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Sonntag, 4. November 2012

Anne Enright / Das Familientreffen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

So, ich habe das Buch nun durch und, gleich vorneweg gesagt, dass der literarische Ausdruck super ist. Ich gebe nur dem Ausdruck alleine zehn von zehn Punkten.  Er ist tiefgründig und fantasievoll.

Was der Inhalt betrifft, so frage ich mich wiederholt, ob die Autorin nicht auch Biografisches in dem Werk hat einfließen lassen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man diese Schwere an Gedanken und Erlebnissen erfinden kann, ohne sie selbst erlebt zu haben... . 

Ich finde das Buch gar nicht so einfach zu lesen, weil Veronica, die Protagonistin, mich als Leserin hauptsächlich mit Reflexionen konfrontiert, ohne dass ich selbst an den Handlungen teilnehme. Es entstehen dadurch jede Menge Verknüpfungen zu anderen Familienmitgliedern. Durch Lians Tod, der um ein Jahr ältere Bruder, reflektiert sie nochmals den Tod ihrer Großeltern und den ihrer Eltern und vergleicht sie miteinander, auch die verschiedenen Lebensweisen.

Das Familienbild, an dem Veronica einen teilhaben lässt, ist schon recht hart, aber manchmal auch mit Witz erzählt, an vielen Stellen spürt man aber auch die Wut, die Irland gilt. Wut an die Gesellschaft, sowohl Männer, die sich nehmen, was sie benötigen als auch Frauen, die sich von den Männern in vielerlei Hinsicht benutzen lassen, s. dazu unten.


Auch hier trifft man wieder ein düsteres Bild zu Irland; Armut, Kinderreichtum, Elend, Alkoholismus, Sexueller Missbrauch, Katholizismus... 

Und in einem Bild ausgedrückt:
Dort am Fenster zeigte sich ein Gesicht, oder stell dir vor, unter Dublin läge ein Vulkan, oder wir fielen ihn ein Loch und hätten den Mund voller Maden.
Irland, in eine Metapher gepackt, der Mund voller Maden und steht für mich für große und ekelerregende Fäulnis.

Veronica kommt aus einer Großfamilie, mit ihr zusammen sind es zwölf Kinder, davor gab es noch sieben Fehlgeburten.


Erst am Schluss des Buches erfährt man, weshalb sie eine Wut auf ihre Mutter hat. Ist doch ihr gutes Recht, Kinder zu gebären so viel sie will, denkt man erst, aber aus Veronicas Sicht wird ihre versteckte Anklage auch verständlich. 

In unseren Familien findet sich alles, und spätnachts ergibt alles einen Sinn. Wir begleiten unsere Mütter, was mussten sie nicht alles über sich ergehen lassen im Bett oder in der Küche, und wir hassen sie, oder wir verkörpern sie, aber immer weinen wir um sie - ich zumindest. Der undenkbare Schmerz meiner Mutter, gegen den ich mein Herz verhärtet habe. Nur ein Glas über das übliche Maß hinaus, und ich schlage auf den Tisch wie alle anderen auch und heule nach ihr.
Diese Ambivalenz, vermehrt der Mutter gegenüber, zeigt sich in ihren Gedanken, in der Auseinandersetzung mit ihrer Familie.

Veronica und Liam waren miteinander stark verbunden, Liam, der ein Jahr älter als sie war und der im erwachsenen Alter sich suizidierte... .

Veronica reflektiert nicht nur ihre eigene Kindheit, sie geht noch weiter zurück, und reflektiert das Leben ihrer Großeltern, und deren gesellschaftliche Rollen und erwirbt dadurch jede Menge Erkenntnisse, und dieses Verständnis sich auf ihr eigenes Leben übertragen lässt... .


Großmutter Ada hatte mehrere Verehrer, und sie entschied sich aber nicht für den Mann, der besser zu ihr passte. Das Leben weist Rätsel auf:

Ich weiß nicht, warum Ada Charlie geheiratet hat, wenn es doch Nugent war, der zu ihr passte. Und obwohl Sie sagen könnten, dass sie nur Nugent deswegen nicht geheiratet hat, weil sie ihn nicht mochte, so reicht diese Erklärung doch nicht wirklich aus. Nicht immer mögen wir die Menschen, die wir lieben - nicht immer haben wir diese Wahl.
Nicht immer mögen wir die Menschen, die wir lieben, dieses Zitat gibt mir zu denken, und ich weiß für mich, dass da was dran ist.
Und vielleicht war das ihr Fehler. Sie glaubte, wählen zu können. Sie glaubte, jemanden heiraten zu können, den sie mochte, mit ihm glücklich sein und glückliche Kinder haben zu können. Sie begriff nicht, dass jede Wahl verhängnisvoll ist. Für eine Frau wie Ada ist jede Wahl ein Irrtum, und zwar sobald sie getroffen ist.
Dabei spricht Veronica auch viel von ihrer Ehe mit Tom, die auch recht ungewöhnlich war, da Veronica sich als Ehefrau Freiräume schaffte und selbst entschied, wie oft sie Sex haben wollte. Sie wollte es anders machen als ihre Mutter, die sexuell ständig ihrem Mann zur Verfügung stand, selbst wenn sie keinen Sex wollte... .

Veronicas Vater war Dozent an einer pädagogischen Hochschule. Er starb 1986 an einem Herinfarkt und die Menschen am Begräbnis lächelten über ihn, dass das viele Bumsen ihn zermürbt hätte. Ich denke, darauf war auch Veronica wütend. Einen geilen Vater zu haben, wütend auf die Mutter, die sich bumsen ließ und sie das Zeugen vieler Kinder nicht verhindern konnte. Wenn mal Ruhe war in der Sexualität der Eltern, bezeichnete Veronica dies als eine vorübergehende Lücke in der Fortpflanzungsfähigkeit ihrer Mutter. 


Vorbildlich war für Veronica ihre Großmutter Ada,  die im Gegensatz zu ihrer Mutter eigenständig existierte und auch mit Männern flirtete. Das hätte sich Veronicas Mutter niemals erlaubt. Ada war auch so frei, zwischen zwei Männern zu wählen, wer ihr Gatte werden sollte.


Männer und Sexualität; Männer holten sich, was sie brauchten. Ich finde das Bild so schön:

Bezahlter Sex im irischen Freistaat. 

Bis Ende der 1970er Jahre wirkte sich dies noch aus:

Denn plötzlich war ich mir vieler Dinge sicher. Unter anderem, dass die Leute vögelten, das war eines von den Dingen, die sie trieben: Männer vögelten Frauen - und nicht umgekehrt; und dieser überraschende Mechanismus sollte nicht meine Zukunft verhindern, die sich zu verändern begann, kaum dass ich sie ins Auge gefasst hatte, sondern ebenso die weitere und in sich geschlossene Welt meiner Vergangenheit. 
Sowohl Veronica als auch ihr Bruder wurden als Kinder Opfer der sexuellen Gewalt und der häuslichen Gewalt, wie z.B Kindstod durch Mord an einem Geschwisterkind durch die Mutter, die erneut schwanger war.... . Veronika erfährt schon recht früh in ihrem Leben, dass die einzige Sünde der Sex sei, auch hier im Vergleich zwischen ihrer Großmutter Ada und ihrem Liebhaber Nugent:
Nugent öffnet mit seinen sündhaften, eckigen Fingern Adas Bauch, taucht ein in ihren Höhlungen, nimmt mit achtsamen Verlangen ihre wunderschönen Lungenflügel und drückt kosend- "Ach", seufzt Ada, als die Luft aus ihr entweicht - ihre rosa Lungen zusammen.
Während Veronica dadurch Probleme mit ihrem Körper bekommt, und sich wünscht, ihm zu entfliehen: 
Nichts als Sex. Ich würde liebend gern meinen Körper verlassen. Vielleicht geht es ja genau darum, bei diesen Fragen nach Welch und nach wessen Loch, nach den richtigen Körpersäften an den falschen Stellen, diesen kindlichen Verwirrungen und kleinen verbissenen: die Eröffnung der Möglichkeit uns auf diesem Fleisch heraus zu kämpfen (am liebsten einfach heraus schwimmen, wissen Sie?, Hinausschnellen wie ein Wort aus meinem Mund und mit einem Schlag meiner Schwanzflosse verschwinden), es gibt eine Grenze, was man ficken kann und womit.
Dennoch trauerte Veronicas sehr, als ihr Vater starb:
Heute tut es weh, dass Daddy tot ist. (...) Er ist also nie in ein Geschäft gegangen, wo Kondome gleich neben der Registrierkasse verkauft werden. Er brauchte also nie umzulernen, nicht einmal geringfügig.
Obwohl Veronicas Vater seine Frau liebte, er liebte sie,  aber er liebte sie nicht innig genug, um sie in Ruhe zu lassen.
 Meine arme Mutter hatte zwölf Kinder. Immer wieder musste sie die Zukunft zur Welt bringen. Ein ums andere Mal. Zwölfmal Zukunft. Noch öfter. Vielleicht gefiel es ihr ja, all diese Kinder zu kriegen. Vielleicht verfügte sie über mehr Vergangenheit, die sie abstreifen muss, als die meisten Menschen. (lol)

Ich komme nun an eine Textstelle zu sprechen, die für mich wichtig war und noch ist, die mehr als makaber ist, dabei erinnere ich mich, als Veronica sagte, dass ihr Bruder und sie Geschichten erzählten, die wie erfunden klangen. 


Veronica besuchte zusammen mit ihrer Schwester ein Krankenhaus auf, und auf dem Schild Behindertendienst zu vernehmen war. Eine Klinik mit hohen Schornsteinen, das aus viktorianischen roten Backsteinen gebaut war. Es lebten darin psychisch kranke Menschen und Menschen mit einer geistigen Erkrankung:
"Behindertendienste" steht auf dem Schild, und erleichtert denke ich, dass die Irren nicht mehr sind. Die Irren sind, ganz naturgemäß, zu Staub geworden. Die Menschen sind nicht länger verfolgt. Die Irren in diesen Zimmern sind nur noch Hautreste, abgeschafft, abgehackt oder auch nur abgeworfen: Eine Million Schuppen, etwas weiches unter den Dielenbrettern, die Qualität des Lichts".
Klingt stark nach dem Nationalsozialismus, aber es ist auch bekannt, dass behinderte Menschen in Irland noch darüber hinaus schlecht behandelt wurden:
"Himmel", sagt meine Schwester, die wie ich eine Sekunde lang gedacht hat, dass man darin geisteskranke Patienten verbrennt, um im Krankenhaus die Heizkörper zu erwärmen. 
Viele irische Frauen, die sexuell vergewaltigt wurden, erkrankten psychisch und wurden lebenslänglich in diesen Heilanstalten eingesperrt. Viele kamen nicht mehr lebend heraus. Die Vergewaltiger dagegen, meist Mitglieder der Familie, liefen frei herum... . 
Auch uneheliche Kinder wurden nicht geduldet. Die Kinder wurden den Müttern weggenommen, und zur Adoption freigegeben. 

Selbst der suizidierte Bruder Lian galt als Sünder, da Selbstmord aus der Sicht der katholischen Kirche damals nicht zu verzeihen war. 


Ein kritisches Denken zur katholischen Kirche war in den Familien oft nicht erlaubt. Veronica erlangte eine starke Ohrfeige von ihrem Vater, als sie fragte, wo die heilige Jungfrau Maria, als sie in den Himmel hochgefahren ist, zur Toilette ging?


Und nun komme ich zu den Abschlussgedanken:



Am Ende kam ein so schönes Zitat, das mich glauben lässt, dass Veronica sich durch die nächste Generation mit ihrem schweren Schicksal ausgesöhnt hat.

Veronica zieht sich in ein Hotel zurück, auch fern von ihren Kindern, zwei Töchter, als fliehe sie vor ihnen und sie schließlich merkt, dass es gar nicht möglich ist, ihre Kinder zurückzulassen, da sie in Gedanken immer bei ihr sind und spürt sogar im Bett das seidige Haar ihrer Tochter und macht plötzlich folgende Erkenntnis: 

"Was für ein großartiger und leiser Sieg es ist, meine Kinder in der Welt zu haben." 
Eine höhere Wertschätzung kann es gar nicht geben den Kindern gegenüber, sich aber auch selbst gegenüber. Keine Anklagen mehr, nur noch Wertschätzung.

Nach dem Veronica nun ihre Geschichte erzählt hat und sie sie damit verarbeitet hat, und  sie sich mit ihrem Leben ausgesöhnt hat, gibt sie zu erkennen, dass sie gar kein anderes Schicksal haben wolle, sie wolle kein anderes Leben, keine andere Familie, keinen anderen Ehemann... .

So frage ich mich, ob wir Menschen auf der Welt sind, um genau dieses Leben zu leben, das wir leben, um Erkenntnisse zu machen... 

Fettdruck im Text durch die Autorin hervorgehoben!
____________

„Musik ist eine Weltsprache“
            (Isabel Allende)

Gelesene Bücher 2012: 79
Gelesene Bücher 2011: 86




Donnerstag, 1. November 2012

Anne Enright / Das Familientreffen


Verlag: btb
2011, 9,99 €
Gebunden, Miniausgabe
Seitenzahl: 416

ISBN-10: 3442742595




Klappentext


Der Hegarty-Clan versammelt sich in Dublin, um Liam, das schwarze Schaf der Familie, zu Grabe zu tragen – doch schnell gerät der Anlass zur Nebensache. Nur Veronica wagt es, nach den Umständen zu fragen, die ihren Bruder in den Tod getrieben haben mögen. Ein beeindruckend intensiver Roman über die Frage nach Schuld und Verantwortung, nach der Liebe und ihren Folgen.


Autorenportrait

Anne Enright wurde 1962 in Dublin geboren und lebt heute im irischen Bray, County Wicklow. Die vielfach ausgezeichnete Autorin zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Ihr Roman „Das Familientreffen“ (DVA 2008) wurde unter anderem mit dem renommierten Booker-Preis belohnt, ist in gut dreißig Sprachen übersetzt und weltweit ein Bestseller. "Anatomie einer Affäre" ist ihr fünfter Roman.

Von der Autorin habe ich noch nichts gelesen und bin durch Zufall auf dieses Buch gestoßen. Wie so viele Irland-Bücher geht es wieder Mal um das Elend in einer Familie. Ich habe schon ein paar Seiten gekostet und es hat mir gut gefallen. Bin recht neugierig, wie der Roman weitergeht.