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Samstag, 26. Mai 2012

Hans Fallada / Bei uns daheim 4


Verlag: Aufbau Tb 2011
Seitenzahl: 383
9,99 €
ISBN-10: 3746627893

Ich bin nun um einige Seiten weiter gekommen. Mir ist die Fallada Familie total sympathisch, und ganz besonders die Eltern.

Nur eines konnte ich nicht nachvollziehen, dass den Kindern verboten wurde, Karl May zu lesen, wo doch dieses Buch mit eines der wenigen ist, in dem die Indianer mal nicht die Bösen sind, sondern diesmal sind es die Weißen. Leider gehen aus dem Buch die Beweggründe dieses Verbots nicht hervor und so kann ich sie nur vermuten.

Hans Fallada berichtet von der Italienreise, die die Eltern ohne die Kinder unternommen hatten. Die Kinder wurden von einer Bekannten betreut, namens Tatie, die allerdings über keinerlei Durchsetzungsvermögen besaß, und sich die Kinder wie Wilde betrugen. Das ist das erste Mal gewesen, wo die Eltern ohne die Kinder verreisten und es war auch das letzte Mal. Doch erst im erwachsenem Alter wusste Hans Fallada den Charakter jener fremden Tante sehr zu schätzen, als sie verstorben war:

Aber, Tatie, ich muss dich loben: trotz all der Qualen und Ängste, die du durch uns ausstandest, hast du uns nicht bei den Eltern verpetztt. Du hast sie nicht zu Hilfe gerufen, du wolltest es durchhalten. Und wenn die Eltern doch überraschend und sehr viel früher als erwartet aus Italien zurückkamen, herbeigerufen von Unter oder Oberbewohnern, die den Tumult nicht mehr ertragen konnten, du hast uns in Schutz genommen und alles geschehene Unheil nur deinem völligen Mangel an Fähigkeit, mit Kindern umzugehen, zugeschrieben. Du hast es erreicht, dass keinerlei peinliche Fragen an uns gestellt, kein strenges Strafgericht abgehalten wurde.

Auch wenn diese Szene für den einen oder anderen recht banal erscheint, mir hat sie total gut gefallen, denn Banalitäten prägen die Welt. Mir hat Tatie sehr gut getan über sie zu lesen, dass sie doch an das Gute dieser Kinder zu glauben wusste und sie frei von der Gier und Lust war, den Eltern unbedingt von den Untaten berichten zu müssen. Auch wenn Tatie diese Fallada Lobrede nicht mehr erfahren konnte, so bin ich doch sicher, dass sie mit ihrem Verhalten einen Abdruck in der Welt zurückgelassen hat. Und in der Seele der Kinder bleibt dieser Abdruck ebenso zurück. Und das ist das Wesentliche.

Ich komme wieder auf das Sparverhalten der Fallada Eltern zurück, die nicht aus der Habsucht heraus sparsam lebten:

Wer es nicht selbst miterlebt hat, kann es sich gar nicht vorstellen, mit welcher Intensität die Generation um die Jahrhundertwende sparte. Das war nicht etwa Geiz, sondern eine tiefe Achtung vor dem Geld. Geld für Arbeit, oft sehr schwere Arbeit, oft sehr schlecht bezahlte Arbeit, und es war darum sündlich und verächtlich, mit Geld schlecht umzugehen. Auch Vater war gar nicht geizig, ich habe es später oft erfahren, wie großzügig er war, wenn eines seiner Kinder Geld brauchte, wie glücklich er dann war, seine sauer ersparten Hunderte oder gar Tausende einem von uns zu schenken. Aber derselbe Vater konnte sehr, sehr ärgerlich werden, wenn er die Seife im Badezimmer schwimmend fand, so dass sie aufweichte und sich zu rasch verbrauchte. Beim Händewaschen hatte er einen besonderen Trick, die Seife fast trocken zwischen den Händen nur durch rutschen zu lassen, das sparte! (…) So war mein Vater von hundert Ideen, die Ausgaben einzuschränken, und ich muss gestehen, dass keine einzige dieser Sparmaßnahmen die Behaglichkeit des Hauses verminderte oder den Gedanken an Mangel aufkommen ließ (natürlich abgesehen von meinen geflickten Hosen ).

Es folgt nun eine Szene, die mich so sehr amüsierte, dass ich nur schwer aus dem Lachen wieder herausgekommen bin. Die Familie befindet sich im Zug auf dem Weg in den Sommerurlaub. Der Zug war ein ganz gewöhnlicher Personenzug. Als ein D-Zug an ihnen vorbeirauschte, waren die Buben von dem D-Zug völlig angetan. Hans fragte seinen Vater, weshalb sie nicht mit einem D - Zug in den Urlaub fahren würden, so kam folgende Antwort:

"Aber warum denn, mein Sohn? Du sitzt hier wie dort auf Holz, aber du musst es teurer bezahlen und hast weniger davon, denn Du bist drei Stunden eher am Ziel. Warum sollen wir der Eisenbahn drei Stunden schenken?"  

Aus dieser Perspektive habe ich das Fahren mit dem Personenzug noch gar nicht gesehen. Vater Fallada würde heute wahrscheinlich in keine ICEs einsteigen, *grins*.

Hans Fallada war ein hellblondes lockiges Kind, das sein Haar nur wegen der Locken schulterlang tragen musste. Hans war es leid und bettelte bei der Mutter, sich die Haare doch abschneiden lassen zu dürfen, damit er endlich wie ein richtiger Junge aussehen könne. Die Mutter lehnte ab.
Doch eines Sommers, als sich die Familie auf eine Reise vorbereitete und sie zu sehr damit beschäftigt war, ging Fallada alleine zum Friseur, bei dem er sich das Prachtexemplar an Haar und Locken komplett abrasieren ließ. Ganz zum Erstaunen der Eltern:

Mutter mochte ihre Augen noch so sehr reiben. Das Gespenst blieb. Da begriff sie, was geschehen war, sie brach in Tränen aus und rief: "Junge, Junge, was hast du da nur wieder gemacht! Deine schönen Haare! Wie siehst du aus?! Was hast du nur für die Ohren?! Du siehst ja richtig wie ein Topf mit zwei Henkeln aus!

Richtig verletzt darüber zeigte sich noch mehr der Vater von Hans, der in einen Zornesausbruch geriet, als er den kurzgeschorenen Sohn erblickte.

Bei dieser besonderen Gelegenheit, so muss ich sagen, hat mich mein sanfter Vater sehr enttäuscht. Sein Zorn über den Lockenraub schien ihm in keinem Verhältnis zu stehen zu der Größe meines Vergehens. Er behauptete, ich sehe schändlich aus wie ein Zuchthäusler! Nur Zuchthäusler hätten so kahl geschorene Köpfe!! Kein Mensch könne sich mit mir auf der Straße sehen lassen!!! Vor Verwandten und Bekannten müsse ich versteckt werden! Und was die Fahrt in die Sommerfrische angehe, so weigere er sich, mit mir im gleichen Abteil zu fahren! Mutter könne tun, was sie wolle, aber er, setze sich nicht mit ein Zuchthäusler auf die gleiche Bank!! (…)
Wenn ich mir heute diesen sonst ganz unverständlichen Zorn meines Vaters überlege, glaube ich, dies Wort > Zuchthäusler < gibt einen Schlüssel zur Erklärung. Mein Vater war Jurist, er war Richter, er war Strafrichter, und so den von ihm so schwer empfundenem Pflichten eines Richters gehörte es, Todesurteile zu verhängen. (…) Aber mein Vater hatte nicht nur Todesurteile zu fällen, sondern er hatte ihnen auch, wie ich glaube, nach dem Brauch damaliger Zeit gelegentlich beizuwohnen. Welche Qual das für diesen zarten überempfindlichen Menschen gewesen sein muss! Aber so zart er war, so mutig war er auch: er dachte nie daran, sich dieser Folge eines Urteils zu entziehen. Doch hat er bei diesen Gelegenheiten und Zuchthäusler in den abschreckenden Situation gesehen, und das Zeichen des Zuchthäusler war eben der kahl geschorene Kopf!

Auch wenn Hans Fallada ein wenig anderer Meinung ist, so glaube ich doch als neutrale Beobachterin, dass der Vater, der nicht so gerne Todesurteile fällte und unbewusst auch sehr darunter litt, erschrak bei dem Anblick seines Sohnes, indem er den rasierten Kopf automatisch mit einem zum todeverurteilten Sträfling assoziierte. Hans Fallada allerdings ist eher der Meinung, dass der Zornesausbruch aus purer törichter Vatereitelkeit herrührte.
__________________
"Die rechte Vernunft kommt aus dem Herzen ." (T. Fontane)

UB:
Dickens: Schwere Zeiten
Fallada: Damals bei uns daheim
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Proust: Sodom und Gomorrha
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

Gelesene Bücher 2012: 35

Hans Fallada / Damals bei uns daheim 3



Verlag: Aufbau Tb 2011
Seitenzahl: 383
9,99 €
ISBN-10: 3746627893

 Fallada besuchte ein humanistisches Gymnasium und hatte auch in der Schule so manche Schwierigkeiten, allerdings nicht im intellektuellen Bereich, sondern im Sozialverhalten durch andere. Seine Mutter war sehr sparsam, Kleider, die schon längst abgenutzt und löchrig waren, versetzte sie diese immer wieder mit Flicken und die Flicken entsprachen nicht immer der Farbe des Kleidungsstücks. Dadurch wurde Fallada in der Schule gehänselt, hauptsächlich von Jungens, die schlecht lernten und recht auffällig waren. Fallada beschwerte sich bei der Mutter, dass er die geflickten Kleider nicht mehr tragen wolle, doch die Mutter zeigte keinerlei Verständnis, und wies dies als eine vorübergehende Jungenlaune ab und dass Hans keinen Spaß verstehen würde. Fallada argumentierte, dass man ihn nicht auf eine so feine Schule schicken solle, wenn man ihn nicht auch angemessen kleiden könne und er zum Gespött seiner Mitschüler würde… .

Auch mit dem Latein und Griechischprofessor Olearius hatte Fallada seine Probleme, da der Lehrer jeden Schüler verachtete, der seinen Lehren nicht nachkam. Der Professor nahm die Lernschwäche eines jeden Schülers dermaßen persönlich, dass er es dem Schüler mit Hass zu spüren gab. Auch Hans wurde von dem Professor dermaßen negativ eingeschüchtert, dass er vor lauter Angst vor dem Professor nicht mehr richtig lernen konnte. Hans wechselte das Gymnasium. Fallada Vater hatte eine Unterredung mit dem Professor, der ihm Schulängste seines Sohnes schilderte, so attestierte der Professor dem Vater gegenüber ein minderbegabtes Kind:

"Ich muss Ihnen empfehlen, (…) Ihren Sohn sofort vom Gymnasium abzumelden. Schon damit er einem consilium abeundi entgeht, denn ich fühle mich verpflichtet, das mir von Ihnen Mitgeteilte dem Lehrerkollegium zu unterbreiten. Für die Weiterbildung ihres Sohnes halte ich nun freilich eine Volksschule für das höchst Erreichbare, vielleicht wäre noch richtiger eine Anstalt für geistig zurückgebliebene Kinder. Dieses ewige Heulen, diese Unfähigkeit, auch die einfachsten lateinischen Form zu erlernen, scheinen mir auf einen leichten Schwachsinn zu deuten."

Fallada ist mittlerweile fünfzehn Jahre alt, als sein Vater nun anfängt, ihn in seine beruflichen Pläne einzuweihen und einzubinden:

Gewiss, ich hatte Zeiten, da ich jeden Morgen, wenn alle noch schliefen, in Vaters Arbeitszimmer schlich und seine Akten las. Aber mich interessierte nicht so sehr das Juristische wie das Menschliche in ihnen. Mit klopfendem Herzen las sich die Vernehmungsprotokolle des Untersuchungsrichters, eines nach dem anderen, in denen der Beschuldigte leugnet, Ausflüchte macht, seine Unschuld beteuert. (…) In dieser Richtung interessierte mich die Juristerei schon, aber das war ganz und gar nicht das, was Vater wollte. Er suchte mich für die andere Seite des Falles zu interessieren, nicht wie es zu einem Verbrechen gekommen war, sondern was ein Richter nun mit einem solchen Verbrechen anzufangen hat, damit sollte ich mich beschäftigen!

Und hier, so denke ich, hat Fallada sowohl seine Beobachtungen als auch seine Lehren aus den Akten des Vaters gewonnen. Dadurch wurde er geprägt und lernte die Partei des Angeklagten kennen und zu verstehen.

Falladas Vater hat mir eigentlich auch irgendwie imponiert. Aus seiner juristischen Praxis heraus machte er die Erfahrung, dass Prozesse eine langwierige und kostspielige Angelegenheit sei, und er dadurch eher ein Mensch geworden ist, der Konflikte mied und der Harmonie wegen sowohl innerhalb der Familie als auch im Bekanntenkreis Konflikten zu lösen oder zu umgehen wusste. Es wurde ein Beispiel geschildert, als ein Gast angab, Falladas Vater besitze eine Krone, die nicht ihm gehören würde. Daraufhin die Reaktion des Vaters:

"Lieber Mann, Sie dürfen gerne meine Krone mitnehmen. Sie ist mir den Frieden meines Hauses wert.- Denn (…) -ich bin ein alter Richter und weiß, dass Prozesse Menschenfresser sind. Sie verschlingen nicht nur Geld, Glück, Frieden, sie verschlingen auch oft die Protestierenden mit Haut und Haar."

Das fand ich doch auch ein schönes Bild und ich bewundere diesen Mann zu dieser Fähigkeit.

Nun soll es für heute genug sein und freue mich auf morgen auf die weitere Lektüre. 
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"Die rechte Vernunft kommt aus dem Herzen ." (T. Fontane)

UB:
Dickens: Schwere Zeiten
Fallada: Damals bei uns daheim
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Proust: Sodom und Gomorrha
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

Gelesene Bücher 2012: 35

Hans Fallada / Damals bei uns daheim 2





Das Buch gefällt mir recht gut, nicht nur wegen des Humors… und nun weiß ich, woher Hans Fallada seine Neigung zur Menschlichkeit, die ich so sehr an ihm schätze, entwickelt hat.

Doch davon später mehr… .

Hans Fallada stammt aus einer sechsköpfigen Familie, und er das älteste Kind ist. Von den Geschwistern hat er zwei Schwestern, Elisabeth und Frieda und einen Bruder namens Ede.

Der Vater, Arthur Fallada, ist von Beruf Kammergerichtsrat, der später zum Amtsrichter aufgestiegen ist.

Arthur Fallada stammt aus einer langen Familientradition, in der es üblich war, dass der älteste Sohn den Beruf eines Juristen ergreift. Nun trifft es Hans, die Kette zu erweitern. Ich bin neugierig, ob es ihm gelingen wird, sich gegen diese berufliche Familiensitte aufzulehnen.

Die Mutter dagegen, Louise, stammt aus einer Pastorenfamilie… .

Als Erziehungswissenschaftlerin interessiere ich mich natürlich für die Erziehungsmethoden im Hause Fallada, und mir die Eltern, besonders der Vater, doch einen großen Eindruck bei mir hinterlassen haben.

Der Vater war gegen Gewalt und schlug seine Kinder nur seltenst. Doch Hans und sein Bruder waren keineswegs darüber so erfreut:

Ach Gott, was wären Ede und ich glücklich gewesen, wenn wir wie andere Jungens eine kräftige Tracht Prügel gekriegt hätten! Aber mein Vater war weder für Prügel noch für Schelten, alles Gewaltsame und Laute widerstrebt es seiner Natur. Er strafte haargenau auf dem Gebiet, auf die man gesündigt hatte.

Die Familie bereitete sich zu Hause auf einer Veranstaltung vor, und so wurde ein großes Mahl für die Gäste zubereitet. Die beiden Jungens Hans und Ede stürmten heimlich die Speisekammer, indem sie sich an dem Baumkuchen hermachten, so dass er den Gästen gar nicht mehr anzubieten war. Natürlich waren die Eltern recht verärgert, und während die Jungen abends in ihren Betten lagen und auf den Besuch ihrer Eltern lauerten, waren sie doch sehr erstaunt dass dieser ausblieb. Die Eltern ließen sich ihren Ärger nicht anmerken, und bestraften ihre Kinder ohne jeglichen Tadel und Vorwürfe, aber die Kinder bekamen dreimal am Tag über einen längeren Zeitraum nur noch Baumkuchen zu essen . Den Kindern ist dadurch der Appetit nach Baumkuchen gänzlich vergangen. Als sie wieder normale Kost vorgesetzt bekamen, aßen sie sogar Mahlzeiten, die sie vor der Kuchenzüchtigung für ungenießbar hielten. Nun wurde das anders, die Kinder aßen plötzlich alles, nur keinen Baumkuchen mehr. Diese Erziehungsmethode war mit Erfolg gekrönt.

Mein Vater hielt es in diesem Punkt mit den Homöopathen, kurierte Gleiches mit Gleichem, similia similibus , und konnte im Ganzen recht zufrieden mit den Ergebnissen seiner Erziehungsmethode sein, lag es nun an der Methode oder an den Kindern.

Viele Stellen in dem Buch finde ich recht lustig. Ein verstorbener Onkel von Hans vererbte der Familie diverses Geschirr und einen älteren Schrank, der beim Vater eher auf Ablehnung stieß:

Auf dem Wege der Erbschaft kam in unsere Familie der riesige Eichenschrank, der nach meines Vaters Ausspruch jeden Gedanken an Umziehen unmöglich machte. Es sei eine weitläufige Burg , kein Schrank. Selbst Berliner Möbelleute seien ihm nicht gewachsen …

Ein Möbelstück mit einer Burg zu vergleichen fand ich sehr originell.

Hans hatte einen festen gleichaltrigen Freund, der Sohn eines Arztes, der selbst auch Hans heißt, Hans Fötsch, mit dem er so einige elterliche Verbote betrieb. Mit dem Schlendern durch die Berliner Stadt gerieten die beiden unverhofft in das Scheunenviertel, ein sozialer Brennpunkt, der bekannt war für sozialen Abstieg und Kriminalität. Die beiden Jungen wurden auch belästigt, so dass sie sehr schnell die Flucht aus dem Scheunenviertel ergriffen hatten:

"Das war das Scheunenviertel", erklärte Fötsch. " Vater hat mir davon erzählt. Da trauen sich Große nicht mal bei Tage rein. Darin leben bloß Verbrecher."
"Das ist ausgeschlossen, Fötsch!" sagte ich. "Alle Verbrecher kommen immer gleich ins Gefängnis oder Zuchthaus.“

Fallada leitete dies aus dem Beruf seines Vaters ab und er der Meinung war, er müsste besser Bescheid wissen als der Freund. Allerdings wusste Fallada nicht, dazu war er noch zu sehr Kind, dass auch Ärzte berufsbedingt sehr viel herumkommen müssen, und sich sehr wohl mit den Wohnbezirken auskennen.

Die beiden waren über zwei Stunden von zu Hause entfernt, so dass sie es bis zum Abendessen nicht mehr rechtzeitig schafften. Falladas Mutter geriet in großer Sorge, da es in dem Hause nicht üblich war, sich zu verspäten, anders in der Familie des Freundes, wo über eine Verspätung hinwegsehen werden konnte:

Vater hatte sofort die Schwere des Falles begriffen, als meine Mutter ihm ihre Sorge offenbarte.
In seinem überaus geordneten Haushalt, in dem schon eine Verspätung von zwei Minuten als Übertretung, von zehn Minuten als Vergehen und von einer Viertelstunde als Verbrechen angesehen wurde, hat es eine Verspätung von eineinhalb Stunden überhaupt noch nicht gegeben! Das konnte nur ein Unglück bedeuten …

Diese Textstelle fand ich auch recht interessant, wobei sich die Kinder nur deshalb verspätet hatten, weil plötzlich Hans von einer Zwangsvorstellung ergriffen wurde, die Straßenbahn könne ausbrennen und er nicht den Mut hatte, in diese einzusteigen. Aus der Zeitung entnahm er mal, dass eine Straßenbahnen mit Schutzgittern ausgebrannt war und er sich darauf fixierte, dass nun alle Straßenbahnen mit Schutzgittern ausbrennen müssten und so wartete er auf die nächste Bahn, und wieder auf die nächste Bahn, bis er begriff, dass die Straßenbahnen in diesem Viertel alle so aussahen, er sich aber von seiner Zwangsvorstellung noch immer nicht erholen konnte. Der Freund hatte sich längst von Hans losgesagt, während Fallada erst am Abend gegen 23:00 Uhr zu Hause eintrudelte. Er log den Eltern eine Geschichte vor, da Hans nicht ahnen konnte, dass die Eltern schon längst informiert waren, dass sowohl er als auch der Freund sich in dem Scheunenviertel aufhielten und Hans es nicht schaffte in die Straßenbahn einzusteigen. Hans bereute seine Lügen, zum ersten Mal wurde er von seinem Vater übers Knie gelegt:

Und doch wäre vieles in meinem Leben vielleicht anders gekommen, wenn mein langmütiger Vater nicht gerade an diesem Abend die Geduld verloren hätte. Vielleicht hätte ich, nicht so summarisch abgestraft, den Mut gefunden, ihm von meinen Ideen über Elektrische mit Schutzgittern etwas zu erzählen, und vielleicht hätte er dabei doch - obwohl so etwas damals leicht als kindliche Albernheit abgetan wurde – aufgehorcht und sich gesagt: dahinter steckt etwas anderes, und zwar leider noch etwas Schlimmeres als Unpünktlichkeit und Schwindeln.
So habe ich meine ganze Jugend hindurch-und noch manches Jahr danach - an diese
immer wiederkehrende fixe Ideen gelitten und habe doch damals nie mit einem Menschen darüber sprechen können. Die Gelegenheit war mit jenem Prügelabend endgültig verpasst.

Im nä. Teil folgen weitere Textinterpretationen. 
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"Die rechte Vernunft kommt aus dem Herzen." (T. Fontane)

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Fallada: Damals bei uns daheim
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
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Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Proust: Sodom und Gomorrha
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis

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