Samstag, 29. Dezember 2018

Ari Folman und David Polonsky / Das Tagebuch der Anne Frank (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Eine Glanzleistung, Glückwunsch an die beiden Künstler Folman und Polonsky, dieses Tagebuch über ein neues Genre ausgearbeitet zu haben, ohne es zu verzerren. Mich hat das Buch einfach nicht mehr losgelassen.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Zu der Handlung muss ich nicht viel sagen, denn jeder kennt das Schicksal der Anne Frank und deren Familie. Auf den ersten Seiten feiert man im Sommer 1942 Annes 13. Geburtstag. Hier lebte die Familie schon seit 1933 in Holland. Doch nicht mehr lange, dann werden die Juden auch in diesem Land in ihren Lebensrechten sukzessiv beschnitten. Sie dürfen nicht mehr ins öffentliche Schwimmbad, keine Straßenbahn und auch kein Fahrrad fahren. Anne weiß plötzlich die banalsten Dinge zu schätzen, die für sie einst so selbstverständlich waren, wie schön es doch war, mit der Straßenbahn zu fahren … 

Das Leben wurde in Deutaschland noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für die Juden immer unerträglicher, bis der Vater Otto Frank schon 1933 beschlossen hatte, nach Holland zu gehen, um sich dort beruflich neuzuorientieren. In Amsterdam fand er als Direktor in einer Firma eine neue Arbeit und holte seine Familie nach. Doch auch in dem angeblich liberalen Holland waren die Juden nicht mehr sicher, sodass die vierköpfige Familie Frank von guten Freunden in ein Versteck gebracht wurde, das sich in dem Bürogebäude von Annes Vater befindet, allerdings im Hinterhaus. Eine weitere Familie namens van Daan, dreiköpfig, fand hier Unterschlupf, später kam noch ein Zahnharzt hinzu.

Denn als die Familie im Juli 1942 erneut ihre Koffer packen musste, um ins Hinterhaus zu ziehen, fand ich so rührend, als Anne sagte, dass sie viel Unsinniges mitnehmen würde; Fotos, Tagebuch, Kuscheltiere …, da ihr Erinnerungen lieber seien als schöne Kleider, während ihre ältere Schwester Margot eher Nützliches mitnehmen möchte, bis sie einsah, dass Objekte, die Erinnerungen erzeugen, doch auch für sie wichtig wurden.

Im Amsterdamer Hinterhaus beginnt nun ein neues Leben für diese acht Menschen. Das kann man sich kaum vorstellen. So ein Leben hinter verschlossenen Türen und Fenstern. Fast zwei Jahre haben diese Menschen hier zugebracht …

Skurril finde ich die auf vornehm machende Mitbewohnerin Madame Auguste van Daan. Sie hatte als Kostbarkeit ihren Nachttopf mitgebracht und ihre besten Kleider und Pelze, da sie ganz großen Wert legt auf schicke Kleidung und vornehme Sitten, die nicht immer mit Annes Vorstellungen und Verhalten konform gingen …

Anne schreibt in ihr Tagebuch, das sie von ihrem Vater zum Geburtstag geschenkt bekommen hat. Sie gibt ihm den Namen Kitty, und redet mit ihr, als wäre Kitty eine menschliche Freundin und vertraut ihr ihre Geheimnisse an. Sie schreibt alles Intime, alles Persönliche über sich und über ihre Mitmenschen hinein. Ihre Gefühle, Gedanken und jede Menge fantastische Vorstellungen, um ihre Welt um sich herum besser verstehen und verarbeiten zu können. Jede Menge philosophische und selbstreflektierende Betrachtungen im Porträt der Anne Frank sind in dem Tagebuch abgebildet.

Am 4. August 1944 wurden durch einen Verrat die im Haus exilierten Menschen gefunden und von der Gestapo abgeführt. Von der Familie Frank hat nur einer überlebt. Es war Otto Frank. Nach dem Krieg sorgte er dafür, dass Annes Tagebuch als ein wichtiges Zeitdokument veröffentlicht wurde.

Anne war ein so weiser, junger Mensch. Sie hat mich tief berührt und tief beeindruckt, weil sie mich auch ein wenig an meine eigene Jugend erinnert hat. Siehe dazu mehr im Unterpunkt Meine Identifikationsfigur. 

Durch ihre Art ist sie häufig mit Madame van Daan in Konflikt geraten, die in so einer schweren Zeit noch immer nicht unterscheiden konnte vom Wesentlichen und vom Unwesentlichen. Auch mir war sie schier unsympathisch. Sie hetzte auch oft die Familie Frank gegen das Kind auf.
Wenn ich zeichnen könnte, hätte ich sie am liebsten in dieser Haltung gezeichnet, so komisch war dieses kleine, verrückte, dumme Weib! Man lernt die Menschen erst gut kennen, wenn man einmal richtigen guten Streit mit ihnen hatte. Erst dann kann man ihren Charakter beurteilen. (2017, 37)

Auf der Zeichnung ist diese Dame zusammen mit ihrem Mann als zwei feuerspeiende Drachen abgebildet, die sich gegenseitig anfauchen, denn diese Madame streitet nicht nur mit Anne, sondern auch mit ihrem Mann über belanglose Dinge.

Die van Daans haben einen Sohn namens Peter, der nicht viel älter als Anne ist. Die beiden freunden sich an, und verlieben sich sogar ineinander. Anne ist mit ihren Emotionen total überfordert, auch, weil sie sich im pubertären Alter befindet.

Sie schreibt an Peter über das Glück:
Reichtum, Ansehen, alles kann man verlieren, aber das Glück im eigenen Herzen kann nur verschleiert werden und wird dich, solange du lebst, immer wieder glücklich machen. Wenn du allein und unglücklich bist, dann versuche mal, bei schönem Wetter vom Oberboden aus in den Himmel zu schauen. Solange du furchtlos in den Himmel schauen kannst, so lange weißt du, dass du innerlich rein bist und dass du wieder glücklich werden wirst. (106)

Auf Seite 129 hat Anne einen Brief an ihren Vater geschrieben, darüber, dass sie mit ihrer Lebenseinstellung alle enttäuschen würde, am meisten wohl ihren Vater, den sie abgöttisch lieben würde. Die Worte, die sie dafür wählt, sind so ergreifend, dass ich diese Textstelle immer wieder lesen musste.

Auf Annes Frage, weshalb Menschen Kriege führen, Häuser zerstören und wiederaufbauen, wieso so viele Bomben hergestellt werden, um andere zu töten? Weshalb Menschen an Hunger sterben, während woanders die Lebensmittel auf dem Tisch verfaulen, weil zu viel davon vorhanden seien.

Annes Vater hat versucht, darauf eine Antwort zu finden:
Im Menschen ist nun mal ein Drang zur Vernichtung, ein Drang zum Totschlagen, zum Morden und Wüten, und solange die ganze Menschheit, ohne Ausnahme, keine Metamorphose durchläuft, wird Krieg wüten, wird alles, was gebaut, gepflegt und gewachsen ist, wieder abgeschnitten und vernichtet, und dann fängt es wieder von vorn an. (130)

Ich würde zusätzlich noch sagen, schuld sind die vielen unverarbeiteten und unangenehmen infantilen Gefühle, mit denen viele Menschen aufgewachsen sind, denn ich glaube nicht, dass der Mensch von Natur aus böse ist. So viel ich weiß litt Hitler unter seinem cholerischen Vater ...

Deshalb tut Anne genau das Richtige, sich mit den Gefühlen auseinandersetzen, um sie später, vor allem die unangenehmen, nicht auf andere projizieren zu müssen. Ein Später gibt es aber leider nicht ...

Außerdem verweise ich auf Alexander Mitscherlichs Buch Die Unfähigkeit zu trauern.

Auch er sagt, wenn der Mensch sich nicht mit seinen dunklen Seiten auseinandersetzt, dann wird er gezwungen sein, Vergangenes zu wiederholen.

Es gab nichts, womit sich dieser junge Mensch, eigentlich mit seinen 13 und 14 Jahren noch ein Kind, auseinandergesetzt hat. Selbst über das Alter grübelte Anne nach, erst recht, wenn die ältere Generation immerzu auf die jüngere schimpft:
>>Denn im tiefsten Grund ist die Jugend einsamer als das Alter<<. Diesen Spruch habe ich aus einem Buch behalten und gefunden, dass es stimmt. Ist es denn wahr, dass die Erwachsenen es schwerer haben als die Jugend? Nein, bestimmt nicht. Ältere Menschen haben eine Meinung über alles und schwanken nicht mehr, was sie tun sollen oder nicht. Wir, die Jüngeren, haben doppelt Mühe, unsere Meinungen in einer Zeit zu behaupten, in der aller Idealismus zerstört und kaputtgemacht wird, in der sich die Menschen von ihrer hässlichsten Seite zeigen, in der in Wahrheit, an Recht und Gott gezweifelt wird. (143) 

Anne Frank ringt um Autonomie und um ihre weibliche Identität, setzt sich mit ihrem Geschlecht sexuell und mit der gesellschaftlichen Rolle der Frau auseinander. Sie findet aber kein Ohr bei den Eltern, da die Sexualität damals tabuisiert wurde … Aber sie findet trotzdem Antworten, und lässt sich nicht so leicht abwimmeln.

 Außerdem ist es für Anne nicht leicht, in einer kleinen Welt eingesperrt zu sein, in der die Erwachsenen überwiegen. Selbst als sie durch einen viralen Infekt erkrankt, nervte es sie, wenn permanent um sie gesorgt wurde, während sich andere Kinder freuen, wenn sie durch die Krankheit stärker bemuttert werden:
Das halte ich nicht aus, wenn so auf mich aufgepasst wird, dann werde ich erst schnippisch, dann traurig, und schließlich drehe ich mein Herz wieder um, drehe das Schlechte nach außen, das Gute nach innen und suche dauernd nach einem Mittel, um so zu werden, wie ich gern sein würde und wie ich sein könnte, wenn … wenn keine anderen Menschen leben würden.

Wow, diese Worte hätten damals in Annes Alter auch von mir stammen können. Genau das hatte ich auch erlebt, fast meine gesamte Jugend hindurch.


Meine Identifikationsfigur
Wie aus den letzten Zeilen hervorgeht, ist Anne meine Identifikationsfigur. In der Regel reicht es mir, meine Identifikationsfigur nur mit dem Namen zu erwähnen. Aber hier ist es mal anders ...  Ich war in meiner Kindheit und Jugend auch sehr ungemütlich. Mir haben die Erwachsenen dermaßen gestunken, dass ich mich innerlich immer mehr zurückgezogen habe, und für mich im Stillen beschlossen hatte, nicht erwachsen werden zu wollen. Bis ich in eine Phase geriet, in der ich auch aus mir heraus explodiert bin, denn ich habe genauso gegen diese Erwachsenenwelt rebelliert, wie Anne es tat. Irgendwann musste ich aber erkennen, dass ich auch nicht ewig Kind bleiben wollte, um nicht von ihnen abhängig zu bleiben und so geriet ich in ein immer größeres Dilemma, die meine innere Krise nur noch mehr verstärkte, über die ich mit niemanden reden konnte, weil immer ich die Böse war und so agierte ich auf meine Weise, um mich gegen diese großen, sogenannten allwissenden und arg widersprüchlichen Leute aufzulehnen, die stets glaubten, alles besser wissen zu müssen, nur weil sie älter waren. Auch ich habe Tagebuch geführt, das aber ohne meine Erlaubnis aufgebrochen wurde, und so habe ich meine Welt durch das ständige Ausspähen und Kontrolle meines Tuns symbolisch gesehen ein wenig wie eine kleine Diktatur erlebt … Noch heute ist mir manchmal mulmig zumute, wenn ich Sichtweisen vertrete, die so ganz gegen gegen die Allgemeinheit zieht ... 
Schon damals hatte ich mir über diese Dinge Gedanken gemacht, da hatten andere Mädchen in meinem Alter noch mit Puppen gespielt. Später wurde ich häufig für meine Weisheit bewundert, die für mein damaliges Alter so untypisch war ... Es gibt leider noch immer genug Erwachsene, die sich wenig Gedanken machen und laufen ganz brav mit dem Strom mit, weil sie es nicht anders gelernt haben. Aber genau diese Menschen grenzen andere ein, vor allem, wenn sie sich dazu noch von den Medien leiten lassen, die sie nicht kritisch hinterfragen. Diese Erwachsenen verfolgen ein Menschenbild, das geprägt ist von nur Schwarz-Weiß-, und von Gut-und-Böse-Facetten.

Anne Frank spricht mir so aus der Seele.

Cover und Buchtitel
Finde ich supergut umgesetzt. Das ganze Tagebuch in Bildern und mit Sprechblasen eingebettet, wie in einem richtigen Comic, verliert absolut nicht den Charme und die Ernsthaftigkeit dieses prosaischen Tagebuches. Aber es befinden sich auch viele Seiten darunter, die ohne Bildchen und Sprechblasen auskommen.

Wie erlebe ich die Menschen heute?
Unter meinen Bücherfreund*innen habe ich Gleichgesinnte gefunden.

Mein Fazit
Ein wunderbares Buch für Jugendliche und für Erwachsene, aber auch für Jugendliche, die nicht so gerne Bücher lesen … Eine Grafik Diary, eine andere Form, hochwertige Literatur leicht verständlich vermitteln zu können.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Literaturwissenschaftliches, gut recherchiertes Buch
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

12 von 12 Punkten. Eine klare Leseempfehlung.

________________
Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

Gelesene Bücher 2018: 59
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Freitag, 28. Dezember 2018

Ari Folmann und David Polonsky / Das Tagebuch der Anne Frank


Klappentext 
Anne Franks Tagebuch, weltbekannt und geliebt, liegt jetzt in einer völlig neuen Fassung vor: »Das Tagebuch der Anne Frank: Graphic Diary. Umgesetzt von Ari Folman und David Polonsky« ist eine einzigartige Kombination aus dem Originaltext und lebendigen, fiktiven Dialogen, eindrücklich und einfühlsam illustriert von Ari Folman und David Polonsky. Beide bekannt für ihr Meisterwerk »Waltz with Bashir«, das u.a. für den Oscar nominiert war. So lebendig Anne Frank über das Leben im Hinterhaus, die Angst entdeckt zu werden, aber auch über ihre Gefühle als Heranwachsende schreibt, so unmittelbar, fast filmisch sind die Illustrationen. Das publizistische Ereignis zum 70. Jahrestag der Erstveröffentlichung, autorisiert vom Anne Frank Fonds Basel.


Autor*innenporträt

Anne Frank
Anne Frank, am 12. Juni 1929 als Kind jüdischer Eltern in Frankfurt am Main geboren, flüchtete 1933 mit ihren Eltern nach Amsterdam. Nachdem die deutsche Wehrmacht 1940 die Niederlande überfiel und besetzte, 1942 außerdem Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung in Kraft traten, versteckte sich die Familie Frank in einem Hinterhaus an der Prinsengracht. Die Familie und ihre Mitbewohner wurden im August 1944 verraten und nach Auschwitz verschleppt. Anne Frank und ihre Schwester Margot starben infolge von Entkräftung und Typhus im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Ihr genauer Todestag ist nicht bekannt.


Ari Folmann
Ari Folman ist Filmregisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent. Er wurde 1962 als Sohn polnischer Holocaust-Überlebender in Haifa geboren. Als junger israelischer Soldat erlebte er 1982 den Ersten Libanonkrieg mit. Über die teils autobiographischen traumatischen Erlebnisse drehte er 2008 den animierten Dokumentarfilm »Waltz with Bashir«, der als bester fremdsprachiger Film für den Oscar nominiert wurde, den Europäischen Filmpreis und den César erhielt.


David Polonsky
David Polonsky, geboren 1973 in Kiew, ist ein preisgekrönter Illustrator und Comiczeichner. Weltbekannt wurde er durch seine Zeichnungen für den Animationsfilm »Waltz with Bashir« und die gleichnamige Graphic Novel. Er unterrichtet an Israels angesehener Kunstakademie Bezalel in Jerusalem.


Meine ersten Leseeindrücke

Von Anne Frank habe ich das normale Tagebuch gelesen, allerdings schon vor Urzeiten. Gemeinsam mit meiner Freundin sind wir damals anschließend nach Amsterdam gereist und haben uns das Anne-Frank-Museum angesehen.

Mittlerweile ist das Tagebuch auch verfilmt worden. Die DVD liegt auf meinem DVD-Stapel, die ich mir noch anschauen muss.

Dass es das Tagebuch nun auch als eine Comicausgabe zu lesen gibt, ist schon erstaunlich, wo ich anfangs erst einen großen Bogen um diese Form von Literatur gemacht habe. Erst auf der Buchmesse 2017 hat es mich dann doch in den Fingern gekribbelt, und musste es schlussendlich kaufen, und komme erst jetzt dazu, es zu lesen.

Ich finde das Buch richtig genial. Und freue mich, dass ich es nun auch besitze. Das Buch fesselt ... 

Weitere Informationen zu dem Buch

·         Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
·         Verlag: S. FISCHER; Auflage: 2 (5. Oktober 2017)
·         Sprache: Deutsch, 20,00 €
·         ISBN-10: 3103972539

Und hier geht es auf die Verlagsseite von Fischer.


Montag, 24. Dezember 2018

Benedict Wells / Die Wahrheit über das Lügen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre   

Diese zehn Geschichten habe ich gemeinsam mit Tina gelesen und mich mit ihr rege ausgetauscht. Wir hatten fast zu jeder Erzählung dieselben Gedanken und Eindrücke, lediglich mit der siebenten Geschichte war ich schier überfordert, da ich über keinerlei Hintergrund zu Star Wars verfüge. Ich mag keine Science-fiction, weshalb ich mich für diese Filme nie begeistern konnte.

Die Fliege hat uns beiden nicht gefallen, auch wenn sie uns vom Verständnis her zugänglich war. Uns war durchaus bewusst, dass die Fliege eine Metapher darstellen sollte. Sie hat uns aber trotzdem nicht überzeugen können. Zu flach, zu oberflächlich …

Unsere Buchbesprechung beschränken wir auf jeweils zwei Geschichten, die Tina und ich gemeinsam abgesprochen haben. Sie schreibt über Die Wanderung und über Das Franchine. 

Mich haben die beiden Erzählungen Richard und
Die Nacht der Bücher richtig beeindruckt, über die ich schreiben werde. 

Hier geht es zum Klappentext, Autorenporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung

Richard
Mich hat diese Geschichte sehr betroffen gestimmt. Es geht um eine ältere Dame, die im Park auf einer Bank sitzt und sich mit einem Herrn unterhält, obwohl dieser Mann mit seinem Handy beschäftigt ist. Sie erzählt ihm, dass sie gerne am Markt Hähnchenbrust beim Händler kauft, weil Richard sie so gerne mögen würde.

Sie berichtet detailfreudig dem fremden Mann, wie Richard auf das Fleisch reagiert, wenn sie nach Hause kommt, und dass sie erst seine, dann ihre Bedürfnisse befriedigen würde. Bei ihrem Gatten, als er noch gelebt hatte, war sie immer die Erste …

Der fremde Mann, als er seine letzte Nachricht in sein Handy getippt hat, steht auf, wünschte ihr einen schönen Tag und ging fort.

Die alte Dame betrachtet in der Ferne ein junges Paar und denkt dabei an ihren eigenen Mann. Das Leben mit ihm spulte sie jeden Tag in ihrem Hirn wie ein Kopfkino ab.
Wenn ihre Erinnerung ein Kino war, dann waren die Jahre mit ihm ein Klassiker, der noch immer jeden Abend lief. Vielleicht war er nicht mehr ganz so spannend, weil sie jeden Satz aus der Handlung mitsprechen konnte, und vielleicht war auch das Bild inzwischen etwas unscharf geworden und die Tonspur verwaschen, aber das machte nichts. Der Film endete, kurz bevor seine Krankheit begann. (2018, 92)

Plötzlich kamen zwei sprechende Mädchen an die Bank und setzten sich zu der alten Dame. Die Dame lauschte etwas an dem Gespräch der beiden Mädchen. Als sie ihre Bluse glattstrich, holte sie ein Foto ihres Richards heraus, der zu dieser Zeit noch ein Welpe war. Sie zeigte die Fotografie den Mädchen und erklärte ihnen, weshalb sie dem Kater den Namen Richard gegeben habe … Die alte Dame erzählt und erzählt und bemerkt gar nicht, dass die Mädchen sich bedrängt fühlten …
Das eine Mädchen stieß das andere an.>>Ja, also, wir müssen dann mal …<<, sagte es schnell. Sie verabschiedeten sich, und kaum, dass sie einige Schritte entfernt waren, prusteten beide los.<< (97)

Damit endet die Erzählung noch nicht, so lasse ich den Ausgang offen.

Als ich die Geschichte anfangs zu lesen begonnen hatte, dachte ich, dass Richard ihr Mann sei. Aber es klärte sich schnell auf, dass mit Richard ihr Kater gemeint war.

Ich fand diese Erzählung dermaßen authentisch, dass sie mich lange noch beschäftigt hat. Jede Figur wirkte real. Der Mann mit dem Handy, die beiden Mädchen, sie alle waren mit ihrem Leben beschäftigt, und hatten keinen Platz, das Leben der alten und sehr vereinsamten Dame für eine Weile in sich einzulassen ... 

Die Nacht der Bücher
Eine Weihnachtsgeschichte

Das war für mich von allen die allerschönste Geschichte. Hier wird Bezug genommen zu Wells Roman Vom Ende der Einsamkeit, die Figur daraus namens Jules, der dieses Märchen verfasst hat Weitere Details sind dem Buch zu entnehmen.

Der 58-jährige Mister Stanley hatte in einer staatlichen Bibliothek am Heiligabend Nachtwache, obwohl er kein Mensch war, der gerne Bücher liest. Die Bibliothek, eine ziemlich alte, die auf mich einen nostalgischen Eindruck hinterlassen hat, befand sich in Marylborne, ein Vorort von London. Als Mr. Stanley seinen Rundgang macht, und durch die Gänge und Flure zieht, hört er Geräusche, die er nicht einzuordnen wusste. Nach dem Störenfried Ausschau haltend staunte er über die Vielzahl an Büchern, die nicht zu zählen waren.
Die gesamte Bibliothek war nichts als ein gigantischer Bahnhof voller Figuren und Geschichten. (…) Schon eigenartig. Immer an Weihnachten war ihm, als würde es in der Bibliothek spuken, als hörte er seltsame Geräusche, die sofort verschwanden, wenn er die Tür aufmachte. (105)

Er blickte auf die vollgestopften Regale, wo er glaubte, müssten die Geräusche zu lokalisieren sein. Es war aber ganz ruhig. Und so ging Stanley wieder zurück in sein Dienstzimmer.
Lange Zeit blieb es in der großen Halle still. Die Bücher wollten auf Nummer sichergehen. Dieser alte Mister Stanley war ein misstrauischer alter Knochen, da musste man auf der Hut sein. Dann aber konnte man ein leises Rascheln hören. Ganz vorsichtig hatte sich Jules Verne umgedreht. Es war in 80 Tagen um die Welt. (ebd)

Die vielen bekannten Autor*innen kamen ins Gespräch, viele alte und neue Klassiker, und so entstand langsam Leben in den Regalen. Werke von Tolstoi, von Flaubert, Shakespeare, sogar die Buddenbrooks von Thomas Mann regten sich. Sie alle wunderten sich über Mr. Stanley. Carson McCullers hatte Mitleid mit dem Nachtwächter, Dostojewski hielt ihn für einen traurigen Narren, da er jedes Jahr zu Weihnachten Dienst habe, und fragt sich, wieso er das macht? Doch auch unter den Büchern fanden erst mal keine hochtrabenden Gespräche statt, sie führten Small Talk, bis sie sich einigen konnten, eine Weihnachtsgeschichte vorgelesen zu bekommen. Der Name Dickens fiel, doch Dickens konnte sich nicht rühren, da er, wie jedes Jahr zu Weihnachten auch, ausgeliehen wurde.
>>So ein Pech, das ist jetzt schon das dritte Jahr hintereinander!<<Ein hundertfaches Aufstöhnen ging durch die Halle, denn nichts hätte in dieser Nacht die Bücher mehr gefreut, als wenn ihnen Dickens endlich wieder die Geschichte des alten Ebenezer Scrooge erzählt hätte. (108)

Ein Hin und Her an Stimmen, die aus den Buchseiten fielen, machten sich breit. Es rührte sich Marcel Proust, der sich über den Lärm beschwerte, und er aus den Träumen gerissen wurde und machte sich bei den anderen unbeliebt. >>Halt die Schnauze, Marcel, auf dir liegt eh schon Staub!<< Ruft Hemingway ihm lakonisch zu …
.
Hier mache ich Schluss, um nicht alles zu verraten. Aber ich könnte die ganzen Dialoge zitieren, die so perfekt und so natürlich konstruiert sind. Die ganze Geschichte war total authentisch. Man spürte, dass die Bücher und deren Autor*innen mit demselben Geist beseelt waren, wie man sie aus den Büchern heraus kannte. Besser hätte es ein Walter Moers auch nicht ausdrücken können. Jede Menge bekannte Autor*innen sind hier vertreten, auch Harry Potter, auf den neidvoll geblickt wurde, da er verglichen mit Shakespeare ein Jüngling sei und weltweiten Ruhm genoss, während Shakespeare über eine Schullektüre nicht hinauskommen würde …   

Unbedingt selber lesen.

Cover und Buchtitel
Das Cover gefällt mir sehr, sehr gut, weil es wie ein Kunstgemälde ausschaut. Und es lässt jede Menge Spielraum zu für eigene Interpretationen. Den Buchtitel finde ich auch gelungen, hilft, die Geschichten besser einzuordnen.

Meine Meinung
Benedict Wells kann wirklich supergut schreiben. Lange habe ich mich mit Tina ausgetauscht, und wir finden beide, dass er aber sein Potenzial in Romane stecken sollte.

Die Geschichte mit den sprechenden Büchern fand ich noch besser als die von Walter Moers. Richtig genial. Schade, dass sie so schnell geendet hat.
Die Richard-Geschichte war mir wichtig, sie hier auf meinem Blog vorzustellen, um die Leser*innen mit dieser Thematik ein wenig zu sensibilisieren. Bei 200 bis 300 Besucher*innen pro Tag möchte ich mithelfen, sie ein wenig zu verbreiten.

Mein Fazit
Mit den zehn Kurzgeschichten der letzten zehn Jahre bedient sich Wells verschiedener Genres. Das macht sie so spannend. Klare Leseempfehlung.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover, Titel und Klappentext stimmen mit dem Inhalt überein

12 von 12 Punkten

Hier geht es zu Tinas Buchbesprechung.

Ein herzliches Dankeschön an den Diogenes Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars.
______________
Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

Gelesene Bücher 2018: 58
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86



Sonntag, 23. Dezember 2018

Vera Buck / Das Buch der vergessenen Artisten


Lesen mit der Leserunde auf Whatchareadin. Begnn: 23.12.2018  

Klappentext
Die wundersame Welt des Jahrmarkts, dramatische Zeiten und eine Liebe, die auch die größte Dunkelheit erhellt …Deutschland, 1902. Mathis ist der dreizehnte Sohn eines Bohnenbauern, sein Leben zwischen Äckern und Feldern scheint vorherbestimmt. Erst als der Jahrmarkt im Dorf Einzug hält, bekommt Mathis eine Ahnung von der großen, weiten Welt jenseits der Hügel, die den Ort umgeben. Eine Welt, in der elektrische Wunder, Kuriositäten und schillernde Showbühnen auf ihn warten und in der auch er einen Platz haben will. Zusammen mit den Schaustellern begibt sich Mathis auf eine außergewöhnliche Reise.
Nach über dreißig Jahren als Röntgenkünstler lebt Mathis mit seiner Partnerin, der Kraftfrau Meta, in einer Wohnwagensiedlung am Rande Berlins. Es sind düstere Zeiten für die Artisten: Auftrittsverbote werden verhängt, Bühnen dichtgemacht. Doch in geheimen Clubs und Künstlertreffs lebt die Vergangenheit weiter. Genau wie in dem Buch, an dem Mathis schreibt – einem Buch, das Geheimnisse birgt und unter keinen Umständen in die falschen Hände geraten darf …»Vera Buck lässt sie [Jahrmarktartisten] wieder auferstehen, 750 prall gefüllte Seiten lang, mit liebevollen Worten für ihre kleinen Helden und lakonisch-süffisanten Bemerkungen …«


Autorenporträt
Vera Buck, geboren 1986, studierte Journalistik in Hannover und Scriptwriting auf Hawaii. Während des Studiums schrieb sie Texte für Radio, Fernsehen und Zeitschriften, später Kurzgeschichten für Anthologien und Literaturzeitschriften. Nach Stationen an Universitäten in Frankreich, Spanien und Italien lebt und arbeitet Vera Buck heute in Zürich. Ihr Debütroman »Runa« wurde von der Presse hochgelobt und für den renommierten Glauser-Preis nominiert.

Meine ersten Leseeindrücke
Das Buch gefällt mir ganz gut.  Die Sprache ist einfach, aber dafür ist die Thematik eine spannende und interessante. Die junge Autorin scheint ziemlich versiert über ihren Stoff recherchiert zu haben. Es gibt hierzu auch ein Interview, das ich in meiner späteren Buchbesprechung von Yputube hochladen werde. Später werde ich auch meine Besprechung mit der Leserunde verlinken. Da dies ein recht umfangreiches Buch ist, wird es dort im Bücherforum reichlich viel zu lesen geben.

Weitere Informationen zu dem Buch

·         Gebundene Ausgabe: 752 Seiten
·         Verlag: Limes Verlag (10. September 2018)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 3809026794

Und hier geht es auf die Verlagsseite von Limes.


Freitag, 21. Dezember 2018

Benedict Wells / Die Wahrheit über das Lügen

Lesen mit Tina  

Zehn Geschichten

Klappentext
Es geht um alles oder nichts in diesen Geschichten. Sie handeln vom Unglück, frei zu sein, und von einer Frau, die vor eine existenzielle Entscheidung gestellt wird. Von einem Ort, an dem keiner freiwillig ist und der dennoch zur Heimat wird. Von einem erfolglosen Drehbuchautor der Gegenwart, der in das New Hollywood des Jahres 1973 katapultiert wird und nun vier Jahre Zeit hat, die berühmteste Filmidee des 20. Jahrhunderts zu stehlen. Und nicht zuletzt eine Erzählung aus dem Universum von ›Vom Ende der Einsamkeit‹, die Licht auf ein dunkles Familiengeheimnis wirft.

Zwei junge Männer spielen Tischtennis, um ihr Leben. Eine Schriftstellerin mit Schreibblockade muss sich zwischen Kunst und Liebe entscheiden, als sie von der Muse geküsst wird. Das berührende Porträt einer verschworenen Gemeinschaft in einem Grundschulheim. Ein erfolgloser Drehbuchautor der Gegenwart wird in das New Hollywood des Jahres 1973 katapultiert und hat somit vier Jahre Zeit, George Lucas die Idee zu ›Star Wars‹ zu stehlen. Die Überschreitung des magischen Kilometerstands 100 000 bei einem Oldtimer wird Anlass für eine bewegende Aussprache zwischen Vater und Sohn. Ein erfolgreicher Manager bricht zu einem Berggipfel auf; als er zu seinem Ferienhaus zurückkehrt, hat sich sein Leben verändert. Und eine unveröffentlichte Geschichte aus ›Vom Ende der Einsamkeit‹ erzählt von zwei französischen Brüdern und der Heimsuchung ihrer Jugend.Zehn höchst unterschiedliche Geschichten aus einer Welt, in der Lügen, Träume und Wahrheit ineinanderfließen. Mal berührend, mal komisch, überraschend und oft unvergesslich.


Autorenporträt
Benedict Wells wurde 1984 in München geboren. Nach dem Abitur zog er nach Berlin und widmete sich dem Schreiben, seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vierter Roman ›Vom Ende der Einsamkeit‹ stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste, er wurde u.a. mit dem European Union Prize for Literature (EUPL) 2016 ausgezeichnet und bislang in 27 Sprachen übersetzt. Wells lebt in Berlin und Bayern.

Meine ersten Leseeindrücke

Drei Geschichten habe ich gelesen. Ja, sie gefallen mir recht gut, wenn auch Kurzgeschichten anders gelesen werden, als Romane. Man kann mit den kürzeren Geschichten keine wirkliche Beziehung aufbauen. Wenn man sie aber trotzdem aufgebaut hat, kommt einem das Ende zu abrupt vor. Auch die Figuren werden einem nicht richtig warm, weil sie einen schnell wieder verlassen.Benedict Wells, bitte schreiben Sie wieder Romane …

Ich freue mich auf den Austausch mit Tina ... 

Weitere Informationen zu dem Buch

·         Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
·         Verlag: Diogenes; Auflage: 1 (29. August 2018)
·         Sprache: Deutsch, 22,00 €
·         ISBN-10: 9783257070309

Auszeichnungen
·      ›Euregio-Schüler-Literaturpreis‹ für Vom Ende der Einsamkeit , 2018
·      ›Literaturpreis der Europäischen Union‹ Deutschland an Benedict Wells für Vom Ende der Einsamkeit , 2016
·      ›Lieblingsbuch der Unabhängigen‹ anlässlich der Woche unabhängiger Buchhandlungen (WUB) in Deutschland für Vom Ende der Einsamkeit , 2016
·      ›DER LESERPREIS‹  Bronze-Auszeichnung bei Lovelybooks.de für Vom Ende der Einsamkeit , 2016
·      ›Buchpreis Familienroman‹ der Stiftung Ravensburger Verlag für Vom Ende der Einsamkeit , 2016
·      ›Bronze‹-Auszeichnung in der Kategorie ›Buch des Jahres‹ für Vom Ende der Einsamkeit, gewählt von den Buchmarkt-Lesern , 2016
·      ›Bayerischer Kunstförderpreis‹ in der Sparte Literatur u. a. an Benedict Wells für seinen Debütroman Becks letzter Sommer , 2009

Hier geht es zur Verlagsseite von Diogenes.