Nach der Probephase erkennt Kröger in dem Jungen eine gewisse Begabung. Und so wird Mosche in die Kunst des Magiers eingeführt und erhält den iranischen Künstlernamen Zabbatini. Mosche schlüpft in eine neue Identität und deckt sich mit viel Wissen über die iranische Lebensweise ein. Der Name Mosche Goldenhirsch ist somit abgeschrieben.
Mosche wird in die Lebensphilosophie der Magier und Zauberer eingeweiht.
… >>Denn wir sind die Nachkommen der Hohepriester von Persepolis. (…) Wir sind ihre Nachkommen, zumindest im Geiste. Wir sind die Sprecher der Götter und die Hüter einer zeitlosen Wahrheit.<<
>>Ja<<, sagte Mosche aufgeregt. >>Was für eine Wahrheit?<<
>>Die Wahrheit der Lügen.<<
>>Wie können Lügen wahr sein?<<
>>Wie nicht? Menschen sind begierig darauf, getäuscht zu werden. Sie wollen an etwas Größeres glauben. Wir aber geben ihnen etwas Kleineres, nur deshalb kommen sie. Die Magie ist eine wunderschöne Lüge.<< (158)
Im Zirkus bekommt Mosche die Rolle eines Clowns und hat dadurch selbst den SA-Männern gegenüber Narrenfreiheiten, da niemand von ihnen hinter der Maske einen Juden vermutet hat. Mosche nutzt seine Gunst, sich für das Leid, das sie den Juden zufügen, zu rächen. Er zieht einen SA-Mann an sich heran, und flüstert ihm ins Ohr, dass er, der SA-Mann, dieses Jahr sterben werde.
Er, Mosche Goldenhirsch, hatte die SA in Angst und Schrecken versetzt! (183)
Mosche verliebt sich heimlich in die Artistin Julia. Nur durfte der Chef nicht hinter diese Liebelei kommen … Aber er kam dahinter … Nun geschieht ein großes Szenario, das immense Auswirkungen für alle Beteiligten nach sich zieht …

Julia und Zabbatini gehen nun eigene Wege, nachdem der Zirkus durch tragische Umstände abgefackelt war.
Mosche macht sich auch ohne den Zirkus einen Namen als der große Zauberer Zabbatini.

Mosches Ruf wird bekannt. Nicht nur SA-Männer suchen seinen Rat. Auch Hitler wendet sich an ihn mit der Frage, ob die Juden die Nation in den Krieg treiben würden?

Dazu Zabbatini: 
Sie werden einen großen Frieden bringen. Einen Frieden, wie die Welt ihn noch nie gesehen hat. Ihr Name wird niemals in Vergessenheit geraten, mein Führer. (284)
Hitler war ganz gerührt und bot Zabbatini daraufhin an, ihn mit Adolf anzusprechen.

Leider hat Mosche als Zabbatini gewisse Risiken nicht bedacht, und es ist das eingetroffen, was ich befürchtet habe ...

Zabbatini, der Zauberer, der mit seiner Kunst sogar die Nazis täuschte ... Ich ahnte schon, dass ein Ereignis kommen musste, wie es gekommen ist. Grausam. Es konnte gar nicht anders kommen. Warum war Mosche nur so naiv? Wieso fehlte ihm dieser klitzekleine Weitblick? ...

In der zweiten Epoche, 2007, wird das Leben des zehnjährigen Max‘ erzählt, der auch aus einer jüdischen Familie väterlicherseits stammt. Seine Großmutter hat durch ganz besondere Umstände und durch besondere Menschen den Holocaust knapp überlebt ...

Permanent versucht sie über diese schreckliche Zeit mit ihrer Familie zu reden, doch niemand hat wirklich ein Ohr für sie, auch, weil sie immer und immer wieder dasselbe erzählen würde ...

Max‘ Eltern möchten sich scheiden lassen, und der Junge leidet fürchterlich darunter. Als der Vater schließlich auszieht, ist Max ganz außer sich. Während des Umzugs findet er unter den Musikplatten seines Vaters eine Platte, die aus dem Rahmen fällt. Max kann eigentlich mit Platten gar nix anfangen, aber der Titel stimmt ihn neugierig. Auf der Platte steht der Name des großen Zauberers Zabbatini. Max fragt seinen Vater, ob er die Platte haben könne. Der Vater schenkte sie ihm. Max zieht los, um den Plattenspieler in der Abstellkammer zu suchen.

Auf der Platte geht es um die Liebe, wie diese, die gefährdet ist, mit Zauberei wieder zu kitten ist …
Max ist von der Platte völlig hingerissen, die allerdings gerade dort einen Sprung aufweist, als es um diesen Liebeszauberspruch ging. Nun konnte Max nichts mit der Platte anfangen und begibt sich auf die Suche nach dem großen Zabbatini, da nur Zabbatini es schaffen könne, mit diesem Liebeszauber seine Eltern wieder zusammenzuführen …

In der Gegenwart nun angekommen, versucht auch Mosche mit jungen Leuten über seine Erfahrungen mit den Nazis zu sprechen. Schließlich zählt auch er zu den Überlebenden des Holocausts und musste schwere körperliche Züchtigungen über sich ergehen lassen.
„Fick dich!“, schallte eine Stimme entgegen. Zabbatini fühlte sich, als hätte ihn jemand geohrfeigt. Die jungen Leute starrten ihn alle voller Ekel und Verachtung an. Er schämte sich. Er war nicht wie die anderen. Seine Erfahrungen, im Krieg und auch davor, machten ihn zu einem Ausgestoßenen. In der großen Menschenfamilie war kein Platz für ihn. (313)
Mich hat diese Textstelle recht betroffen gestimmt. …
Auch andere Textstellen stimmten mich nachdenklich, wie z. B. dass es verboten war, Jude zu sein. Dies zumindest erkennt der kleine Max, als er schließlich durch einen anderen Menschen erfährt, welches Leid dieser und seine Großmutter als Juden widerfahren ist …

Wie es nun weitergeht und ob Max den Magier findet, bzw. ob er es schafft, seine Eltern zusammenzuführen, überlasse ich den LeserInnen selbst, es mit Hilfe der Lektüre herauszufinden.


Mein Fazit?

Zu gegebener Zeit möchte ich dieses Buch ein weiteres Mal lesen. Diese vielen Facetten möchte ich nochmals erleben und ein weiteres Mal auf mich einwirken lassen.

Mich hat recht traurig gestimmt, wie sehr diese Menschen wie Mosche und Max‘ Großmutter mit ihrer Geschichte alleingelassen sind. Schwerst traumatisierte Menschen, die selbst nach dem Zweiten Weltkrieg noch mit ihrem Schicksal allein gelassen wurden. Es gab zwar schon Psychotherapien, aber die waren zu dieser Zeit nicht verbreitet. Da musste jeder zusehen, wie er mit dieser Last weiterleben konnte
Erst später, zum Ende der Geschichte hin, wird Max‘ Vater zum ersten Mal bewusst, dass er, sein Sohn Max und weitere fünf Verwandte gar nicht am Leben wären, hätte seine Mutter den Holocaust nicht überlebt. Ein wenig absurd, dass nicht vorher genau hingeschaut wurde. Lernt ein Mensch immer erst, wenn das Schicksal ihn dazu zwingt?

Ich wünsche mir sehr, dass dieses Buch viele Menschen erreichen wird. Lesen wir nur aus Vergnügen, oder auch, um über bestimmte Ereignisse, mit denen sich unsere AutorInnen auseinandersetzen, zu sensibilisieren?
Bei mir ist auf jeden Fall beides der Fall …

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Zehn von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar beim Diogenes-Bücherverlag bedanken.

Hardcover Leinen 
400 Seiten 
erschienen am 01. März 2016 

ISBN: 978-3-257-06955-6 
€ (D) 22.00 / sFr 30.00* / € (A) 22.70 
 

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Im Tod sind wir alle gleich, egal, ob Prinz oder Bettler.
(E. Bergmann)

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