Montag, 29. März 2021

Paula Stern / Tage des Aufbruchs - Die Kaffeedynastie (1)

Bildquelle: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Das Beste zuerst; das Buch ist groß im Herzen, was mir gut gefallen hat. Es ist gefüllt mit einer tiefen Empathie, die in großen Nöten zur wahren Menschlichkeit führt. Sowohl in der Politik, in der Freundschaft, als auch in der eigenen Verwandtschaft der Protagonistin, ohne dass es kitschig oder sentimental gewirkt hat.

Was mir nicht gefallen hat; mir war das Buch in den Zwischenetappen zu seicht. Es hat signifikant an Tiefe in den Charakteren gemangelt, sodass es definitiv zu glatt auf mich gewirkt hat, wie ich weiter unten noch besser ausführen werde. Außerdem hatte ich mir etwas ganz anderes unter dem Titel vorgestellt, und so wurden meine Erwartungen leider nicht erfüllt. Es mit dem Werk von Thomas Mann Die Buddenbrooks zu vergleichen, war ein großer Fehler. Die Kaffeedynastie ist ein reiner Unterhaltungsroman. Nicht mehr und nicht weniger.

Achtung Spoiler: Wer nicht zu viele Details erfahren möchte, so verweise ich, sich auf die Handlung zu begrenzen, auf die ersten Leseeindrücke, oder auf die allgemeine Buchbewertung am Ende dieser Besprechung.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die noch im Elternhaus lebende Hauptfigur Corinne Ahrensberg, Ende zwanzig, ist eine junge Frau, die genau weiß, was sie möchte. Als ihr Vater Günther wegen eines schweren Schlaganfalls nicht mehr rehabilitiert werden kann und zu einem Pflegefall wird, möchte die Mutter Esther, dass Corinne zusammen mit ihrem acht Jahre älteren Bruder Alexander in das Familienunternehmen Ahrensberg einsteigt. Dadurch bekommt sie zusammen mit Alexander die Verantwortung für die Firma übertragen. Corinne hat große ideelle Pläne, möchte in die Fußstapfen ihres längst verstorbenen Großvaters Eberhard Ahrensberg treten, der Neuheiten und Wagnisse liebte, während Alexander es eher in die Fußstapfen des Vaters treibt. Ihm geht es mehr um hohe Verkaufszahlen als um Qualität, und dass Altbewährtes bleibt, wie es ist. Corinne dagegen möchte mehr Qualität und Individualität in die Kaffeebranche einbringen und setzt auf Neuerungen wie z. B. die Entwicklung und die Einführung von Fairtrade - Kaffee. Dadurch gibt es Reibereien mit dem despektierlichen Verhalten ihres Bruders, dem sie sich zu widersetzen versucht und sie sich hilfesuchend externen Rat eines anderen Fachkollegen einholt, nachdem ihr von Taktgefühl getragenes Einlenken regelrecht versagt hatte.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Besonders gut hat mir gefallen, dass es Corinne mit viel Liebe und Geduld gelungen ist, ihrem Bruder sämtliche Fassaden von ihm abzulösen, sodass er die Chance bekam, sich in seiner Eigenart zu outen
.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Eigentlich gab es gar keine Szene, die mir nicht gefallen hat, ironisch ausgedrückt. Die Protagonist*innen waren alle so verständnisvoll und gefügig. Viele Probleme wurden recht schnell gelöst, da die Figuren alles machten, was sich die zartfühlige Corinne von ihnen gewünscht hat.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Großvater Eberhard Ahrensberg. Der zartbesaitete Eberhard wurde schon im Alter von 15 / 16 Jahren widerwillig in den Krieg einberufen. Widerstand zu leisten machte keinen Sinn, da sein Vater Anhänger der NSDAP war. Eberhard hatte eine sehr weiche und gutmütige Seele, sodass er überhaupt nicht auf Kämpfen und Morden ausgelegt war.

Wenn es nach ihm ginge, würde er lieber Bücher verschlingen, statt Marschieren und Kämpfen zu üben. (40)

Man nimmt in der Retrospektive an Eberhards Träumen teil, wie der Samen einer eigenen Kaffeeplantage damit im jugendlichen Alter schon gestreut wurde.

Berichte und Geschichten von fernen Ländern faszinierte ihn. Die Farben, Geräusche und Gerüche, die darin beschrieben wurden, lösten eine Sehnsucht nach der weiten Welt in Eberhardt aus. Gerne würde er nach Südamerika reisen, um einmal eine Kaffeeplantage zu sehen. Eines Tages würde er auch genau das tun. Das hatte er sich fest vorgenommen. (...) Seit er vor Jahren in einer Zeitschrift etwas über Kaffeeanbau gelesen hatte, faszinierte ihn das. So war er auch auf sein Sehnsuchtsziel Südamerika gekommen. Mit großer Sorgfalt sammelte er seit damals alles, was er zu Kaffee an Informationen erhaschen konnte. (40f)

Welche Figur war mir antipathisch?
Eigentlich keine. Oder wen soll ich hier auswählen? Eberhards Vater, der der NSDAP verschrien war und damit viele Menschenleben gefordert hat, mitunter auch sein eigenes? Doch ihn habe ich nicht als eine Figur erlebt, sondern nur als eine Beschreibung, an der ein paar Fakten und ein paar Charakterzüge festgemacht wurden.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel  

Ich habe mir etwas ganz Anderes darunter vorgestellt. Als eine Kaffeedynastie im Untertitel habe ich das Buch nicht verstanden. Alles dreht sich um Corinne, während der Einfluss der letzten beiden Generationen viel zu kurz kam, auch wenn der Großvater Eberhard, der eigentliche Gründer dieser Dynastie, in der Lebensgeschichte zwar auftaucht, aber dennoch nur eine Nebenthematik bleibt. Im Fokus stehen eher die Lebensgeschichten der einzelnen Figuren, während die Gründung eines Großunternehmens nur peripher die Handlung widerspiegelt. Hier ging es mehr um das Nazideutschland, und um Eberhards Vater, der sich dem Geist der Nazis angeschlossen hatte. Die Kaffeedynastie kam hier überhaupt nicht zur Geltung. Es hätte, um dem Titel gerecht werden zu können, die Entwicklung eines Familienunternehmens, das aus drei Generationen besteht, mehr in den Vordergrund gerückt werden müssen, und das Nazideutschland, aus dem der Großvater kommt, eher an den Rand. Doch hier werden zwei Hauptthemen vorgestellt, wovon die erste Thematik die Existenzgründung der Corinne behandelt, während die zweite Thematik die Geschichte des Zweiten Weltkriegs mit dem Naziregime umfasst.

Der Hauptitel, Tage des Aufbruchs, passt lediglich in Corinnes Leben.

Das Cover selbst, von der Farbe her getragen einer Nivellierung jener Kaffeebohne, fand ich sehr ansprechend.

Zum Schreibkonzept
Das Schreibkonzept fand ich reizvoll
. Auf der ersten Seite ist eine Widmung zu entnehmen, auf den darauffolgenden Seiten findet man sämtliche Namen aller Figuren bzw. die unterschiedlichen Stammbäume und die Namen von Freund*innen einzelner Hauptfiguren. Anschließend geht es mit dem ersten Kapitel los. 22 Kapitel sind dem Buch insgesamt zu entnehmen. Quellennachweis und eine Danksagung schließen das Buch am Ende.

Die Handlung, die aus zwei Erzählsträngen besteht, wechselt zwischen Gegenwart und Vergangenheit kapitelweise einander ab.

Für alle Kaffeeliebhaber: Es gibt auch ein großes Geschenk an die Leser*innen. Man findet am Schluss der Geschichte jede Menge Rezepte rund um Kaffee und Gebäck.

Das fand ich sehr kreativ fürsorglich. Passt zu der Feinfühligkeit, die das Buch umschließt.

Einzige Bedingung: Man muss Kaffee lieben.

Meine Meinung
Ich finde den Roman nach meinem Geschmack viel zu seicht, obwohl er durchaus supergute Ansätze und wirklich große Themen wie z. B. auch Gegen das Vergessen und Gesellschaftsprobleme aufweist, die die Interaktionen und die Ereignisse zwischen den Figuren beeinflussen. Manche Szenen waren sehr gut und authentisch beschrieben. Vor allem die Szenen mit Isabella Pelzmann, die durch die Nazidiktatur massivste irreparable posttraumatische Störungen mit schwerwiegenden Folgen entwickelt hatte ... Leider konnte die Autorin diese Ebene an Tiefsinn im gesamten Roman nicht halten, weshalb sie immer wieder in dieses Seichte und Oberflächliche abgedriftet ist.

Mit wenigen Ausnahmen verlangten hartnäckige Probleme nach zu raschen Lösungen. Außerdem wurden Beziehungen viel zu schnell geschlossen, was ich als recht künstlich und zu unrealistisch empfunden hatte. Corinne lernt Noah kennen, der selbst auch ein eigenes alternatives Öko - Café besitzt. Schnurstracks waren die beiden ein Herz und eine Seele, und im Nu ein Liebespaar und im Nu lagen alle auch in Mutters Armen.

Die Figuren waren mir alle zu vernünftig, obwohl es in dem Buch große Themen gab, die die Geschichte begleitet hat. Die Fieslinge waren weg. Der Naziurgroßvater stirbt im Krieg. Corinnes dominanter Vater, der von jedermann als der Kaffeebaron bezeichnet wird, erleidet einen schweren Schlaganfall und wird dadurch in der Handlung auch ausgebremst. Der homosexuelle Alexander wird durch die Liebe seiner Schwester gefügig .... Der eifersüchtige Sebastian, der Corinne heimlich liebt, die sich aber für einen anderen Mann entscheidet, gibt sich zufrieden, wenn er schließlich in weiter Zukunft Patenonkel ihres ersten Kindes sein darf … Vermisste Personen aus dem Naziregime werden leicht wiedergefunden. Alles läuft glatt. Das meiste löst sich in kurzer Zeit in Wohlwollen auf und genau dies hat mich nicht überzeugen können. Nein, ich liebe Figuren, die Facetten haben und authentisch sind. Die Autorin hätte mehr aus ihrem Buch machen können.

Und dennoch war ich auch froh, dass das Buch nicht aus billiger Intrige bestanden hat, wie ich in meinen ersten Leseeindrücken befürchtet hatte. Ich präferiere keine Bücher, die mit schwarz-weiß, mit gut-böse Mustern gestrickt sind. Tiefe Facetten zeichnen nämlich den Menschen nicht zu reinen gut und böse, Engel-Teufel-Wesen aus, weil jeder Mensch auf seine Weise, auch wenn es schwer fällt, sich dies vorzustellen, mit diesen Un-Tugenden innerlich behaftet ist. 

Die Kaffeedynastie
Sehr interessant, sie war aber immer nur als eine Nebenthematik erfahrbar. Das Land Brasilien und das ganze Drumherum wurde viel zu wenig in die Geschichte verwoben.

Stereotypen
Die Deutschen hatten hier mit einer Ausnahme alle blonde Haare und blaue Augen. Obwohl die Autorin Nazigegnerin ist, hat sie bewusst / unbewusst genau den Deutschen porträtiert, den Hitler in seiner Rassentheorie als Arier bezeichnet hat, obwohl Hitler mit seiner Rassentheorie gescheitert ist. Manche wollen es immer noch nicht wahrhaben, dass es viele dunkelhaarige Deutsche gibt. Viele haben sogar von Natur aus einen olivfarbenen Teint. Mich wundert das nicht, denn seit eh und je sind Menschen rund um den Globus gewandert, längst sind alle Menschen vermischt. Selbst der sog. dunkelhäutige Urdeutsche kam einst aus dem Urwald, um das mal ganz platt auszudrücken. Was uns genetisch verändert hat, ist das Klima …

Mein Fazit
Wer einen einfachen Unterhaltungsroman sucht, der kommt hier voll auf seine Kosten, dafür hätte der Roman auch seine volle Punktzahl verdient. Wer aber mehr Anspruch sucht, wird eher enttäuscht werden.  

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch die Anfrage beim Verlag. Aufmerksam wurde ich durch den Buchtitel und durch Brasilien, in dem Land, in dem rund um die Kaffeebohne alles begann. Ich wurde neugierig auf die Kaffeeplantage. Ich dachte, dass Brasilien in der Geschichte einen großen Raum einnehmen würde. 

Meine Bewertung

1 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (einfach, fantasievoll)
0 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere; 
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

6 von 12 Punkten

Ein herzliches Dankeschön an den Verlag von HarperCollins für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

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Gelesene Bücher 2021: 06
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Gehörte Bücher 2021: 07

Ich höre gerade: Sten Nadolny / Das Glück des Zauberers
Aljoscha Long u. a. / Mit dem Herzen siehst du mehr
Jane Austen: Mansfield Park
Albert Einstein: Triumph des Denkens
Geo Podgast Staffel 1 / 24 Folgen zu Reisen und Tourismus
Geo Podgast Staffel 2 / 26 Folgen zu Wissenschaft und Technik

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Partnerschaft zwischen
Wissenschaft und Intuition!

Lesen mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.

Mitgefühl für alle Mitseelen / Mitgeschöpfe
Deine Probleme könnten meine Probleme sein,
und meine Probleme könnten Deine Probleme sein.
Mein Schmerz, Dein Schmerz
Dein Schmerz, mein Schmerz.
Wir sind alle fühlende Wesen.
(Den Tieren eine Stimme geben)

 

Samstag, 20. März 2021

Zweite Proust - Satire/ Angekündigter Besuch

Bildquelle: Pixabay
Marcel Proust hatte mir gestern Abend von Paris aus einen Besuch zu mir nach Hause angekündigt und soeben hat er mich von unterwegs über ein Theatrophon angerufen, weil er kein Handy besitzt. Er befindet sich im Zwischenstopp und hat mir seine eingetroffene Einreise nach Deutschland und den Besuch zu mir nochmals bestätigt. Ach jeh, bin ich aufgeregt. Handy? Theatrophon? Wo um Himmelswissen sind auf öffentlichen Plätzen Theatrophons installiert?

Nirgends, sagte er, er trage auf Reisen immer ein eigenes bei sich im Gepäck mit, das er jeder Zeit ein- und auspacken könne, vor allem, um langweilige Fahrten auf den langen Autobahnstrecken, die es zu seiner Zeit nicht gab, besser überbrücken zu können. Dass man aber damit auch telefonieren könne, habe er selbst nicht gewusst. Aus purer Spielerei habe er es mal ausprobiert, und mich damit, wie man hören könne, erfolgreich kontaktiert. Ist für mich ein Wunder, mit welcher proustischen Zauberei dieses Theatrophon ein Telefon ersetzen konnte, fand aber in meiner Vorstellung keinen Platz und musste es so stehen lassen, solange die Verbindung funktioniert und das alles noch ohne eine Theaterbühne?

Autobahnstrecken? Aber wie ist er denn unterwegs? Doch nicht mit dem Zug? Nein, antwortete er mir. Mit einem Automobil. Ich wusste nicht, dass Proust Auto fahren konnte. Nein, er selbst würde auch nicht fahren. Er habe einen Chauffeur.
Marcel hat mich gefragt, ob ich heute eine Gesellschaft geben würde? Eine Soiree? Ich musste ihn daran erinnern, dass wir Corona haben und wir ein strenges auflagengestütztes Leben führen würden. Also keine Gesellschaft?, hakte er beharrlich nach. Nein, keine Gesellschaft, erwiderte ich. Wir sind ja hier nicht in Paris, wo im Vergleich zu uns die Inzidenz stetig steigt und ihnen wie ein Wunder dennoch kein Lockdown verhängt wurde.
Aaaber ich könne ihm eine Gesellschaft anderer Art offerieren, die sogar virenfrei sei. Sie biete reichlich wortgewandten, literarischen Esprit, ganz nach seinem Gusto. Jede Menge Seelenverwandte befänden sich darunter.
Nun wurde er neugierig, aber die Leitung wurde gekappt, die Verbindung gestört. Mit einem Handy wäre das nicht passiert, oder doch? Obwohl die berühmten Funklöcher auch moderne Apparate überraschen können. In der Zwischenzeit gehen mir jede Menge Gedanken durch den Kopf.
Ob er allergisch auf Katzenhaare ist? Er ist Asthmatiker und ich mache mir ein wenig Sorgen. Man kann putzen wie man will, es reicht die bloße Anwesenheit von Felltieren, um einen bronchialen Anfall auszulösen. So viel ich weiß, ist er aber Pollenallergiker.
Ich habe dennoch meine ganze Wohnung mehr als geputzt, meine Katzen gestriegelt und ihnen eine schöne Schleife um den Hals gebunden und alles für diesen ach so großen fabulierlustigen Romancier vorbereitet.
Zum Abschluss bin ich noch schnell in ein Café gehetzt, dessen Personal auch vor der Tür Bestellungen begleicht, die ich telefonisch in Auftrag gegeben habe, und konnte jede Menge Madeleines und Lindenblütentee mit nach Hause tragen.

Jetzt ist alles fertig. Ich bin ganz aufgeregt. Aber mein Freund kann nun kommen. Ich bin gut vorbereitet, auch meine Bücher in den Regalen sind gut sortiert und so warte ich nun gespannt, bis es endlich an meiner Haustüre klingelt.

Zwei Stunden sind mittlerweile vergangen und Marcel Proust ist noch immer nicht eingetroffen. Vielleicht ist es aber auch meine Ungeduld, die mir die Wartezeit so lang erscheinen lässt, denn ich freue mich so sehr auf ihn und kann es kaum erwarten, ihn bei mir empfangen zu dürfen. Die Literaturgespräche, die Proust mit seinen zahlreichen Freund*innen geführt hatte, waren meist sehr geistreich, immer so beseelt und nie trocken. Man hat just seine individuellen Ansichten daraus entlocken können, die jedes Mal von Geist und Seele getragen waren. Niemals musste er sich von seinen Partner*innen anhören, dass seine Art, über Literatur zu sprechen, zu persönlich sein würde. Oh ja, und gerade Marcel Proust ist jemand, der sein Herz auf der Zunge trägt und trotzdem wird er geachtet, denn alles ist in seinen Kreisen erlaubt. Literaturgespräche mit Witz, Charme, mit Trauer, Kummer, dann wieder mit Freude, Liebe, Glück ... Genau das gefällt mir am Austausch, weil dies Attribute sind, die sich auch in authentisch intellektuell geführten Kreisen nicht wirklich ausblenden lassen.

Parce que la vie le veut ainsi ...

© Mirella Pagnozzi


Montag, 15. März 2021

Paula Stern / Tage des Aufbruchs - Die Kaffeedynastie

 Klappentext  

Aachen 1945: Als Eberhard Ahrensberg nach Kriegsende in seine Heimat zurückkehrt, steht er vor den Scherben seiner Existenz. Der nationalsozialistische Vater an der Front gefallen, das Haus in Trümmern, die Firma aufgelöst. Doch er muss seine kleine Familie ernähren – in seiner Not beginnt er, Kaffee zu schmuggeln.

Aachen, Gegenwart: Als Erbin des bekannten Kaffee-Imperiums Ahrensberg liebt Corinne alles, was mit Kaffee zu tun hat. Doch anders als ihr Bruder setzt Corinne nicht auf Profit, sondern auf Individualität und Ursprünglichkeit. Bei ihren Recherchen in der Geschichte des Familienunternehmens entdeckt Corinne die bewegende Vergangenheit voller Glück, Verrat und Kampfgeist.

Autor*inporträt

Paula Stern liebt es zu genießen. In ihrer Trilogie »Die Kaffeedynastie« vereint sie diese Liebe mit ihrer Leidenschaft zum Schreiben und dem Interesse an historischen Ereignissen. Aus eigener Erfahrung weiß sie, wie es ist, ein Unternehmen zu leiten und mit den feinen Nuancen von Aromen verschiedenste Geschmacksrichtungen zu kreieren. Gemeinsam mit Mann und Hund lebt sie in einem kleinen Ort im Südwesten Deutschlands.

Meine ersten Leseeindrücke

Ein Buch, von dem ich gar nicht weiß, ob es zu mir passt, da ich absolut keine Kaffeetrinkerin bin. Aber ich wurde neugierig, vielleicht war es die Lust auf die Ferne, was mich so angezogen hat, weil es hier um eine Kaffeeplantage in Südamerika geht. Eine Kaffeedynastie einer deutschen, Aachener Familie von 1945. 

Bisher habe ich 64 Seiten gelesen und das Schreibkonzept finde ich ansprechend, da es sich kapitelweise mal in der Gegenwart bewegt, und mal wieder zurück geht in die Historie. Wenn ich richtig gerechnet habe, bekommt man es hier mit einer deutschen Familie aus vier Generationen zu tun, aber nur drei sind an dem Traditionsunternehmen beteilig.

Bis jetzt gefällt mir das Buch sehr gut, aber ich hoffe nicht, dass sich der Inhalt später sich nur noch an Intrigen hangeln wird, dann wird mein Interesse, das weiß ich schon jetzt, wieder abflachen. Es ist auf jeden Fall kein Thomas Mann - Buddenbrooks - Werk, das merkt man schon an der Sprache, das ich mir trotzdem erhofft hatte, selbst wenn die Gewinnbranche der Kaufmannsfamilie durch die Kaffeeplantage in Brasilien verwurzelt ist und nicht im Norden Deutschlands wie Lübeck. Ich lasse mich überraschen.

Buchdaten

·            Herausgeber : HarperCollins (27. Oktober 2020)

·            Sprache : Deutsch

·            Broschiert : 320 Seiten

Hier geht es zur Verlagsseite HarperCollins

Hier geht es zu meiner späteren Buchbesprechung

 

Montag, 8. März 2021

Rolf Sellin / Wenn die Haut zu dünn ist - Hochsensibilität vom Manko zum Plus (1)

Bildquelle: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Ein wundervolles Buch, das mir sehr gut gefallen hat. Ich fühle mich durch diese Lektüre mehr als bereichert und bin erstaunt, dass diese Thematik in Fachkreisen so wenig bekannt ist. Beim Lesen dieser vorkommenden Theorien hatte ich jede Menge Aha-Erlebnisse. Dazu sind die Buchseiten reichlich beklebt mit Post its, die ich, wie sonst auch bei vielsagenden Büchern des Rahmens wegen nicht in der Lage bin, sie alle zu bearbeiten und orientiere mich hauptsächlich auf ein paar Stichpunkten von mir. Die Post its möchte ich dennoch nicht unerwähnt lassen, um damit zu zeigen, wie umfangreich dieses kleine Büchlein doch ist.

Damit keine Verunsicherung aufkommt, taucht in manchen von mir aufgeführten Zitaten das Personalpronomen Wir auf. Rolf Sellin spricht selbst als Hochsensibler häufig in der Wir-Form, um meiner Meinung nach sein Mitgefühl und seine Solidarität mit den Mitbetroffenen zu demonstrieren.

Am Ende der Buchbesprechung gehe ich als Gleichgesinnte auf ein Fallbeispiel in eigener Sache ein, das hauptsächlich meine Denkweise und die Art meiner Buchbesprechungen betrifft.

Des Weiteren gibt es hier eine Verlinkung zu einer weiteren Buchbesprechung dieses Genres auf meinem Blog. 

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Um was geht es in diesem Buch?
Um nur ein paar wichtige Punkte zu nennen:

Die Auseinandersetzung und die Konfrontation mit der Hochsensibilität und die Definition dazu, was unter einer Hochsensibilität zu verstehen ist und wie sie sich von einer normalen Sensibilität unterscheidet.

Aufgegriffen werden auch die Zusammenhänge zwischen Umwelteinflüssen und den Genen.

Man erfährt, welche Personengruppen von der Hochsensibilität betroffen sind. Des Weiteren werden Stärken und Schwächen deutlich gemacht. Dazu behandelt der Autor entsprechende Energiearbeit, Selbstzentrierung mithilfe von energetischn Übungen in der Ganzheitlichkeit zu Körper, Geist und Seele. Auch wird auf ganz konkrete Alltagshilfen verwiesen. In jedem Kapitel gibt Sellin die Möglichkeit, die Themenpunkte in den jeweiligen Kapiteln bei sich selbst zu reflektieren. Auch werden jeweils Methoden benannt, um die Reflexionen noch etwas zu untermauern. Des Weiteren geht es um die eigentliche Hauptthematik, die Hochsensibilität nicht als Schwäche zu begreifen, sondern als eine Begabung

Für Menschen, die unter ihrer hohen Sensibilität leiden, die es nicht geschafft haben, daraus Potenzial zu schlagen, bekommen hier Anregungen zu diversen Entspannungsübungen und die Auseinandersetzung damit in mannigfaltiger Art. Welche eignen sich für Hochsensible und welche eignen sich weniger? Man wird erstaunt sein zu lesen, dass Sellin besonders Achtsamkeitsübungen für diese Zielgruppe aus den dort benannten Gründen nicht wirklich für erstrebenswert erachtet ...

Hochsensibilität zeichnet sich aus über intensive Reizaufnahme und über die Wahrnehmung auf verschiedenen Kanälen.

Hohe Sensibilität bedeutet zunächst nur, dass ein Mensch mehr Reize aufnimmt als andere und das intensiver. Es sagt nichts darüber aus, ob jemand stark oder schwach ist, introvertiert oder extrovertiert, über welche anderen Begabungen er sonst noch verfügt oder wie intelligent ein Mensch ist, auch wenn deutliche Zusammenhänge zwischen hoher Intelligenz und hoher Sensibilität bestehen. Es gibt alle Arten von Hochsensiblen. Darüber hinaus bleibt offen, wie ein Mensch mit seiner hohen Sensibilität umgeht, ob er sie konstruktiv zu nutzen versteht oder ob er unter ihr leidet. (2020, 19)

Das Ideal für Gerechtigkeit und Menschlichkeit

Die meisten Hochsensiblen sind von dem tiefen Wunsch beseelt, die Welt menschlicher zu gestalten, und sie sind bereit, das Ihre dafür zu bewirken. Und genau darin kann Ihr Beitrag für die Gesellschaft liegen. Denn sie sind es, die als Erste merken, wenn etwas ungerecht ist oder nicht stimmig. Sie erkennen als Erste, was fehlt. Und oft sind sie die Vorreiter, die zuerst die Auswirkung zu spüren bekommen, wenn die Menschlichkeit zu kurz kommt. (17) 

In unserer Gesellschaft leben 15 bis 20 Prozent der Menschen, die als hochsensibel gelten. Viele davon leiden allerdings unter ihrer Hochsensibilität, sodass einige davon Hilfen aus diversen Psychotherapien beanspruchen würden, da sie schon in der Kindheit durch ihre Hochsensibilität in ihrer seelischen Entwicklung beeinträchtigt wurden. Andere dagegen durften sich in ihren Anlagen wunschgemäß so entfalten, wie es ihrer Natur gemäß ist. Der Autor zeigt auf, welchen Einflüssen ein Kind ausgesetzt ist, um entweder geschwächt oder gestärkt zu werden:

Welche Einflüsse sind es, die darüber entscheiden, ob die Anlage der hohen Sensibilität für den Begabten zur Last wird oder zu einer Bereicherung seines Lebens? Denn es gibt sie: Hochsensible, die von vornherein so sein durften, wie sie erschaffen wurden. Sie wurden nicht nur von ihrem Umfeld angenommen, sie waren auch bereit, sich selbst auf das Leben und in seine körperliche Existenz einzulassen. Sie hatten keinen Anlass, die Wahrnehmung ihrer selbst aufzugeben oder zu opfern. (47) 

Hauptsächlich die Art der umfassenden Wahrnehmung macht die Hochsensibilität zu etwas Besonderem:

Der entscheidende Faktor, durch den Hochsensible sich von anderen unterscheiden, ist die Wahrnehmung. (...) Wahrnehmung ist der zentrale Punkt im Leben eines Hochsensiblen. Sie ist seine größte Stärke und Begabung und kann zugleich sein größter Schwachpunkt sein, wenn er nicht gelernt hat, damit umzugehen. Probleme mit der Wahrnehmung haben vor allem die Hochsensiblen, die versucht haben, sich anzupassen und ihre hohe Sensibilität zu unterdrücken. Sie haben dadurch die Wahrnehmung ihrer selbst verloren und damit auch den Bezug zu sich selbst. Sie haben sich auf diese Weise den Reizen der Welt da draußen ausgeliefert. (71) 

HSP (Hochsensible Persönlichkeiten) stellen Dinge infrage, die schon immer so waren, während viele andere diese Dinge einfach so hinnehmen. 

HSP in den Geschlechterrollen
Während man bei Frauen die Hochsensibilität eher herunterspielt, werden sie häufig nicht ernst genommen, da diese Fähigkeit von ihnen als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Männer dagegen haben es noch schwerer, da sie als zu weiche Männer bezeichnet werden (Weichei) und sie sich mit dem Vorurteil plagen müssen, keine richtigen Männer zu sein.

Ein konstruktives Muster dafür fehlt, wie man Mann und trotzdem hochsensibel sein kann. Die Betroffenen sind dabei auf sich gestellt. Von den hochsensiblen Vätern können Sie vielleicht das eine oder andere, das sie schätzen, übernehmen. Im Wesentlichen lernen sie von ihnen, wie sie es besser nicht machen sollten.  

Es ist allein unser Denken, das Gegensätze konstruiert. Als gegensätzlich erachtete Eigenschaften können in der paradoxen Wirklichkeit zusammen existieren und müssen sich durchaus nicht ausschließen. Es ist unser Kopf, der sich vorstellt, dass man entweder das eine ist oder das andere, entweder männlich oder sensibel. Und dann ist man nicht fern von den Vorstellungen vom hochsensiblen Weichei oder vom tumben Kraftprotz. Diese Denkweise trägt mit dazu bei, dass sich hochsensible Jungen gegen ihre Begabung entscheiden und glauben, mit Männlichkeit dafür belohnt zu werden, wenn sie ihre Wahrnehmungsfähigkeit unterdrücken und ihre Sensibilität opfern. (56f) 

Sind Hochsensible bessere Menschen?
Man neigt zu glauben, dass Hochsensible bessere Menschen sind. Manche protzen regelrecht damit. Aber eine wahre HSP bleibt bescheiden, benötigt keine Überheblichkeit gegenüber den anderen Mitmenschen. Es würde sie eher beschämen, sich vor anderen aufzuplustern. Man nimmt diese Untugend schon genug bei anderen Mitmenschen wahr. Ich selbst bekomme tatsächlich eine Gänsehaut, wenn sich andere in ihrer Überheblichkeit vor anderen hervorheben. Ich schäme mich für sie, als wäre ich die aufgeplusterte Person. 

Ansonsten aber sind Hochsensible nicht besser oder schlechter als andere Menschen auch. Hochsensible können zum Beispiel ebenso gewalttätig werden wie sonst ein anderer. Wenn Hochsensible z. B. zu sehr in Stress geraten, wenn ihre Energien dadurch nicht richtig zum Fließen kommen, weil sie mit den vielen Reizen nicht umzugehen in der Lage sind, kann es besonders in problembehafteten Familien zu Gewalteskalationen kommen.

Die Denkweise eines Hochsensiblen

Auch beim Denken sind die Hochsensiblen vor die Wahl gestellt, unter unserer Begabung zu leiden, sie als Defizit zu erleben oder Bewusstheit zu entwickeln. Für den Bereich des Denkens heißt das, entweder fremden Denk- und eigenen Anpassungsmustern ausgeliefert zu sein, in einem schwelenden inneren Dauerkonflikt zwischen Anpassung und forcierter Eigenwilligkeit zu leben, sich von alten Denkgewohnheiten beherrschen zu lassen - oder verantwortlich mit dem eigenen Denken umzugehen, aktiv und bewusst zu denken und die Qualitäten dieses Denkens zu entfalten. (123)

Hochsensible in Psychotherapien
Begibt sich eine HSP in eine Psychotherapie, wird sie meist fasch behandelt, da die Hochsensibilität weder ein Symptom sei, noch eine Erkrankung. Sie sei vielmehr eine Begabung, die nicht wegtherapiert werden sollte. Die Hochsensibilität würde in vielen Konzepten der Psychotherapien fehlen. Stattdessen würden viele Menschen in diagnostische ICD-10 Schablonen gepackt werden wie z. B. Depression, Borderline, ADHS, Affektive und Kognitive Störung etc. In vielen Therapien würden die Menschen lernen, was sie eigentlich nicht sollen, sich ein dickeres Fell anzulegen. Andere werden noch zusätzlich mit Psychopharmaka eingedeckt. Die Psychopharmaka sind probate Mittel, die Hochsensibilität noch weiter zu unterdrücken, denn hier werden Gefühle und  der Geist "eingestampft". Die Hochsensibilität wird dadurch zusätzlich erfolgreich kontratherapiert, das heißt, sie würde mit Hilfe der Psychotherapie gegen ihr Naturell arbeiten. 

Eine richtige Therapieform für diese Zielgruppe müsste allerdings so ausgelegt sein, dass die Hilfesuchenden lernen könnten, mit ihrer Fähigkeit konstruktiv umzugehen, dass sie aufhören, sie weiter zu verdrängen, um ein authentisches und selbstbewusstes Leben führen zu können. Rolf Sellin behandelt diese Menschen in eigener Praxis.

Kurze Unterscheidung zwischen der Hochsensibilität und der normalen Sensibilität
Die "normale" Sensibilität ist meist nur auf sich selbst bzw. auf sein näheres Umfeld beschränkt, während die Hochsensibilität ausgeweitet ist auf alle Mitseelen, d. h. auf Mitmenschen aller Länder und Kontinente, auf Tiere und Pflanzen, und auf das gesamte Weltgeschehen auch in spiritueller Form. Mir selbst sind viele Mitmenschen bekannt, die sich als sensibel bezeichnen, aber ein nur geringfügiges Sensorium für ihre Gegenüber besitzen, während viele HSP in der Lage sind, mental aus sich heraus zu gehen, um den Menschen mit den Augen eines anderen zu sehen.

In dem Buch sind zudem Selbsttests abgedruckt, für

1.                      1.   Erwachsene

2.   Kinder

3.   Hochsensible mit High Sensation Seeker. (Das sind Menschen, die neben der Harmoniebedürftigkeit manchmal auch den Kick, Spannung, Aktion benötigen).

Cover und Buchtitel
Beides finde ich gelungen. Vor allem der Buchtitel hält, was er verspricht. Die Einen nutzen die Hochsensibiliät als Begabung, andere dagegen eher als ein Defizit, bzw. als eine lästige Last.

Wir kommen nicht um die Entscheidung herum, wie wir mit unserer Begabung umgehen wollen. Immer wieder stehen wir vor der Wahl, zu leiden oder bewusst zu leben und unser Bewusstsein zu entwickeln. Und das in jedem Augenblick. Doch dann werden wir reichlich belohnt: War die Hochsensibilität zuvor oft ein Manko für uns, so wird sie nun zum Plus, das unser Leben und auch das Leben der anderen bereichert. (173)

Zum Schreibkonzept
Das Buch ist auf den 190 Seiten in mehreren Kapiteln mit Unterpunkten gegliedert. Am Ende gibt es eine übliche Danksagung mit Buchempfehlungen. Es beginnt mit einem Vorher und Nachher.

Meine Meinung
Mich hat das Buch sehr überzeugt, weil, wie ich oben schon geschrieben habe, es in mir jede Menge wertvolle Erkenntnisse liefern konnte, für die ich unendlich dankbar bin, weil sie mir zuvor in dieser Form nicht bewusst waren, ich aber eine Ahnung hatte, die sich nur noch nicht hat an etwas fest machen konnte. Durch dieses Buch kam ich ins Nachdenken, ins Schwelgen, ins Meditieren. Ich verstehe nun, warum häufig Gefühle aufkommen, anders zu sein als andere. Vor allem, wenn man Missstände auch in Politik und Gesellschaft aufzudecken versucht und man häufig dabei missverstanden wird. 

Meine besondere Art, Bücher zu lesen und darüber zu schreiben
Hier fokussiere ich mich nun, um am Beispiel zu bleiben, auf meine besondere Art, Bücher zu lesen, um den Bogen nicht auf andere Lebensbereiche spannen zu müssen.

Diese differenzierte Wahrnehmung, von der ich nun häufig auch in anderen Büchern dieses Genre gelesen habe, finde ich enorm. Betroffene nehmen tatsächlich Dinge wahr, die anderen nicht auffallen. Nun verstehe ich auch, weshalb ich Bücher anders lese als die meisten von uns. Ich registriere darin Tatsachen, die für andere nicht auffällig bzw. nicht wichtig zu sein scheinen und schlichtweg überlesen werden. In den belletristischen Büchern kommt es mir selbst auf die Weltanschauung an, die von einer besonderen Humanität geprägt ist. Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit und alles, was damit verbunden ist. Oft versteckt zwischen den Zeilen. Mir kommt es nicht auf hochtrabende Gedanken an, die für mich zwar auch wichtig sind, die aber immer eingebettet sind in einem Konstrukt universaler Menschlichkeit. Dadurch wird mir von einigen meiner Bloggerkolleginnen häufig unterstellt, meine Buchbesprechungen seien persönlich. Ich konnte nicht verstehen, was sie unter persönlich meinten? Obwohl meine Thesen immer am Text belegt wurden, hinterließ ich in deren Augen angeblich einen subjektiven und unsachlichen Eindruck, als gäbe es so etwas wie eine objektive Meinung. Objektiv bedeutet wohl, etwas zu denken, was auch andere denken, sodass ich mich häufig frage, ob Einzelmeinungen nichts zählen? 

Deshalb ist dieser Begriff Persönlichkeit bei mir mittlerweile, so wie andere ihn hier anwenden, ziemlich negativ besetzt. Persönlich wäre für mich in diesem Zusammenhang, wenn ich mein gesamtes Privat- und Liebesleben in einer Buchbesprechung ausbreiten würde. Zusätzlich sind meine Thesen zu einem Buch immer begründet. Nicht selten wird mir dadurch indirekt unterstellt, das Buch nicht richtig verstanden zu haben, und nur, weil ich andere Facetten aufzudecken in der Lage bin als viele meiner Mitlerserinnen. Aus diesem Grund werden meine Rezensionen häufig als subjektiv (unsachlich) abgetan. Und genau dies ist mit ein der Grund, weshalb ich mich gerne in großen Lesezirkeln via Facebook & Co aus Diskussionen heraushalten möchte. 

Wer hat aber nun recht?
Einige meiner Bloggerkolleginnen besitzen eine andere Form von Wahrnehmung. Daher nehmen sie in den Büchern Dinge wahr, die ihnen wichtig sind. Nicht besser und nicht schlechter als ich, doch mit dem einen Unterschied, dass ich niemals auf die Idee käme, meine Bloggerkolleginnen als persönlich bzw. als unsachlich abzutun. Ich bewerte ihre Schriftstücke nicht in dieser Form, während meine bewusst / unbewusst bewertet werden. Ich nehme meine Bloggerkolleg*innen im Gegenzug ernst, selbst wenn ich eine andere Meinung als sie habe, denn ich habe gelernt, dass es mehrere Wahrheiten gibt. Man könnte die Unterschiede ruhig als eine lehrreiche Ergänzung betrachten. Kurz: Ich lese eben mit einer anderen Brille, und nehme auch dadurch eben anders wahr.

Hierbei hat mir der Autor nun eine Antwort auf meine langjährige Frage geliefert, weshalb ich denke, wie ich denke und weshalb ich so sehr missverstanden werde. 

Das eigene Denken eines Hochsensiblen ist oft radikaler und anderen Menschen fremd, denn es beruht auf einer umfassenderen und oft auch hintergründigen Wahrnehmung, und es misst sich an einem höheren Anspruch an Harmonie, Gerechtigkeit und Vollkommenheit. Es kann sehr subjektiv erscheinen, doch ist es üblicherweise nicht von der eigenen Person und den eigenen Interessen bestimmt. Dadurch ist es in der Lage, altbekannte Positionen grundlegend infrage zu stellen. Selbst wenn es sich um politische Inhalte dreht, kommt dieses Denken für andere oft als viel zu absolut daher, als dass es im engeren Sinne politisch sein könnte. (121)

Auf der Seite 125f finden sich noch einige Punkte. Die wichtigsten davon möchte ich hier noch hinzufügen.

Potentiell vorhandene besondere Qualitäten der hochsensiblen beim Denken

·         Objektiv und unbestechlich denken.

·         Das Denken ist umsichtig und frei von Scheuklappen.

·         Das Denken lässt sich nicht durch Konventionen einschränken.

·         Das Denken respektiert auch die Interessen anderer.

·         Das Denken ist zugleich kritisch und selbstkritisch. 

·         Das Denken lässt sich nicht durch die momentane Machbarkeit einschränken, es kann daher visionär sein.

Häufig und viele Jahre lang hatte ich mir im Stillen selbstkritisch den Kopf zerbrochen und nach Lösungen gesucht, Rezensionen zu schreiben und zu denken wie jedermann auch.

Herzlichen Dank hierfür an den Autor für diese Antworten, nach denen ich so lange gerungen und gesucht habe. Ich werde obiges Zitat in Ehren halten, und wenn wieder ein Kommentar jener Art eintreffen sollte, werde ich obiges Zitat hinterher schieben.

Mein Fazit
Ein sehr lesenswertes Buch für alle Menschen, die glauben, mehr als zartbesaitet zu sein. Ich hoffe, dass ich mit meiner nun doch etwas umfangreicheren Besprechung, die zusätzlich angelehnt an einem eigenen Fallbeispiel, auch das Interesse für dieses Buch bei anderen wecken durfte.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch Eigenrecherchen im Internet und durch die Anfrage beim Verlag.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck und Verständlichkeit
2 Punkte: Sehr gute Umsetzung der Thematik.
2 Punkte: Sehr gute aufklärerische und kritische Verarbeitung
2 Punkte: Logischer Aufbau, Struktur und Gliederung vorhanden.
2 Punkte: Anregung zur Vertiefung, zum weiteren Erforschen und zur Erkundung
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

2 Sonderpunkte wegen des Lesehighlights.

14 Punkte

Hierbei ein herzliches Dankeschön an den Köselverlag für das Leseexemplar.

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Gelesene Bücher 2021: 05
Gelesene Bücher 2020: 24
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Gelesene Bücher 2011: 86

Lesen mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.

Partnerschaft zwischen
Wissenschaft und Intuition!

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Gehörte Bücher 2021: 03

Ich höre: Rutger Bregmann; / Im Grunde gut
Geo Podgast Staffel 1 / 24 Folgen zu Reisen und Tourismus
Geo Podgast Staffel 2 / 26 Folgen zu Wissenschaft und Technik

Montag, 1. März 2021

Rolf Sellin / Wenn die Haut zu dünn ist - Hochsensibilität - vom Manko zum Plus

 Klappentext  

Etwa 20 Prozent aller Menschen nehmen wesentlich intensiver wahr als andere. Die besondere Gabe der Hochsensibilität wird jedoch von vielen Betroffenen als Belastung empfunden. Auch das Umfeld reagiert oft mit Unverständnis: Musst du immer so empfindlich sein? 

Rolf Sellins erfolgreicher Praxisratgeber hilft Hochsensiblen zu verstehen, warum sie »anders« sind. Er verrät, wie sie mit Stolpersteinen im Privaten wie im Beruf umgehen und das eigene Potenzial nutzen. Damit gibt er Antworten auf die sich immer stellende Frage: Wie geht man mit seiner hohen Sensibilität um? Dabei geht er über die Beschreibung des Phänomens hinaus und zeigt Möglichkeiten und Methoden für einen konstruktiven Umgang mit der Wahrnehmung auf. Denn Wahrnehmung ist die größte Begabung der Hochsensiblen. Besinnungsfragen, Experimente, Selbsttests und praxiserprobte Methoden helfen dabei, diese Begabung zu fördern.

Autor*inporträt

Rolf Sellin, geboren 1948, ursprünglich Dipl.-Ing. Architekt, ist selbst hochsensibel. Nach einer Lebenskrise hat er wirkungsvolle Methoden für den Umgang mit der Hochsensibilität entwickelt, die bei der Steuerung der Wahrnehmung ansetzen. Sellin gründete 2008 das HSP-Institut in Stuttgart, leitete dort bis 2019 Seminare und bildete Psychotherapeuten und Pädagogen für den Umgang mit Hochsensiblen fort.


Meine ersten Leseeindrücke

Eine sehr interessante Lektüre, wenn mir die Theorien darin nicht neu erscheinen, dennoch ein wichtiges Buch, weshalb ich diese Thematik auf meinem Blog gerne mit ein paar Büchern davon begleiten möchte. Denn selbst in Fachkreisen ist dieses Problemfeld speziell dieser Zielgruppe noch recht dünn gesät und hoffe hier eine Orientierung für andere interessierte Leser*innen zu bieten.

Sehr schön geschrieben, speziell auch was die Hochsensibilität innerhalb der Geschlechterrollen betrifft, finde ich sehr spannend. Rolf Sellin bezieht allerdings auch Kinder mit in sein Blickfeld ein, was ich zusätzlich für bedeutungsvoll halte .  

Darüber hinaus ist schon auf den ersten Seiten ein Selbsttest abgedruckt, der auch Hilfe einer Orientierung bieten könnte.

Der Autor, selbst auch eine HSP (Hochsensible Persönlichkeit), bindet in allen Theorien auch seine eigenen Erfahrungen mit ein. Zusätzlich lässt er zu jedem Kapitel Fallbeispiele seiner Klient*innen einfließen. Der Autor ist in eigener Praxis im Institut für Hochsensible als Coach / Therapeut tätig.

Dazu mehr in meiner späteren Buchbesprechung. Ich befinde mich derzeit auf der Seite 60.

Buchdaten

·       Herausgeber : Kösel-Verlag; 2. Edition (22. Juni 2020)

·       Sprache : Deutsch

·       Broschiert : 192 Seiten

·       ISBN-10 : 3466347491

Hier geht es zur Verlagsseite von Kösel.

Hier geht es zu meiner Buchbesprechung.

 

Samstag, 27. Februar 2021

Ingrid Noll / Goldschatz (1)

Bildquelle: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Obwohl Anne und ich das Buch schon vor ein paar Tagen beendet haben, überlege ich immer noch, welche Meinung ich mir darüber schlussendlich bilden möchte. Ich halte die Autorin für sehr menschlich, weil sie sich mit den gesellschaftlichen Nöten authentisch auseinanderzusetzen scheint. Ich habe sie auf der fbm14 erlebt, auf der sie so ein tolles Interview gegeben hat, woraus ich gerne einen kleinen Passus zitieren möchte.

Ingrid Noll bringt in der Regel nur Menschen um, die sie partout nicht leiden kann. Sie hetzt die Figuren gegeneinander auf, bis es zum Knall kommt. I. N. beklagt allerdings, dass die Figuren nicht immer das machen, was sie gerne möchte ... Und das deprimiert sie manchmal ;).
Es gibt kein reines Happy End, aber sie bestraft ihre Täter schon, allerdings nicht mit Zuchthaus, sondern in Form von Krankheit oder anderes.

Ja, das kann ich bestätigen, genau dies hat sich auch in ihrem hiesigen Buch zugetragen. Nun weiß ich natürlich, weshalb manche Protagonist*innen am Ende ein besonderes Schicksalsereignis erfahren haben.

Diese Sichtweise hat in meinen Augen als Nichtkrimileserin mir sympathisch werden lassen.

Viele interessante Themen hat sie in ihren Erzählstoff hineingelegt, aber leider einige davon nur als Schlagwörter gebraucht, was mir, Anne geht es ähnlich, nicht ganz ausgereicht hat, um mich / uns völlig zu befriedigen. Nun fehlen uns die Vergleiche zu den anderen Werken, da für uns beiden dieser Band der erste von Noll gewesen ist.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Trixi, die Icherzählerin, zieht in das alte Bauernhaus ihrer verstorbenen Großtante namens Emma, das ihre Mutter geerbt hat, und gründet darin eine Studenten-WG. Es ziehen ein: Saskia, Martina und die beiden Pazifisten Oliver und Henry.

Das Haus müsste eigentlich komplett saniert werden, aber da Trixi das Geld hierzu nicht hat, wird zusammen mit ihren Mitbewohner*innen selbst Hand angelegt. Dafür dürfen sie mietfrei wohnen, müssen sich nur an den Auslagen beteiligen.

Diese jungen Leute bezeichnen sich als ein Gegenwind einer Wegwerfgesellschaft, wollen dadurch etwas Besonderes sein. Weniger angepasst und nicht so abgedroschen wie andere ihres Alters.

Wenn ihr so angepasst und oberflächlich werden wollt wie unsere Altersgenossen - bitteschön. Die haben ja nur die Karriere im Kopf, die neueste Mode, das schnellste Auto, den exotischen Urlaub. Wahrscheinlich haben sie niemals Tomaten gepflanzt oder einen Schrank abgeschliffen. (107)

Sie haben viel vor. Neue Fenster einsetzen, Heizkörper müssen eingebaut werden, da das Haus nur in einzelnen Räumen alte Öfen besitzt.

Auch sanitäre Anlagen müssen komplett ausgewechselt und zusätzlich neue WC-Räume angelegt werden.

Es ist September, und sie müssen zügig ran, bevor die kalte Jahreszeit anrückt, damit sie ihr Leben nicht in unbeheizten Räumen mit den undichten Fenstern fristen müssen.

Alles allerdings können sie nicht selber machen, und benötigen für die neue Ausstattung zur Anschaffung nicht nur das nötige Kleingeld, sondern auch die Handwerker müssen ausbezahlt werden. Woher das Geld nehmen?

Doch die jungen Leute sind idealistisch, jeder packt an, selbst wenn ihr Tun wie ein Tropfen auf dem heißen Stein zu wirken scheint.

Der alkoholsüchtige Nachbar Gerhard Gläser, ein alter Mann, der gut mit der Emma befreundet war, drängt sich den jungen Leuten auf, verhält sich außerdem noch recht seltsam. Ohne anzuklopfen steht er plötzlich im Haus, denn er besitzt einen Ersatzschlüssel der verstorbenen Großtante und ist auch nicht bereit, den Schlüssel wieder abzugeben. Gerhard Gläser besitzt allerdings nicht nur diesen Schlüssel, sondern auch jede Menge Geheimnisse. Dazu gehören bestimmte Goldmünzen aus dem Deutschen Reich von 1873, auf denen der Deutsche Kaiser Wilhelm der I abgebildet ist, die vor allem Trixi, Saskia und auch die von Sozialneid geplagte Martina vor schweren Herausforderungen stellt, die die gesamte WG umfasst.

Im Keller der Großtante finden erst Saskia und Trixi ein Säckchen mit 49 Goldmünzen, die zu diesem ominösen Nachbarn Gerhard Gläser führen.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Es waren mehrere. Die Szene mit dem Meerschweinchen, wobei dieses kleine Tierchen aus einer Reflexreaktion heraus ums Leben kam, durch die theatralische Saskia, die keine echte Berührung zur Natur hat. Sehr authentisch wurde diese Szene beschrieben.

Tragisch fand ich zudem den Ausgang mit Martina, die völlig wahnhaft in anderen Schränken schnüffelt, die Schatzkarte entdeckt, nach den Goldmünzen im Nachbarsgarten gräbt und völlig in ihrem Rausch abdreht. Und jede Menge andere Szenen …

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Mir hat gefallen, dass das Buch mit einer Weisheit bzw. mit einer wichtigen Erkenntnis geendet hat.

Das Zusammenleben kann nur wie in einem demokratischen Staat funktionieren. Man muss Verantwortung übernehmen, teilen lernen und andere Meinungen respektieren. (357)

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Keine.

Welche Figur war mir antipathisch?
Trixis Vater.
Aber weshalb Trixis Vater und nicht jemand von den Leuten aus der WG? Die jungen Leute besitzen aufgrund ihres Alters noch jede Menge Entwicklungspotential, das sie hoffentlich im Laufe ihres Lebens noch nutzen werden, während der blasierte Vater als ein reifer Mensch eigentlich es nicht mehr nötig haben sollte, sich in den Vordergrund zu stellen, und vor der eigenen Tochter über sich selbst zu prahlen, um sein Selbstbewusstsein auf Kosten der Tochter künstlich noch weiter aufzublasen. Dazu habe ich weiter unten noch Weiteres geschrieben und mich hierbei an ein Zitat angelehnt.

Gerhard Gläser? War ein alter Mann, der schon von der Autorin gestraft wurde. 

Meine Identifikationsfigur
Keine. 

Cover und Buchtitel   
Fand ich beides sehr passend. Saskia scheint in dieser Geschichte den Hauptgewinn gezogen zu haben. Zum Buchtitel gibt zu dessen Bedeutung drei Alternativen. Eine davon steht zwischen den Zeilen. Schön fand ich, dass die mitteleuropäische Figur auf dem Cover nicht klassisch blond abgebildet ist.

Zum Schreibkonzept
Das Buch beginnt mit einem Inhaltsverzeichnis, das mit 24 Kapiteln betitelt ist. Der ganze Krimi endet nach 357 Seiten.

Meine Meinung
Nolls Botschaft wurde auch uns deutlich gemacht. Junge Leute, die sich nach einem unangepassten, selbständigen Leben sehnen, die es allerdings auch nicht besser hinbekommen, als ihre Altersgenossen. Auch sie schleudern Geld aus dem Fenster heraus, sobald sie es in die Finger bekommen ... 

Trixi, die ständig mit faustischen Zitaten um sich wirft, habe ich ebenfalls als recht oberflächlich und völlig unpassend empfunden. Tiefe Gespräche waren unter diesen Leuten nicht zu finden. Ständig haben sie über andere gewitzelt und auch sich gegenseitig immerzu auf den Arm genommen, (vor allem zwischen der Zicklein und dem Hirten) was mich schließlich, als ich mich an Nolls Humor zu gewöhnen begann, angefangen hatte, mich zu nerven und zu langweilen. Ich bin sicher, dass das Verhalten dieser Leute nichts mit dem Alter zu tun hat. Es gibt viele junge Menschen, die sehr wohl zu tiefen Gedanken fähig sind. Der Faust hat hier partout nicht reingepasst, völlig deplatziert. Schade um diese so schönen Zitate, die für den trivialen Alltagsrausch missbraucht wurden.

Dass Oliver und Henry als Pazifisten bezeichnet wurden, fand ich auch nicht ausreichend gefüllt, da sie beide potenzielle Fleischkonsumenten sind. Das hat für mich überhaupt nicht zusammengepasst. Der Begriff Pazifist ist in dem gesamten Kontext nur einmal aufgetaucht, und man leicht dazu geneigt ist, diesen zu überlesen, wie auch Anne mir dies bestätigen konnte, da auch sie zugab, sich nicht mehr an diese Wortwahl erinnern zu können. Außerdem ist die Fleischlast innerhalb dieser WG so gravierend, dass ich hier keinen Unterschied sehe zur Lebensweise anderer gewöhnlicher Haushalten. Sollte dies tatsächlich als Kritik dargestellt worden sein, dann fehlen mir dazu konkrete Hinweise. Blind ein Statement hinein zu interpretieren liegt mir nicht, da ich Beweise benötige, an denen sich diese Interpretationen am Text festmachen lassen. 

Wieso hat sich denn von den Mitbewohnerinnen niemand gefragt, weshalb Oliver und Henry sich neben dem  Fleischkonsum als Pazifisten bezeichnen, wo in jeder Sekunde Milliarden von Tieren weltweit getötet werden? Solche Fragen stellen sich intelligente Menschen automatisch, das ist ein reiner Automatismus. Hier, in der WG, wurde der Pazifismus aber nicht in Frage gestellt, also interpretiere ich auch keine Deutung rein, dass Noll den Pazifismus nur kritisch gemeint haben soll. 

Trixi scheint zwischendrin eine Ahnung zu bekommen, was die Gründe ihrer Oberflächlichkeit sein könnten, da sie sich immer mal wieder kurz selbst reflektiert:

Bei uns zu Hause kreisten die Tischgespräche meistens um Bilanzen, geschäftliche Gewinne oder Verluste und fast nie um gesellschaftliche Probleme, alternative Lebensformen oder Politik, ganz zu schweigen von Kinofilmen, Ausstellung oder Theateraufführungen. (277)

Eine kritische Aufarbeitung damit kam auch nicht deutlich rüber, diese fand nur in diesem einen Zitat statt. Ich vermisste diesbezüglich eine differenzierte Auseinandersetzung dazu mit den Mitbewohner*innen. 

Dass es den jungen Menschen an echten Vorbilder*innen gefehlt hat, um ihre Ideale ausleben zu können, ist von der anderen Seite auch sehr gut nachzuvollziehen. Ich denke, dass es in vielen Elternhäusern nicht um innere Werte geht, die man bestmöglich in die Gesellschaft bereichernd hineintragen könnte, sondern meist, wie man am besten vorwärtskommt, ohne negativ aufzufallen. Denn auch Trixis Vater scheint aus meiner Sicht ein echter Spießer zu sein, der die Empathie an falscher Stelle walten lässt, als Trixi am Weihnachten verzweifelt zurück ins Elternhaus flüchtet, um sich über die WG-Zustände auszuweinen. Der Vater setzt alle Hebel in Bewegung, Trixi über die Weihnachtsfeiertage aus der WG zu befreien und ohne ihr Einverständnis meldet er sie für eine geplante Seereise an, die eigentlich für sich und für Trixis Mutter angedacht war. Mit einem Zitat von Albert Einstein wendet er sich an die Tochter:

Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. (352)

Ich fand dieses Einstein-Zitat überhaupt nicht passend in Trixis Lage. Aber das zeigt die Empathielosigkeit des Vaters, der die Situation der jungen Leute völlig falsch einschätzt, ohne sich mal die Zeit zu nehmen, Lösungen zu finden, die den jungen Menschen hätten helfen und wieder zusammenbringen können … 

Das solltest du dir auch mal hinter die Ohren schreiben, denn ohne meine Initiative wärst du jetzt in deiner Bruchbude versauert. (Ebd) 

Hier muss der Vater seine angeblich gute Tat noch besonders herauskehren, ist auch typisch, passt gut als Abbild bzw. als Prototyp zu dem belehrenden Umgangston unserer arroganten Gesellschaft.

Diese kritischen Szenen haben mir sehr gefallen, zeugen an Tiefe, aber leider waren sie nur kurz angerissen.

Weiteres Schlagwort: Hakenkreuz
Anne und ich dachten, dass der Krimi uns in die Hitlerzeit führen würde, da wir es auf der Seite 158 durch den alten Gerhard Gläser mit einem Hakenkreuz auf Trixis Heckscheibe zu tun bekamen. Aber auch hier ist nichts weiter an Informationen und an weiteren Taten erfolgt. Das Hakenkreuz entpuppte sich nur als ein Schlagwort, und wir glauben, dass die Autorin ihre Leser*innen mit Absicht ein wenig auf eine falsche Spur navigieren wollte, um die Spannung zu heben. Leider ist dies nur auf einer künstlichen Art erfolgt, die nach unserem Geschmack nicht wirklich gepasst hat, und sich diese ganz schnell wie eine Seifenblase wieder aufgelöst hat.

Welches Menschenbild trägt Ingrid Noll noch zusätzlich in ihre Geschichte?
Vorurteile Türk*innen gegenüber. Erst dachten wir, dass diese in den Köpfen von Henry und Trixi spuken würden, als dann aber auf dem Flohmarkt eine türkische Großfamilie mit ihrem Plunder auftaucht, waren wir nicht mehr sicher, ob das nur die Vorurteile der Protagonist*innen sein sollten. Viele überlesen diese Szenen, unbewusst aber werden diese stereotypen Bilder innerlich nur bestätigt und weiter forciert. Vielen sind diese Vorurteile nicht einmal bewusst, was ich besonders für gefährlich halte.

Mir sind jede Menge türkische Menschen bekannt, die aus Kleinfamilien kommen und nicht jede tummelt sich auf Flohmärkten, nur um billig einzukaufen, und um ihren türkischen Firlefanz loszuwerden. Ich kenne viele mit und ohne Kopftuch, und die meisten mit einem modernen Weltbild behaftet. 

Anne sagt mir, ich würde sehr bewusst lesen, und nun nutze ich diese Bewusstheit, und mache sie hier zum Thema, um auf diese Vorurteile aufmerksam zu machen.

Anne hatte selbst hierbei Orhan Pamuks Buch, Diese Fremdheit in mir, erwähnt. Wer Pamuks Bücher kennt, der weiß, wie sehr der Autor unter den vielen westlichen Vorurteilen leidet.

Hierbei möchte ich den niederländischen Autor Rutger Bregman aus dem Hörbuch Im Grunde gut zitieren, der von einem negativen Welt- und Menschenbild spricht, das uns durch die Medien herangetragen werden. 

Geschichten sind nur selten Geschichten, denn sie wirken nicht selten wie ein Nocebo.

Klischeehafte Zuschreibungen waren aber auch in anderen Facetten zu finden, gehe aber darauf nicht weiter ein.

Ich setze hier allerdings einen Cut. Ich könnte noch mehr schreiben, eine richtige Analyse entwerfen, aber das würde mein Zeitfenster und den Rahmen hier noch weiter sprengen.

Mein Fazit
Ein Krimi, der sich nicht wirklich zu einem Krimi entpuppen konnte. Eine Schuldfrage zum Tatort hat sich nicht mehr gestellt. Ein Gesellschaftsroman? Dafür hat es auch nicht gereicht. Es wurden, wie gesagt, viele gute Themen aufgegriffen, die aber in der Oberflächlichkeit leider untergegangen sind. Anne und ich vermissten beide hierzu den roten Faden.

Aber ich kann versichern, dass es zu dem Buch wunderbare Interpretationen gibt, die mir besser gefallen haben als das Buch selbst. Hierbei ein großes Dankeschön an Conny Ruoff, die allgemein plausibel ihre Eindrücke zu Ingrid Nolls Schreibart geschildert hat, die mich noch lange beschäftigt haben. Diese und unsere nur recht kleine Konversation hierzu sind auf der Facebook - Seite von Diogenes backlistenlesen nachzusehen.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch meine Lesepartnerin Anne, die mir folgendes Zitat per WhatsApp zugeschickt hat:

Echte Spießer sind nach meiner Meinung nur solche Menschen, in deren Köpfen weder Toleranz noch Empathie einen Platz gefunden hat. (7)

Meine Bewertung 

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck, einfach-dennoch gewählt
1 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur vorhanden
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

9 von 12 Punkten

Hier geht es zu Annes Buchbesprechung.

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Gelesene Bücher 2021: 04
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