Freitag, 11. Dezember 2015

Philip Roth / Amerikanisches Idyll (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat sich für mich als starker Tobak erwiesen. Meine Freundin hatte recht. Es ist emotional recht lastig. Nicht, dass mir das neu wäre. Ich habe schon ganz andere Bücher hinter mich gebracht, aber trotzdem. Die Sprache und die Bilder sind sehr mächtig, sehr mächtig. Philip Roth schreibt über eine Familie, die 1968 auseinandergebrochen ist ...

Und wieder befinden sich jede Menge Zettelchen zwischen den Buchseiten. Viel zu viele, sodass ich beschlossen habe, sie auf den Seiten ruhen zu lassen. Vielleicht für ein späteres Gespräch …

Von all den Büchern, die ich bisher von Philip Roth gelesen habe, ist das vorliegende Buch das wuchtigste Buch. Nach meinem Geschmack auch das beste Buch. Meine Freundin sieht es ähnlich …

Gestern Abend habe ich mit ihr telefonisch gesprochen und habe sie in ihrem Urteil zu dem Werk auch bestätigt. S. dazu das Posting Buchvorstellung.

Sie wird nun das Buch auch weiter lesen. Mal schauen, ob sie bis zum Schluss durchhalten wird …

Das Buch umfasst 575 Seiten und etwa die letzten 70 Seiten haben sich ein wenig gezogen … Der Autor führt in seinem Werk zu den Levovs von der ersten bis zur dritten Generation eine intensive Familienanalyse durch und zieht auch die amerikanische Gesellschaft mit in Betracht. Niemand bleibt davor verschont. Damit bekommt man auch ein wenig amerikanische Geschichte gezeigt.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Für «Amerikanisches Idyll» erhielt Philip Roth den Pulitzer-Preis. Philip Roth legt hier einen unvergleichlichen Roman vor, eine Klage über die in diesem Jahrhundert gegebenen und gebrochenen Versprechen von Wohlstand, öffentlicher Ordnung und häuslichem Glück. Die Hauptfigur ist Swede Levov, ein legendärer Sportler an der Highschool in Newark, der in den boomenden Nachkriegsjahren aufwächst, eine ehemalige Miss New Jersey heiratet, die Handschuhfabrik seines Vaters erbt und in ein Haus im idyllischen Dörfchen Old Rimrock zieht. Und dann verlässt ihn eines Tages im Jahr 1968 sein amerikanisches Glück. Über Nacht wird Swede aus dem ersehnten Idyll gerissen und in eine uramerikanische Raserei geworfen. 
Den Titel habe ich mit dem Hintergrund, der mir nun zur Verfügung steht, ein wenig zynisch aufgefasst. Von einem rundum harmonischen, idyllischen Familienleben folgt der Verfall in ein absolutes irreparables Familienchaos.

Sehr betroffen hat mich das Schicksal dieser Familie gestimmt. Swede Levov und seine Frau waren sehr bemüht, ihr einziges Kind namens Merry eine glückliche Kindheit zu verschaffen, die leider missraten ist und sich der Vater den Kopf zermartert, was sie als Eltern nur an der Erziehung falsch gemacht haben? Die Mutter verkraftet die terroristische Entwicklung ihrer Tochter nicht und wird sowohl stationär als auch ambulant psychiatrisch behandelt. Später lässt sie sich liften, damit man ihre Sorgen im Gesicht nicht mehr zu erkennen weiß ... Das Liften scheint in Amerika unter den Wohlhabenden Usus zu sein … Dies zeigt mir, dass menschliche Schwächen in der amerikanischen Gesellschaft nicht sein dürfen ...

Merry litt in der Vergangenheit ein wenig unter dem Schönheitsideal ihrer Mutter. Sie wollte keinesfalls so werden wie sie. Aus Protest achtete sie nicht auf ihre Linie und für ihr Alter war sie recht mollig. Sie wollte partout nicht wie die Mutter so zartbesaitet werden, wobei die Mutter keineswegs übermächtig stolz auf ihre Schönheit war. Auch Merrys Stottern scheint unbewusst die Folge einer Protestreaktion zu sein. Als sie politisch aktiv wird, schafft sie es, sich fließend auszudrücken ...
Dem Vater gegenüber wirft sie indirekt vor, ein spießiges und konservatives Leben zu führen. Er würde immer das tun, was sein Vater und die Gesellschaft von ihm erwarten. Merry fühlte sich von den Eltern regelrecht angewidert, reißt von zu Hause aus und entwickelt sich immer mehr zu einer gefährlichen Terroristin. Für die Familie ist dies ein übler Traum, aus dem es kein Erwachen gibt. Die süße kleine Merry, die in der Kindheit recht häufig mit dem Vater kokettierte. Ich möchte, dass du mich so küsst, wie du Mama küsst. Was würde Sigmund Freud wohl zu dieser Szene sagen? Ein Ödipuskomplex, aus dem Merry nicht herausgewachsen ist?

Ich hatte ziemlich viel Mitgefühl, vor allem mit dem Vater, der seine Tochter über alles geliebt hat. Was ist daran so verkehrt, ein angepasstes Leben zu führen? … Wie erzieht man ein Kind, damit es keinen Schaden erleidet? Die Eltern haben aus meiner Sicht ihr Bestes gegeben …

Merry schließt sich 1968 der Studentenrevolte an, obwohl sie erst 16 Jahre alt ist. Sie kämpft gegen die Unterdrückung der Vietnamesen und der Inder, kämpft gegen den Rassismus gegenüber der schwarzen Bevölkerung, kämpft gegen den Faschismus. Sie setzt sich für die Arbeiterklasse ein, die in Amerika für wenig Lohn beschäftigt waren. Sie rebelliert gegen die Raff- und Besitzgier der Amerikaner und gegen deren Oberflächlichkeit ... Sie lehnt die Wohlstandsgesellschaft ab, die häufig durch die Ausbeutung niederer Klassen zu ihrem Reichtum geraten ...

Im Alter von elf Jahren entnimmt Merry aus den TV-Nachrichten, wie buddhistische Mönche aus Protest sich selbst anzünden ... Menschen stehen drum herum und beobachten neugierig dieses Spektakel, ohne eingegriffen zu haben. Merry ist entsetzt, dass sich niemand für diese Mönche einsetzt, um sie aus dem Feuer zu reißen. Entsetzt, dass es einen Fotografen gibt, der diese Aktion filmt. Über diese politischen Aktivisten wird in der Familie gesprochen, damit Merry dies seelisch besser verkraften kann ...

Ziemlich nachdenklich stimmte mich auch die Art und Weise, wie man in Amerika ein Stipendium für das Studium erwerben kann. Wer z. B. den Schönheitswettbewerb gewonnen hat, bekommt ein Stipendium ... Auch das widerte Merry an. Mich ehrlich gesagt auch.

Und dann die Bombe, die Merry angeblich selbst gebastelt haben soll, die sie hochgehen ließ, mit der sie vier unschuldige Menschen getötet hat. Ein krasser Widerspruch zu ihrer Forderung, für den Frieden Kriege einzustellen.
Später, fünf Jahre später, schließt sich Merry einer reaktionären Sekte an.

Merry wird immer exzentrischer. Sie ist gegen jegliche Gewalt. Durch den Beitritt jener Sekte lernt sie, keine Tiere, dann auch keine Pflanzen mehr zu essen, und sogar die Körperpflege hat sie so nach und nach eingestellt, da sie dem Wasser nicht wehtun möchte … Das habe ich ja noch nie gehört, dass man Wasser Schmerzen zufügen kann, lol.

Was Richtig und was Falsch, was Gut und was Böse ist, wird in dem Buch von mehreren Figuren aus den höheren Kreisen recht ausführlich diskutiert ...

Mein Fazit?
Kinder können seelisch erkranken, wenn sie von den Eltern vernachlässigt werden. Kinder können seelisch erkranken, wenn sie zu viel Liebe erfahren. Wo ist der Maßstab? Wer kann mit Bestimmtheit schon sagen, was zu viel und was zu wenig ist? Und wer ist schon fehlerfrei?
Sich für eine bessere Welt einzusetzen ist an sich auch nichts Schlechtes. Sich gegen die Gewalt auflehnen auch nicht. Die Art und Weise, mit welchen politischen Mitteln dies betrieben wird, ist entscheidend. Man kann nicht gegen Gewalt sein, und gleichzeitig selbst Gewalt anwenden. Das wäre für mich ein krasser Widerspruch ... Wie oft sprach Merry von Gandhi, aber Gandhi hat ohne Waffen gekämpft …  

Amerikanisches Idyll ist ein Buch, das man keinesfalls alleine lesen sollte. Es gibt so viel darüber zu sagen, und man unmöglich alles schriftlich festhalten kann. Ein Buch, das mich sicher noch Tage danach beschäftigen wird, bis ich es ordentlich verdaut habe.
Das Buch regt sehr zum Nachdenken an. Es ist nichts für faule Denker :-).

Es erhält von mir zehn von zehn Punkten.

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Auch nach der schwärzesten Nacht geht immer wieder die Sonne auf.
(Agatha Christie)

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