Sonntag, 3. November 2013

Erwin Strittmatter / Der Laden III (1)

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Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Den dritten Band fand ich nicht so interessant wie die ersten beiden. Esau Matt ist hier erwachsen und mir fehlt irgendwie der kindliche Humor, der mich so sehr zum Lachen gebracht hatte.Trotzdem bekommt das Buch von mir zehn von zehn Punkten, da der Schreibstil nach wie vor gut ist, die Lebenswelt des Protagonisten  und dessen Alltagskontakte differenziert und authentisch beschrieben werden.

Eine Welt von Menschen, die in ihren Alltagsnöten, die die Nachkriegszeit mit sich brachte, so leben, dass sie sich zu Lebenskünstlern entwickelt haben. Bauern und Kleinbürger, vor allem im Hause Matts findet man diese Mischung vor, trifft es durch die Doppel- und Dreifachbelastung besonders hart. Vor allem in der Mutter von Esau, die den Laden führt und über Bauernklugheit verfügt, fand ich eine interessante Erscheinung. Die Eltern genossen, verglichen zu dem Sohn Esau, über keinerlei intellektuelle Ausbildung. Esau besuchte Dank seiner Mutter die höhere Schule, doch sein Wunsch, nach der Schule Schriftsteller zu werden, blieb erst mal im regen Alltagsgeschehen stecken. Ein Multitalent auch im Handwerksbereich. Esau, der der Mutter im Laden helfen konnte, aber hauptsächlich dem Vater, der sowohl Bäcker als auch Landwirt ist, unter die Arme zu greifen. Er wurde trotz seiner intellektuellen Begabung in die Bäckerlehre geschickt, da er sich für ein Studium nicht entscheiden konnte. Schriftsteller war man, oder man war es nicht, darüber gab es kein Studienfach.



Esau ärgerte sich oft, wenn er nicht mal eine Stunde zum Lesen für sich erübrigen konnte, so sehr füllte ihn die Bäckertätigkeit zeitlich aus. Nicht selten bewunderte er die Fleischer, die, verglichen mit den Bäckergesellen, den Sonntag für sich haben.

Die Mutter war eine Frau, die auch gerne gelesen hat und Dichtungen schrieb, allerdings alles auf niedrigem Niveau. Als Esau noch klein war, hat sie ihm ihre Gedichte vorgelesen. Später, im jugendlichen Alter, nach einer gewissen literarischen schulischen Vorbildung, schämte Esau sich wegen der Einfachheit für die Gedichte seiner Mutter. Nichtsdestotrotz war auch seine Mutter recht talentiert, die mehr aus ihrer Begabung hätte herausholen können, wenn sie nur gefördert worden wäre. Nun ist es Esau, der diese Begabung ausfüllt, zu einem späteren Leben, wie man sehen kann, ist sein Wunsch, Schriftsteller zu werden, bei der Anzahl an geschriebenen und gedruckten Büchern, in Erfüllung gegangen. Das Schreibtalent seiner Mutter wuchs in ihm weiter fort.

Das Buch spielt nun in der Nachkriegszeit Deutschlands, in dem, obwohl der zweite Weltkrieg aus war, die Probleme noch lange nicht behoben waren. Sowohl Lebensmittel- und Geldknappheit als auch die massive Wohnungsnot bedrohten die Menschen weiterhin enorm.

Esau besitzt auch eine ziemliche Begabung als Hypnotiseur. Viele Menschen suchen ihn auf, um gewisse Hintergründe zu ihren Problemen zu erforschen. Manchmal aber ärgert er sich, wenn er den Menschen Ratschläge erteilt:
Damals bin ich noch rasch dabei, anderen Leuten Rat zu geben, besonders, wenn sie mich darum bitten. Heute weiß ich, dass es so gut wie verantwortungslos ist, jemandem zu raten. Man rät dem Ratsuchenden, das zu tun, was man selber getan hätte, und verhindert damit, dass ein für einen Augenblick Hilfloser die für ihn passende Antwort in sich selber sucht und findet. (89)
Diese Einstellung hat mich sehr angesprochen.

Esau Matt ist Vater zweier Söhne. Er war zweimal geschieden und hat auch nicht wieder neu geheiratet. Amanda, die Mutter der beiden Söhne, schiebt ihre Kinder oft zum Vater ab, sobald sie einen neuen Liebhaber gefunden hatte, und sie die Kinder nicht als lästiges Anhängsel in der neuen Beziehung dabei haben wollte. Esau selbst allerdings bezeichnet sich in der Rolle als Vater nicht unbedingt als begnadet, da er den Problemen seiner Jungs oft ratlos gegenübersteht. Esau dagegen ist von einer Mutterliebe großgezogen worden, die man als selbstlos bezeichnen kann. Dazu Esaus Meinung:
Enttäuscht ist meine ausgezeichnete Mutter vielleicht nicht von mir. Sie liebt, wie die meisten Mütter innig, aus Instinkt. Mütter, die so lieben, sind nie enttäuscht von ihren Kindern, ob sie Diebe, Mörder, Betrüger, Lügner, Großsprecher, Faulpelze oder matt im Geiste sind. Das Liebesverhältnis von Mann zu Frau, und umgekehrt, ändert sich; Mutterliebe ändert sich selten. Mütter wundern sich über Veränderungen, die in ihren Kindern vorgehen, gewöhnen sich an die Veränderungen und lieben weiter. (90)
Natürlich sind damit die Mütter gemeint, die ein gesundes Verhältnis zu sich selbst und dadurch auch zu ihren Kindern entwickelt haben. Aber ob es so etwas wie einen angeborenen Mutterinstinkt gibt, darüber scheiden auch die Wissenschaftler. Es gibt viele Mütter / Väter, die ihre Kinder vernachlässigen und im schlimmsten Fall gibt es einige, die ihre Kinder sogar töten. Dessen ist sich der Autor sicher bewusst.

Trotz einer erfahrenen, selbstlosen Mutterliebe stand Esau oft den Problemen seiner eigenen Söhne hilflos gegenüber. Der eine Sohn litt enorm unter der Trennung seiner Eltern und verkraftet das Hin- und Herschieben nicht und entwickelt sich zu einem Bettnässer. Esau Matt weiß sich keinen Rat und bittet seine Mutter um einen Erziehungstipp. Aber die Mutter weiß auch nicht zu helfen und hört sich bei den Dorfbewohnern um, bis schließlich Esaus Vater sich zu einer Körperzüchtigung á la Schwarze Pädagogik bekennt:
In den Kindheitsgeschichten meines Vaters hat das Knien auf Erbsen als Kinderstrafe Wunder gewirkt. Mein Satan, der Jähzorn, packt mich. Auf meinem Schreibtisch stehen diese Saaterbsen für den Feldgarten. Ich schüttete sie auf die Dielen. Knie hin! Der Junge kniet hin. Entsetzen in seinen Augen. Ich reiße ihn hoch. Ein großes Weinen schüttelt ihn. Ich drückte ihn an mich und weine mit. (228)
Ich selbst kannte in meinen Kindertagen ein Mädchen aus der Grundschule, 1970er- Jahre, die auch das Bett genässt hatte und sie von ihrer Mutter auf die harten Bohnen gekniet wurde. Ich konnte das damals nicht verstehen. Interessant, hier mit einem ähnlichen Beispiel damit nochmals konfrontiert zu werden. Ein altes, religiöses Erziehungsritual?

Und nun zu einer anderen Episode, die mir gut gefallen hat. Esaus Mutter hatte nicht nur Verständnis für die eigenen Kinder gehabt, sie zeigt auch großes Verständnis für die Enkelkinder. Viele Kinder hatten zu der damaligen Zeit keine richtigen Spielsachen und spielten stattdessen mit den Gegenständen der Erwachsenen. Die Enkelkinder der Matts vergriffen sich oft an den Lebensmitteln, die im Laden ausgestellt waren:
Wenn eine Platte Palmenfett, Marke >Palmin<, verlangt wurde, musste meine Mutter in die Wohnstube, musste dort ihren Enkel Friede ablenken und ihm die >Palmin-Platte< entwenden. Manchmal ging die Rücksicht der Mutter so weit, dass sie die Kunden bat, von der verlangten Zichorienstange Abstand zu nehmen und etwas später wieder zu kommen: Unser Kleener hat sich groade een scheenes Schloss gebaut. (154)
Mir war die Mutter sehr sympatisch. Sie zeigte auch oft Verständnis und Mitgefühl für die Nöte anderer Menschen, obwohl sie selbst zusammen mit ihrem Mann so kämpfen musste, den Laden und den Backbetrieb aufrechtzuerhalten.

Esau ist ein Büchernarr und besitzt eine eigene Bibliothek. Wie er die Bücher sortiert hat, fand ich recht originell:
Nun stehen die Werke Tolstois neben den Essays von Emerson im aufgefrischten Bücherregal und leben dort in Harmonie miteinander. Erkenntnisse Emersons kommen auch bei Tolstoi vor. Wenn einer abgeschrieben hat, dann Tolstoi, er ist der Jüngere und ging bis zwei Jahre vor meiner Geburt in Russland umher. Die Zeit vergeht, und ich werde zum ersten Mal gewahr, dass es mit tiefen Erkenntnissen und Weisheiten so geht wie mit pfiffigen Erfindungen: Sie leben in großen Unerkannten umher und lassen sich von hochgestimmten Menschen sowohl hier als dort finden. (92)
Ich habe das schon öfter gelesen, dass AutorInnen nach dem selben obigen System ihre Bücher sortieren. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich Bücher untereinander bekriegen könnten, wenn sie gedanklich und thematisch nicht zueinander passen. :).

Mein Fazit: 

Ich zitiere Die Zeit zu dem Buch: Was Menschen geschehen kann, geschieht ihnen hier.
Dem kann ich nur zustimmen. Strittmatter gelingt es, hinter die Fassaden zu schauen und macht somit möglich, die wahren Gesichter hervorzubringen...
 Zur Erinnerung noch einmal, dass alle drei Bände autobiografisch geschrieben wurden. Da man nicht immer weiß, was Wahrheit und was Fiktion ist, helfe ich mit folgendem Zitat ein wenig ab, das gleich auf der ersten Seite des Buches zu vernehmen ist. Denn mit dieser Frage, Wahrheit oder Trug, ist Esau Matt, Künstlername in seinen Autobiografien, oft konfrontiert worden. Er zitiert dabei Schopenhauer:
... so sind die Vorgänge und die Geschichten eines Dorfes und die eines Reiches im Wesentlichen die selben; und man kann am Einen, wie am Anderen, die Menschheit studieren und kennen lernen. Auch hat man Unrecht zu meynen, die Autobiographien seien voller Trug und Vorstellung. Vielmehr ist das Lügen (obwohl überall möglich)  dort viel schwerer, als irgendwo.
Mit diesem Zitat beende ich meine Buchbesprechung. Es gibt noch viel von mir Unerwähntes nachzulesen und ich kann das Buch wärmstes weiterempfehlen, wer ein Faible für die Themen der Nachkriegszeit mitbringt. Ich selbst freue mich sehr, alle drei Bände gelesen zu haben und fühle mich dadurch mehr als bereichert.

Gewohnheiten, ob gute, ob schlechte, sind schwer ausrottbare Gewächse
(Erwin Strittmatter)
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