Dienstag, 10. September 2019

Astrid Lindgren / Ronja Räubertochter

Klappentext  
In neuem Gewand: Ronja Räubertochter! Die Geschichte der Freundschaft zwischen Ronja, Tochter des Räuberhauptmanns Mattis, und Birk, dem Räubersohn aus einer verfeindeten Sippe, erschien 1982 und wurde seitdem in 41 Sprachen übersetzt und weltweit über 10 Millionen Mal verkauft. Jetzt erscheint der Klassiker in einer modernen Anmutung mit farbigen Illustrationen von Katsuya Kondo.

Autorenporträt
Oetinger schreibt über die KinderbuchautorinAstrid Lindgren wurde am 14. November 1907 als Astrid Anna Emilia Ericsson auf dem Hof Näs nahe der Kleinstadt Vimmerby in Småland geboren. Mit ihren drei Geschwistern Gunnar (1906-1974), Stina (1911-2002) und Ingegerd (1916-1997) verlebte sie eine glückliche Kindheit auf dem Bauernhof ihrer Eltern Hanna und Samuel August Ericsson. 
Nach ihrem Schulabschluss 1924 begann sie ein Volontariat bei der Tageszeitung "Vimmerby Tidningen". Während dieser Ausbildung wurde sie, 18 Jahre jung und unverheiratet, schwanger - zur damaligen Zeit ein Skandal. Trotzdem weigerte sie sich, den Vater des Kindes, den Chefredakteur der Zeitung, zu heiraten, und zog daraufhin nach Stockholm. Eine Zeit der Einsamkeit brach für sie an. Ihren Sohn Lars gebar sie, wie viele Schwedinnen es in ähnlicher Situation taten, in einer Kopenhagener Klinik, die keine offiziellen Meldungen über Geburten weitergab. In den nächsten drei Jahren wuchs der Junge in einer dänischen Pflegefamilie auf, während sie selbst eine Ausbildung zur Sekretärin absolvierte.
In diesem Beruf trat sie 1928 eine Stellung im "Königlichen Automobilclub" an, wo sie ihren zukünftigen Ehemann, den späteren Direktor Sture Lindgren kennenlernte. Kurz bevor die beiden 1931 heirateten, holte Astrid Lindgren ihren Sohn Lasse zu sich nach Stockholm, der zuvor ein Jahr bei ihren Eltern in Näs gelebt hatte. Nach der Hochzeit zog die kleine Familie in die Vulcanusgatan mit Ausblick auf den Vasapark in Stockholm. Nach der Geburt ihrer Tochter Karin 1934 blieb Astrid Lindgren zunächst einige Jahre zu Hause, bis sie 1937 als Stenografin eines Kriminologen wieder in das Berufsleben einstieg. Das dort erworbene Fachwissen brachte sie später, ab 1946, in die drei Detektiv-Romane über Kalle Blomquist ein.
Astrid Lindgrens erstes Buch entstand jedoch schon viel früher. Als ihre Tochter Karin 1941 einmal krank zu Bett lag, bat sie ihre Mutter, sie solle ihr von "Pippi Langstrumpf" erzählen, einem außergewöhnlichen Mädchen, dessen Namen sich Karin spontan ausgedacht hatte. Weitere drei Jahre sollten vergehen, bis Astrid Lindgren das Manuskript zu diesen Geschichten fertiggestellt hatte und 1944 dem ersten Verlag, dem Bonniers Verlag, anbot. Prompt kam es zurück. Jahre später gab der dafür verantwortliche Verleger zu: "Ich hatte selbst kleine Kinder und stellte mir mit Entsetzen vor, was passieren würde, wenn sie sich dieses Mädchen zum Vorbild nähmen." Die Autorin hatte jedoch ihren Spaß am Schreiben entdeckt und beteiligte sich gleich darauf mit ihrem nächsten Buch am Wettbewerb des Verlages "Rabén & Sjögren" und erhielt den zweiten Preis. Daraufhin versuchte Astrid Lindgren bei diesem Verlag ihr Glück mit Pippi Langstrumpf, bekam den ersten Preis eines erneut ausgeschriebenen Wettbewerbs und erreichte im Nu eine immense Leserschaft. Es folgten weitere Preise sowie eine Anstellung als Lektorin im Kinderbuchbereich, den sie bis 1970 leitete. 
In Deutschland erschien das Buch "Pippi Langstrumpf" erstmals 1949 und bildete den Anfang und Durchbruch des Kinderbuchprogramms des Verlags Friedrich Oetinger. In den darauffolgenden Jahren entstand eine besondere Freundschaft zwischen dem Verlegerpaar Friedrich und Heidi Oetinger und der Schriftstellerin, die ihre gesamten Werke in Deutschland über den Hamburger Verlag verbreiten ließ.
Dazu gehören Bücher wie die über die Kinder aus Bullerbü, Michel und Madita, die das idyllische Leben ihrer schwedischen Kindheit beschreiben, aber auch Geschichten mit gewagten Themen wie Tod und Sterben. "Die Brüder Löwenherz" zum Beispiel lösten nach Erscheinen eine große Diskussion über die Angemessenheit dieses Themas für Kinderbücher aus. Nichtsdestotrotz feierten gerade dieses Buch und auch seine Verfilmung besonders bei den Kindern große Erfolge.
Astrid Lindgren hat rund 90 Bücher, Drehbücher und Theaterstücke verfasst, die in in rund 100 Sprachen übersetzt wurden. Längst gehören ihre Märchen, Erzählungen, Romane und Bilderbücher zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur. Alle zeugen von dem besonderen psychologischen Einfühlungsvermögen der Autorin in die Welt eines Kindes und treten für positive Werte wie Toleranz und Mitgefühl ein. Für ihr Werk erhielt Astrid Lindgren im Laufe der Zeit unzählige Preise, unter anderem den Alternativen Nobelpreis, den Deutschen Jugendbuchpreis (heute: Jugendliteraturpreis), den UNESCO Book Award, die Große Goldmedaille der Schwedischen Akademie und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Darüber hinaus wurde sie, basierend auf einer Volksumfrage, von der Tageszeitung Aftonbladet zur Schwedin des Jahrhunderts gekürt.
Neben ihrer Tätigkeit als Autorin und Lektorin engagierte sie sich intensiv für die Rechte der Kinder, Gewaltlosigkeit und den Tierschutz. So schrieb sie über eine neue Steuergesetzgebung der Sozialdemokraten als literarischen Protest das Märchen "Pomperipossa in Monismanien". Damit trug sie 1976 maßgeblich, nach 40 Jahren Macht, zur Abwahl der sozialdemokratischen Regierung bei. Auch 1985 führte ihr großer Einsatz zum Erfolg: Nach heftigen Debatten wurde in Schweden ein neues Tierschutzgesetz verabschiedet. Einen nicht unmaßgeblichen Anteil daran hatten die Zeitungsartikel, die sie zusammen mit der Tierärztin Kristina Forslund veröffentlichte und die in dem Buch "Meine Kuh will auch Spaß haben" (deutsche Übersetzung bei Oetinger 1991) zusammengefasst wurden.
Mit ihrem Alters- und Abschlusswerk "Ronja Räubertochter", das 1981 in Schweden erschien, beendete Astrid Lindgren ihre aktive Karriere als Schriftstellerin. Ihren Lebensabend verbrachte sie in ihrer Wohnung in der Dalagatan 46 im Vasaviertel in Stockholm, wo sie seit 1941 lebte und am 28. Januar 2002 verstarb. Heute trägt ihr Wohnhaus das Hinweisschild: Astrid Lindgrens Hem 1941-2002.
           (Renate Kusche/gm)

Mehr über Astrid Lindgren: www.astrid-lindgren.de

Weitere Informationen zu dem Buch
·         Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
·         Verlag: Oetinger Verlag; Auflage: 61 (1. Februar 1981)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 9783789129407

Hier geht es zur Verlagsseite von Oetinger.


Meine Leseerfahrung

Ich fand dieses Märchen nicht schlecht, obwohl es mich erst zum Ende hin richtig gepackt hat. Da ich dieses Buch mit Anne gelesen habe, verlinke ich meine Seite mit Annes Buchbesprechung. Sie hat eigentlich alles Wichtige benannt, sodass ich den Inhalt nicht wiederholen möchte und mache es kurz, indem ich nur ein paar Eindrücke von mir niederschreiben werde.

Ich fand viele Märchenfiguren für uns so untypisch, aber typisch für die nordigen Länder wie Schweden, Finnland, Norwegen und Dänemark.

Aber trotzdem hat mich die Thematik an Romeo und Julia erinnert. Die beiden Räuberbanden Mattis und Borka waren verfeindet, während das Mattismädchen Ronja und der Borkajunge Birk Freunde wurden, begann auf beiden Seiten der elterliche Druck, weshalb ich an Romeo und Julia gedacht habe, nur etwas kindlicher im vorliegenden Märchen. Die Freundschaft dieser beiden Kinder brachte doch eine ganz wichtige Veränderung hervor … Ich möchte nicht zu viel verraten, weshalb ich nur in Andeutung schreibe.

Wie Ronja es schafft, dass beide Räuberbanden zusammen kommen, ist dem Buch zu entnehmen.

Was mir gar nicht gefallen hat, ist, dass die Kinder Tierfelle wie z. B. Eichhörnchenfell  trugen. Das ist für mich ein No-Go. Man könnte ja sagen, die Tiere leben in Freiheit und sterben auf der Jagd der Menschen, besser als im Schlachthaus zu sterben, aber mir geht es gar nicht mal um die Menschen, die im Wald leben und vielleicht keine andere Wahl haben, als Tiere zu erlegen, um sich mit den Tierhäuten einzukleiden. Aber diese Räuber bestehlen Menschen, sie würden auch Kleider stehlen, dadurch müssten sie nicht den Tieren das Fell abzuziehen. Ich weiß, dass die nordigen Länder sehr viel Fleisch konsumieren. Sie essen sogar Bären. Tja, am kommenden Dienstag begebe ich mich nach Schweden, und habe so Manches im Reiseführer gelesen.

Kindern würde ich das Töten von Tieren und das Tragen von Tierfellen niemals vorleben. Dieses Blutvergießen wird wohl nie aufhören. 

Ansonsten fand ich das Märchen nicht schlecht.

Wer mehr wissen möchte, hier der Link zu Annes Blogbeitrag.  Sie hat eine gesamte Buchbesprechung zustande gebracht. 
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Montag, 9. September 2019

Prousts Lebenskrise

Weiter geht es mit den Proust-Briefen von Seite 271 – 280  

Auf den folgenden Seiten erfährt man, welche Erfahrung Proust als Übersetzer mit John Ruskin macht und dass er die Absicht hat, mit seiner Mutter Ende April 1900 nach Venedig zu reisen. Ich kann mich erinnern, dass es in der Recherche auch eine Szene gibt, in der der fiktive Marcel mit seiner Mutter nach Venedig gereist ist und dort mit einem italienischen Kellner eine peinliche Situation erlebt hat. Sicher eine reale Begebenheit, die Proust in seiner imaginären Autobiographie hat einfließen lassen.

Auch hat sich herausgestellt, welche Form von Asthma Proust erleidet. Er ist Pollenallergiker. Zitiert wird aus der Fußnote aus einem Brief von Marie Nordlinger.
Proust plante mit seiner Mutter die Abreise nach Venedig für das Ende des Monats April. (…) Dort auch der Hinweis darauf, dass ihm Florenz wegen seines Heuschnupfens und der Baumblüte untersagt bleibt. Proust blieb mit seiner Mutter ca. bis Ende Mai (1900) in Venedig. Im Oktober (…) brach er, diesmal ohne seine Mutter, zu einem zweiten, gut zweiwöchigen Venedig-Aufenthalt auf. (273)

Zu Venedig habe ich weiter unten noch Zitate eingefügt.

An Pol Neveux
Februar 1900, Proust ist hier 28,5 Jahre alt

Proust befindet sich von der Bibliothek Mazarine am Ende des fünften Beurlaubungsjahrs. Aufgrund seines labilen Gesundheitszustands erbittet Proust Nevoux um ein weiteres Beurlaubungsjahr.
Cher Monsieur, wie es scheint, ist das letzte (das fünfte) Jahr meiner Beurlaubung abgelaufen, und ich müsste nun wieder in der Mazarine antreten, was mir, leider Gottes, mein Gesundheitszustand nicht erlaubt. Muss ich also meine Entlassung ersuchen, oder gibt es einen anderen Ausweg, eine Verlängerung der Beurlaubung, einen Aufschub meines Dienstantritts, eine unbefristete Beurlaubung oder was auch immer? (271)

Ich bin über den Satz gestolpert, als Proust auch eine unbefristete Beurlaubung in Erwägung gezogen hat. Was genau soll ich mir darunter vorstellen? Kein Arbeitgeber würde darauf eingehen. Anne ist der Meinung, dass er solange beurlaubt sein möchte, solange der Bedarf vorliegen würde.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust gebeten wurde, seinen Dienst unverzüglich am 14.02.1900 wieder aufzunehmen. Scheinbar ist er dieser Forderung nicht nachgekommen und so wurde er ab dem 01.03.1900 vom Dienst suspendiert.

Im nächsten Brief erfährt man etwas über Prousts Arbeit als Übersetzer von John Ruskins Werken. Scheinbar habe er Übersetzungsfehler begangen, auf die Proust peinlichst berührt reagiert.

An Robert de La Sizzerane
April 1900
Monsieur,(…) Ich habe von einem Herrn aus England einen Brief erhalten, dem Sie meine Artikel zu Ruskin geschickt hatten. Das hat mich erstaunt, in Verlegenheit gebracht und vor allem mehr gerührt, als ich es vielleicht zum Ausdruck bringen kann. Ihr Freund weist mich auf eine Sinnwidrigkeit in der Übersetzung einer Passage der „Biblie d´Amiens“ hin. Ich möchte ihm gerne schreiben, um mich für seinen Brief zu bedanken, und ihn um Rat bei anderen Stellen bitten, die mir Kopfzerbrechen bereiten.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Prousts Englischkenntnisse nicht überragend gewesen wären, auch die seiner Mutter nicht. Ich zitiere aus der Fußnote.
Die seiner Mutter, auf deren Hilfe er angewiesen war, waren auch nicht über alle Zweifel erhaben, wodurch sich in der „Bible d´Amiens“ eine Reihe von Fehlern einstellte, auf die schon Henri Lemaitre 1944 hingewiesen hat in seinem in Toulouse erschienenen Buch „Proust et Ruskin“. (273)

1944 hatte Proust nicht mehr gelebt, weshalb er das Buch von Lemaitre selbst nicht hat lesen können. Aber wenn er es hätte lesen können, so bin ich sicher, wäre ihm das Buch sicher mehr als peinlich gewesen.

Dennoch wurde Prousts Übersetzung schließlich im Verlag Mercure de France abgedruckt. Ganz so schlecht können seine Übersetzungen doch nicht gewesen sein.

Weiter schreibt er:
Sie haben mir gesagt, dass es nach Ihrer Kenntnis mehrere unveröffentlichte Ruskin-Übersetzungen gibt. Wissen Sie, ob sich darunter auch die „Steine von Venedig“ finden? Ich habe die Absicht, nach Venedig zu reisen, und da ich dort Ruskin-Übersetzungen abschließen muss, die ich einem Verleger versprochen habe, wäre es eine große Erleichterung für mich, wenn ich vor Ort die „Steine von Venedig“ auf Französisch lesen könnte. Natürlich würde ich keine Übersetzung der „Steine von Venedig“ lesen, wenn ich sie selbst zu übersetzen hätte. Aber die „Steine von Venedig“ gehören nicht zu den Werken, die ich übersetzen muss, und ich hätte keinerlei Skrupel, sie auf Französisch zu lesen, um mich von meinen diversen Übersetzungen auszuruhen. (272f)

Ich bin neugierig geworden, und habe auf Amazon nach diesem Werk gesucht, und tatsächlich, das Buch die Steine von Venedig ist auch ins Deutsche übersetzt worden und käuflich zu erwerben. 

Wer ist John Ruskin? Siehe obiges Foto. Darüber hatte ich schon in der letzten Besprechung geschrieben. Kurz nochmals ein paar wenige Fakten zur Wiederholung. John Ruskin ist am 08.02.1819 in London geboren und ist ein englischer Schriftsteller, Maler und Kunsthistoriker. Gestorben ist er am 20.01.1900.

In einem anderen Brief spürt man wieder Prousts Depression. Er leidet, dass er auch als Übersetzer nicht den Erfolg einbringt, den er sich erhofft hat. Außerdem beklagt er wieder seine angeschlagene Gesundheit und freut sich über jede freundschaftliche Zuneigung, die man Proust in Zeiten seiner Nöte entgegenbringt.

An Constantin Brancovan
Januar 1901, hier ist Proust 30,5 Jahre alt.
Cher ami,  
ich wage nicht zu glauben, dass die geistigen Wellen, von denen das neue Institut für Psychologie spricht und die große Entfernungen überwinden können, um die Person zu erreichen, an die man gerade gedacht hat, real genug sind, um Ihnen zugetragen zu haben, dass ich, seit dem Neujahrstag an einer Grippe leidend, auf einen beschwerdefreien Tag wartete, um Ihnen zu sagen, wie traurig ich über Ihre Abwesenheit bin und wie dankbar über die Zeichen der Zuneigung, mit denen Sie mich liebenswerterweise zu Trost und Stärkung bedacht haben. All jene, die wissen, was Freundschaft ist, werden Ihre Liebenswürdigkeit zu schätzen wissen.

Immer wieder liest man, wie sehr dieser junge Mensch unter seinen Erkrankungen leidet, was mich sehr betroffen stimmt. Noch mehr, als er seine beruflichen Ziele einfach nicht zu erreichen scheint, und glaubt, auch seine Eltern damit enttäuschen zu müssen.
Aber wenn Sie bedenken, dass ich, stets krank, ohne jegliches Vergnügen, ohne Ziel, ohne Beschäftigung, ohne Ambition, mein abgeschlossenes Leben vor mir und bedrückt von dem Kummer, den ich meinen Eltern bereite, wenig Freuden habe, werden Sie verstehen, welche Bedeutung freundschaftliche Gefühle für mich haben können und wie stark in meinem der Welt abgewandten Herzen die Sympathien sind, die ich für meine Freunde empfinde, und wie dankbar ich denen bin, die mir, wie Sie, mit so viel feinfühliger Zuneigung und Liebenswürdigkeit begegnen. (275)

Hier erfolgt noch ein interessanter Link von der Frankfurter Allgemeine: 
Proust in Venedig. Wo ist seine Reisegruppe? Ein Artikel von Konrad Heumann. 

Zum Schluss hat auch Anne ein Zitat finden können, das ihr zugesagt hat. Ihr Schwerpunkt sind kritische Frauenthemen, und sie neugierig auf Proust ist, welchen Umgang er zu seinen weiblichen Zeitgenossinnen zu pflegen scheint.

Anne schreibt:
Wie erfrischend zu lesen, wie ein Künstler das Werk einer Künstlerin lobt. Und nicht, wie es heute oft der Fall ist, sich an deren Äußerlichkeiten abarbeitet, sodass Frauen gezwungen sind, auf ihre besondere Art darauf zu reagieren. Ich empfehle da die Aktion #dichterdran, die auf Twitter Blüten treibt: 

Hier thematisch eine Verlinkung zu Twitter.

An Anna de Noailles
Mittwoch, ein ½ Stunde nach Mitternacht (I.? Mai 1901)
Madame,ich erwarte Ihre Verse mit der ängstlichen Gewissheit dessen, der neuer Wunderwerke der Schönheit harrt. Ich war deren so sicher wie der Prinz im Märchen, dem die arbeitsamen Bienen die Rosenstöcke bestäuben, sicher sein durfte, Honig und Rosen zu bekommen. Denn ein geniales Naturell handelt unfehlbar wie die Natur. Und was Ihrem Hirn entspringt, wird immer so wertvoll sein, wie der Duft der Weißdornblüten immer köstlich sein wird…“ (277)

Dies ist wirklich ein schönes Zitat, liebe Anne, das du Dir herausgesucht hast.

Meine Gedanken

Obwohl Marcel Proust keinen leichten Lebensweg hat, bleibt er im Austausch mit seinen Briefpartner*innen immer sehr höflich, dankbar, wertschätzend und zuvorkommend. Mir hat es gefallen, dass er die Freundschaft zu wertschätzen weiß, denn unter vielen seiner Freund’innen darf er sein, wie er ist, mit all seinen Schwächen. So wirken zumindest die Briefe auf mich. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie das ist, wenn man seinen Begabungen nicht so nachgehen kann, wie man möchte, weil einem durch die verschiedenen Hindernisse die Kraft dazu genommen wird. Doch auch hier muss ich sagen, ganz erfolglos ist Proust auch diesmal nicht, denn immerhin wurden seine Ruskin-Übersetzungen veröffentlicht, wie ich oben schon geschrieben habe. Aber er hat auch Glück, denn er findet immer ein verständiges Ohr unter den Freund’innen, wo er es sich erlauben kann, sich über seine Nöte auszusprechen. Und hier muss ich Proust auch recht geben; es ist nicht selbstverständlich, Verständnis bei anderen Menschen zu finden. Vielleicht verlieh ihm dies Kraft und Mut, weiter zu machen, um nicht aufzugeben.

Telefongespräch mit Anne

Anne und ich haben uns auch sehr ausführlich über Prousts Werdegang ausgetauscht. Dass er als Übersetzer in seinen Texten viele Fehler begangen hat, kann nicht nur Proust angelastet werden. Heute dürfen nur Menschen sich als Übersetzer ausgeben, die neben der Fremdsprache auch die Ausbildung dazu vorzuweisen haben. Anne ist der Meinung, dass die Menschen früher so geschrieben haben, wie sie gesprochen hätten. Ich erinnere mich, dass Proust mit mehreren Sprachen aufgewachsenen ist. Deutsch und Französisch als Erst- und Zweitsprache, später kamen Englisch und Italienisch hinzu. Arm ist er in seiner Multilingualität nicht, aber reichen diese Kenntnisse auch aus, um fremdsprachige Bücher in die Muttersprache zu übersetzen? Ich bin gespannt, wie sich Proust noch weiterentwickelt, und ob er einen anderen Weg, als den des Übersetzers, finden wird.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 280 – 290.
_________________
Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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Montag, 2. September 2019

Politische Ansichten und neues Schreibprojekt

Weiter geht es mit den Proust - Briefen von Seite 260 bis 271. 

Auf den folgenden elf Seiten geht es um Freundschaft, um Politik, und um den  beruflichen Werdegang.

Die ersten Zeilen des ersten Briefes an die Mutter brachten mich zum Lachen ...

An Jeanne Proust
Oktober 1899
Ma chére petite Maman,von Mitternacht bis eine Viertelstunde nach Mitternacht habe ich vor Deiner Tür Wache gestanden und gehört, wie Papa, sich schnäuzte, nicht aber, dass er Zeitung las, sodass ich es nicht gewagt habe, einzutreten. (260)

Diese Szene erinnerte mich nämlich an den kleinen fiktiven Marcel aus der Recherche von BD 1 als er zu fortgeschrittener Abendstunde von der Mutter ohne einen Gutenachtkuss ins Bett geschickt wurde, da die Familie Proust Gäste hatte ... Der kleine Marcel konnte nicht einschlafen und hoffte insgeheim, seine Mutter würde doch noch in sein Zimmer kommen, um ihm den ersehnten Gutenachtkuss zu geben. Die Mutter kam aber nicht. Also stieg der Marcel aus seinem Bett und stellte sich an das Treppengeländer und lauschte, ob die Gäste nicht endlich gegangen waren. Aber sie waren noch da. Er ging wieder zurück ins Bett, er konnte aber nicht schlafen, obwohl es schon sehr spät war.
Der Abend war mittlerweile schon um und die Nacht längst eingebrochen, als die Gäste sich von ihren Gastgeber*innen verabschiedet hatten. Marcel lauschte in seinem Bett noch immer mit seinen großen Kinderohren, und er hörte, als die Eltern endlich die Treppen hochgelaufen kamen, um selbst auch ins Bett zu gehen. Marcel rief daraufhin seine Mutter, um schließlich doch noch zu seinem Gutenachtkuss zu kommen. Die Eltern sind überrascht, dass der kleine Kerl noch nicht eingeschlafen ist. Als die Mutter schließlich nach ihm schauen wollte, war es der Vater, der sie zurückhielt, um den Sohn nicht zu arg zu verweichlichen. Somit gingen die Eltern zu Bett, ohne Marcel einen Gutenachtkuss verpasst zu haben.

Dieses Lauschen finde ich so phänomenal, dass Proust vor verschlossener Türe sehr genau bestimmen konnte, was die Eltern im Bett so alles trieben. Doch er hätte auch anklopfen können …

Es gibt neue Berufspläne. Auf die Anregung seiner Mutter probiert sich Proust für die nächsten fünf Jahre als Übersetzer aus. Als Schriftsteller scheint er finanziell auf keinen grünen Zweig zu kommen, obwohl er nichts anderes tut als schreiben. Er ist gezwungen, seine Romanprojekte erst mal einzustellen. Übersetzen möchte er die Werke von John Ruskin. John Ruskin ist ein britischer Schriftsteller, der 1819 – 1900 in England gelebt hat. Zudem war er auch Kunsthistoriker und Sozialphilosoph. Übersetzen wollte Proust Die sieben Leuchtern; im Original, The seven Lamps of Architecture. Proust interessiert sich für die Studien, die Ruski über die französischen Kathedralen betrieben haben soll. In der Nationalbibliothek findet er Teile von Ruskins Buch in französischer Übersetzung vor.

Aus der Fußnote geht hervor:
Das Resultat dieser Arbeit allerdings ist, dass Proust das Romanprojekt endgültig fallen lässt und sich stattdessen, ermutigt und unterstützt von seiner Mutter, die nächsten fünf Jahre seinen beiden Ruskin-Übersetzungen widmen wird. (268)

In dem Brief an die Mutter bittet er sie um Übersetzungshilfen und gibt dazu gewisse Anweisungen vor.

Wie aus den nachfolgenden Briefen hervorgeht, wirkt Proust auf mich von seinem Gemüt her ein wenig gedrückt. Wiederholt macht er auf seine Erkrankungen aufmerksam, die ihn dermaßen schwächen würden, dass er keine Kraft findet, weiter zu schreiben. Andererseits zeigt er aber auch Probleme mit seinen Schriftstücken, weil er zwar viel ausprobiert hat, aber nichts fertigstellen konnte.

Der nächste Brief wird wieder politisch, die Dreyfusaffäre scheint trotz Begnadigung in der französischen Gesellschaft noch nicht ausgestanden zu sein.

An Pierre d`Orleans
November 1899
Mon cher ami,ich habe Ihnen nicht früher geantwortet, weil ich ziemlich schwer erkrankt war. Sie fragten mich, ob sich all das Schlechte und Gute, das ich im Regiment (1889/1890, Anm. d. Verf.) versprach, bewahrheitet habe. Zwei Dinge zumindest haben sich nicht geändert. Meine Gesundheit hat sich nach und nach bis ins Unerträgliche verschlechtert, und Tage, an denen ich nicht leide, sind eine große Seltenheit. (261)

Pierre d´Orleans muss ein alter Freund aus dem Militärdienst gewesen sein. Viele junge Männer, Rekruten, verachten das strenge Klima in der Wehrmacht, anders Proust, der vorgibt, sich dort wohlgefühlt zu haben. Weiter schreibt er:
Das Gefühl der Zuneigung, das ich jedem einzelnen meiner Vorgesetzten, die so gut zu mir waren, entgegenbringe, empfinde ich auf abstrakte Weise für die ganze Armee. Im Laufe meiner geistigen Entwicklung bin ich nach und nach dahin gekommen, sie als die Lebensform zu betrachten, für die ich die meisten Sympathien aufbringe. Ich bedauere, dass meine Gesundheit mir nicht gestattet hat, in der Armee zu bleiben. (262)

Mich wundert, wie vielen Leuten Proust schon seine stärkste Sympathie bekundet hatte. Meint er auch, was er so schreibt?
Und wenn ich höre, wie sie (die Armee, M. P.) auf dumme und hässliche Weise angegriffen wird, erfüllt mich das mit Zorn und Trauer. (Ebd.) 

Auch von diesem Freund wird Proust mit der Dreyfussaffäre konfrontiert, in welcher Beziehung er zu dieser stehen würde. Proust bekennt sich schließlich ehrlich zu Dreyfus, wo er sich anfangs eher mit seiner Meinung zurückhielt.
Nein, in der Affäre (ich spreche nicht von dem, was um die Affäre herum eine Rolle gespielt hat, vom Militarismus oder Antimilitarismus, Antiklerikalismus usw., denn noch einmal: mir [sic!] graut vor dem Antimilitarismus wie vor dem Antiklerikalismus), in der Justiz-Affäre, war und bin ich Dreyfusard, ich glaube an Dreyfus`Unschuld, ich bewundere die Selbstlosigkeit von Oberst Picquart.

Oberst Marie Georges Picquart, siehe strammstehender General auf dem Gemälde oben, war als französischer Offizier und Kriegsminister bekannt. Außerdem war er Dozent an der Kriegsakademie. Alfred Dreyfus war ein Schüler von ihm. In der Dreyfusaffäre war er Dreyfus-Gegner, später aber, als er Beweise zu dem wahren Täter findet, setzt er sich für die Unschuld Dreyfus´ein, was bei seinen Vorgesetzten nicht gern gesehen wird, und Picquart mit harten Konsequenzen rechnen musste.

Der Spiegel schreibt dazu:
Im März 1896 entdeckt der neue Geheimdienstchef, Oberstleutnant Georges Picquart, bei Überarbeitung des Dreyfus-Dossiers etwas Sensationelles: Die Fetzen eines nicht abgeschickten Telegramms, das als "petit bleu" in die Geschichte eingehen wird. Absender ist der deutsche Militärattaché Schwartzkoppen, Empfänger ein Major im französischen Generalstab namens Charles Ferdinand Walsin-Esterhàzy.Und Picquart entdeckt weiter: Die Handschrift Esterhàzys ist deckungsgleich mit der Handschrift auf dem "bordereau". Doch der Generalstabschef de Boisdeffre will davon nichts hören,Picquart wird als Regimentskommandeur nach Tunesien abgeschoben. Er hatte ursprünglich wie fast alle Militärs an die Schuld des Hauptmanns Dreyfus geglaubt, doch jetzt weiß er: Esterhàzy ist der Täter. Er gelobt: "Ich werde dieses Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen." Und er duelliert sich mit Henry.Inzwischen ist ein Verfahren gegen Esterhàzy in Gang gekommen. Ein Militärgericht spricht ihn unter großem Applaus des Publikums frei, obwohl er einen üblen Ruf als Spieler, Börsenspekulant und Bordellbesitzer hat. Für die Rechtspresse ist er ein "Opfer der Juden".Jedoch, im selben Jahr 1898 werden einige der Fälschungen des Oberst Henry entdeckt, der gesteht und wird verhaftet. Im Gefängnis wird er mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Drumonts "Libre Parole" ruft zu Spenden für seine Witwe auf. 25 000 Franzosen zeichnen, unter ihnen 1000 Offiziere und 300 Priester. Die gewaltigste publizistische Bombe der Affäre explodiert am 13. Januar 1898: In der Tageszeitung "L'Aurore" schleudert der Schriftsteller Emile Zola seinen berühmten "Offenen Brief an den Präsidenten der Republik" in die Welt. Schlagzeile des sechsspaltig aufgemachten Artikels: "J'accuse" (Ich klage an). Es ist nach den Worten eines französischen Politikers "der größte revolutionäre Akt des Jahrhunderts". (Spiegel-Online, Juli 2006)

Proust sorgt sich, dass man ihn wegen seiner politischen Meinung ablehnen könnte und bittet seinen Freund um Loyalität und Toleranz.
Und wie kann ein mir unerklärliches Phänomen der Massenpsychologie, die uns doch dabei helfen soll, bislang geheimnisumwitterte Epochen zu verstehen, bewirken, dass man sehr wohl verschiedener Meinung in Dingen der Religion, der Moral, der Kunst, der Politik sein kann, ohne dabei die Freundschaft zu opfern, aber eine unterschiedliche Auffassung von der Schuld eines Menschen – die eine Frage der Tatsachen und keine prinzipielle Frage ist – zu einem unüberwindlichen Hindernis in den Herzen wird. Dies allein hat das Antlitz der ganzen Gesellschaft verändert, es ist das einzige Zeichen, die einzige Parole, mit der man sich zu erkennen gibt, die die Menschen vereint oder trennt. (263)

Wie recht er hat. Allerdings denke ich gerade über unsere aktuelle politische Lage nach, da bei uns immer mehr Wähler rechts wählen. Von Protestwählern kann keine Rede mehr sein. Ich könnte mit keinem rechten Wähler befreundet sein, der die demokratischen Grundwerte verstößt und Menschen ablehnt, die nicht in deren Menschenbild zu passen scheint. Da ist Proust doch zu wenig wählerisch, und hinterlässt bei mir den Eindruck, bei jeden beliebt und akzeptiert sein zu wollen. Wie kann ich mit einem Menschen befreundet sein wollen, der das Ziel hat, einem anderen Menschen schaden zu wollen? Die Mitglieder einer rechten Partei gaben in unserem Land vor ein paar Jahren öffentlich zu bekennen, sie würden sogar Flüchtlingskinder an der deutschen  Grenze abknallen ... Wie sehr die Dreyfusaffäre die Französische Gesellschaft spaltet, zeigt Proust an folgendem Gedanken:
Ist ein ruhmreicher General Dreyfusard, wird er von der Aristokratie verstoßen, ist ein Priester Dreyfusard, beschimpfen ihn die Katholiken. Ist hingegen ein Zivilist ein Dreyfus-Gegner, so gereicht ihm das schon zu einer Art von militärischer Ruhmestat; gibt sich ein Radikaler als Dreyfus-Gegner zu erkennen, wird er von allen Klerikalen gewählt, ist ein Jude Dreyfus-Gegner, genießt er den Schutz der Antisemiten (…). Das ist es, und es gibt nichts anderes mehr als das. >Ist man´s oder ist man´s nicht, das ist hier die Frage. < (263f)

An Marie Nordlinger
Dezember 1899

Marie Nordlinger ist uns aus den letzten Briefen bekannt. Sie ist eine deutsche Cousine von Reynold Hahn, und die Proust hilft, Ruskin zu übersetzen. Sie ist Jahrgang 1876, also fünf Jahre jünger als Proust, und lebte bis 1961. Sie pendelt häufig zwischen Frankreich und Deutschland.

Proust macht wieder großzügig Komplimente, beklagt, dass Marie Nordlinger aktuell nicht in Paris weilt, wenn er schreibt:
… und was für ein Jammer, dass wir uns nur so flüchtig kennengelernt haben, als sie hier waren, und ich nur so wenig von Ihnen gehabt habe. Denn Briefe wie derjenige, mit dem Sie mich letzthin beehrt haben, rufen etwas ganz anderes als Dankbarkeit hervor, nämlich wahre Sympathie. (266)

Wieder sehr glamourös und wohlwollend ausgedrückt. Wer würde hier nicht weich werden? Weitere Lobpreisungen, auf die ich wegen der Überlänge nicht eingehen möchte, sind dem Brief zu entnehmen.
Und die Sympathie verlangt nach dem Umgang mit den Menschen und begnügt sich nicht mit der reinen Vorstellung. Sie ist nicht so weise wie Sie, wenn Sie sagen: >Ich weiß nicht, ob ich Freunde unter den Lebenden habe.<

Proust moniert, dass M. N. nicht einmal die Bücher als Freunde betrachten könne. Dazu schreibt er: 
Mit Büchern als Freunden gibt sie sich nicht zufrieden. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen scheinbar widerspreche. Sie selbst geben mir diese anspruchsvollere und weniger leicht zu befriedigende Sympathie ein, die, hervorgerufen durch ihre schöne Sprache und Ihre ausgesuchte Zuvorkommenheit, es nicht bei sich selbst belässt, sondern sich auf ihre Person richtet. (Ebd.)

Später schreibt er weiter, dass er selbst aufgrund seiner Erkrankungen zu schwach sei fürs Schreiben, und dass sogar seine Fantasie darunter zu leiden habe. Hier wirkt Marcel depressiv, ein so junger Mensch, der sich ständig mit seinen Krankheiten durchzuschlagen hat, und er dadurch stark am Schreiben gehindert wird.
Ich arbeite schon seit Langem an einem Werk, das einen sehr langen Atem erfordert, habe aber nichts fertiggestellt. 

Aus der Fußnote geht hervor, dass mit dem noch unvollendeten Werk Jean Santeiul gemeint sein könnte. Dafür gebraucht Proust ein wunderschönes Bild, in dem er alle seine unvollendeten Schriften eher als Ruinen betrachtet. Entlehnt ist dieses Gleichnis einem Roman Middlemarch, geschrieben von Georg Eliots. (266)
Seit ungefähr zwei Wochen beschäftige ich mich mit einer kleinen Arbeit, die vollkommen anders ist als das, was ich normalerweise treibe, einer Arbeit über Ruskin und bestimmte Kathedralen. Wenn es mir, wie ich hoffe, gelingt, sie in einer Zeitschrift zu veröffentlichen, werde ich sie Ihnen gleich nach Erscheinen schicken. Hätte ich etwas anderes veröffentlicht, hätte ich es Ihnen geschickt, aber bislang habe ich nur meine Schubladen vollgestopft. (267)

An Marie Nordlinger
Kurz nach dem 21. Januar 1900

Und dennoch hat diese Übersetzungsarbeit auch einen Haken, so berichtet Proust darüber.
Hat Reynaldo Ihnen gesagt, dass dieser böse Ruskin verboten hat, seine Werke ins Französische zu übersetzen, sodass meine bescheidenen Übertragungen unveröffentlicht bleiben werden? Aber in den Studien, die ich über ihn schreibe, werde ich lange Auszüge daraus anführen. (269)

Abwarten, ich bin gespannt, wie sich diese Arbeit noch entwickeln wird, denn wie aus der Fußnote hervorgeht, stirbt Ruskin am 21 Januar 1900 im Alter von 81 Jahren an einer Influenza.

An Marie Nordlinger
Anfang Februar 1900

Wie ich in meinen Recherchen im Internet entnehmen konnte, wird es Marie Nordlinger sein, die ihm später bei den Übersetzungsarbeiten von Ruskins Studien weiterhin behilflich sein wird. Diese Hilfe wird auch schon im nächsten Brief vom Februar 1900 deutlich. Marie Nordlinger habe ihm diverse Zeitungsartikel und Skripte von Ruskin zukommen lassen. Weitere Details sind dem Brief im Buch zu entnehmen.


Meine Gedanken zu Proust

Diese Briefe haben mich innerlich so ziemlich aufgewühlt. Proust hat mein Mitgefühl, weil ich diese Art von Schreibstress sehr gut selbst kenne. Ehemals hatte auch ich viel ausprobiert, bis ich ganz aufgehört hatte, literarische Texte zu verfassen, weil mich dieser Druck innerlich so penetrant genervt hatte. Immerhin hat Proust mit seiner siebenbändigen Recherche ein Lebenswerk geschaffen, das ihm so schnell keiner nachmachen kann. Erfolglos war er nicht. Nur lebt es sich in einer Gesellschaft einfacher, wenn man für sein Einkommen selbstständig aufkommt, ohne von anderen abhängig zu sein. Zu viele Ideen im Kopf, zu viele Gefühle in der Seele, diese können einen richtig ausbremsen. Erst recht, wenn man wie Proust mit noch verschiedenen Erkrankungen fertig werden muss. Deshalb bin ich auf seine weitere Entwicklung gespannt. Und es ist schön, zu wissen, dass er eine verständige Mutter hat, die zu ihrem Sohn steht und ihn weitestgehend zu unterstützen bereit ist.

Ich erinnere mich an das letzte Telefonat mit Anne, als wir darüber gesprochen hatten, dass Proust in seinem Alter noch von den Mitteln der Eltern abhängig ist. Und in diesen Briefen an die Mutter und an die Freundin Marie Nordlinger finden wir die Antwort darauf. Proust ist einerseits wirklich zu krank, um in Ruhe arbeiten zu können, und andererseits ist er dermaßen produktiv, dass er von zu vielen Schreibideen sich selber zu blockieren scheint. Leistungsstress ist ein Killer, ein Krafträuber, der führt im schlimmsten Fall zu einem physischen und geistigem Burn-out. Ich hoffe, dass Proust mit seinem Supertalent noch auf seine Kosten kommen wird, in der Form, dass er vom Schreiben zu leben in der Lage ist.

Telefongespräch mit Anne
Anne hat mir von einem Erlebnis mit ihrer Freundin berichtet, die eine sehr komplizierte politische Meinung hätte, die häufig recht diskriminierend ausländischen Menschen gegenüber wäre. Sehr undifferenziert, sehr verallgemeinernd, sodass Anne irgendwann die Freundschaft lösen musste, weil die politische Haltung der Freundin immer extremer wurde. Als Anne diese Szene zwischen Proust und Pierre d`Orleans gelesen hatte, musste sie sich an diese Freundin zurückerinnern und hinterfragte ihr Verhalten. Nein, ich finde, dass Anne sich der Freundin gegenüber richtig verhalten hat, meine Meinung dazu habe ich oben schon geäußert. Proust ist, ich wiederhole, einfach zu wenig wählerisch. Politisch betrachtet konnte mir Anne zustimmen, auch sie fand einen Zusammenhang zwischen den politischen Problemen heute und denen aus Prousts Zeiten. Einen oder mehreren Menschen Schaden zu fügen, ist eine Gesinnung, die ich niemals unterstützen würde. 

Und was Prousts Schreiben betrifft, so wurde es auch für Anne durch diese Briefe deutlich, weshalb er vom davon einfach nicht leben konnte.

Und meine persönlichen Gedanken, die ich zu Proust geschrieben habe, fand Anne sehr interessant. 

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 271 – 280.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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